Boris Kagarlitzky, Russlands bekanntester Kriegsgegner verhaftet

Die russische Justiz schlägt um sich: Nachdem vor Tagen der nationalistische Kriegssbefürworter Igor Girkin, ehemaliger Kommandeur der aufständischen Truppen im Donbass wegen „Extremismus“ vor Gericht gezogen wurde, wurde jetzt der bekannte linke Soziologe Boris Kagarlitsky, erklärter Kriegsgegner unter dem dubiosen Vorwurf der „Rechtfertigung von Terrorismus“ in Untersuchungshaft genommen.

Lesen Sie dazu die bisher bekannten Fakten, zitiert nach der online zeitschrift russland.news und im Anschluß dazu einen Text, den Kagarlitzki im März in der kanadischen Zeitschrift „Canadian Dimensions“ veröffentlich hat.

*** 

Hier zunächst der Text aus russland-news vom 28.07.2023

Boris Kagarlitsky, ein russischer Soziologe und marxistischer Theoretiker, der sich offen gegen Moskaus Invasion in der Ukraine ausgesprochen hat, wurde unter dem Vorwurf der „Rechtfertigung von Terrorismus“ festgenommen, wie sein Anwalt am Mittwoch mitteilte.

Der FSB habe Kagarlitsky in die Stadt Syktywkar in der nordwestrussischen Republik Komi gebracht, wo – 1000 Kilometer von Moskau entfernt – der Fall gegen ihn untersucht werde, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Tass. Kagarlitsky drohen bei einer Verurteilung bis zu sieben Jahre Haft.

Der Anwalt des Soziologen, Sergei Jerochow, sagte gegenüber der Presse, das Strafverfahren gegen seinen Mandanten stehe im Zusammenhang mit einem Beitrag in der Messaging-App Telegram, in dem Kagarlitsky die militärischen Auswirkungen der Explosion auf der Krim-Brücke im Oktober 2022 analysierte und über deren Folgen spekulierte. (Übersetzung siehe weiter unten) Ein Gericht in Syktywkar ordnete eine zweimonatige Untersuchungshaft gegen ihn an, wie die unabhängige Nachrichtenagentur Sota am Mittwoch berichtete.

Kagarlitsky, Professor an Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und Direktor des Instituts für Globalisierung und soziale Bewegungen (IGSO), das 2018 vom russischen Justizministerium als „ausländischer Agent“ eingestuft wurde, hatte sich gegen die russische Invasion der Ukraine im Jahr 2022 ausgesprochen, weigerte sich jedoch im Gegensatz zu vielen anderen Kremlkritikern, das Land zu verlassen. 

Die Nachricht über seine Verhaftung und die Vorwürfe gegen Kagarlitzki verbreitete sich in Russland und über Russlands Grenzen sehr schnell. Aus Deutschland gab es umgehend Solidaritätsbekundungen. So protestierte Kerstin Kaiser, letzte Chefin der Rosa-Luxemburg-Stiftung, per Facebook gegen die Inhaftierung und kündigte eine Unterstützungskampagne und Spendenaktion zugunsten von Kagarlitski an. Die Partei DIE LINKE forderte seine sofortige Freilassung. 

In Russland äußerten sich Vertreter verschiedenster politischer Kräfte fassungslos ­– vom regierungsnahen Politologe Sergej Markow über den Libertären Michail Swetow bis hin zum kremlnahen Telegram-Kanal Nezygar. Noch nie in der Geschichte des neuen Russlands seien fast alle (mit ein paar unangenehmen Ausnahmen) so solidarisch, meint der Philosoph und Publizist Rustem Wachitow im Telegramkanal Rotes Eurasien.

 Hier sein leicht gekürztes Portrait des Inhaftierten:

„Kagarlitsky ist einer der führenden Ideologen der sozialistischen Weltbewegung. Seine Schriften sind in den Vereinigten Staaten, Europa, Lateinamerika und Asien bekannt. In Russland ist er der bedeutendste linke Philosoph, Soziologe und Politikwissenschaftler (und vielleicht auch in Osteuropa). Mit seinen Büchern zufolge haben sich Generationen von Studenten mit dem modernen Marxismus beschäftigt. Kagarlitsky eröffnete uns die Weltsystem-Theorie (deren Autor Immanuel Wallerstein er persönlich kannte), und seine Anwendung auf die russische Geschichte halte ich für konkurrenzlos in diesem Genre.

Boris kam zu wissenschaftlichen Konferenzen in unsere Stadt, und dort lernten wir ihn kennen. Es stellte sich heraus, dass er auch ein sehr interessanter Mensch war – ein erstaunlicher Universalgelehrter, ein Kenner von vielleicht einem Dutzend Sprachen, ein wunderbarer Geschichtenerzähler, ein einfach kluger Mann. Und gleichzeitig ein seltener Typ für unsere Zeit – ein erblicher Intellektueller, sehr zart und weise.

In Russland gibt es nur wenige kritische Persönlichkeiten dieser Art (nicht nur auf dem linken Flügel, sondern generell!). Solche kulturellen Persönlichkeiten sind ein nationaler Schatz ihres Landes, und das muss man verstehen. General de Gaulle hat das verstanden, und deshalb hat er, als die französische Polizei den Philosophen Sartre verhaftete, seine Freilassung gefordert und gesagt „Frankreich sperrt Voltaire nicht ein“ …

Was passiert ist, ist ein enormer Reputationsverlust für Russland, und das genau zu dem Zeitpunkt, an dem es versucht, Linke aus der ganzen Welt auf seine Seite zu ziehen, indem es von Anti-Westlichkeit und Anti-Kolonialismus spricht. Es erübrigt sich hinzuzufügen, dass es die Linke – sowohl in Europa als auch außerhalb – ist, die bis zum Schluss Russlands Freund bleibt, selbst unter den schwierigsten Umständen.

Das ist auch für die innenpolitische Situation schlecht. Wir sprechen davon, dass das Land Wissenschaft, Industrie und Bildung entwickeln muss. Aber wie soll das möglich sein, wenn es Hindernisse für eine rationale Diskussion, für kritisches Denken gibt? Kagarlitsky ist nicht einmal ein Politiker. Er ist nicht der Führer einer politischen Bewegung, nicht der Vorsitzende einer politischen Partei. Er ist in erster Linie ein Wissenschaftler, ein Theoretiker des Sozialismus, ein Schriftsteller, ein Universitätsdozent …

Er ist unser moderner russischer Sartre und unser russischer Marcuse. Sein Platz ist nicht in einer Untersuchungshaftanstalt, sondern in einer Abteilung einer zentralen Universität, in einer Denkfabrik, in einem Forschungsinstitut … Die Gesellschaft braucht solche Menschen, ihren Verstand, ihre Talente! Und ich möchte hoffen, dass am Ende der normale Status quo wiederhergestellt wird.

Ich wünsche Boris Juljewitsch und seinen Angehörigen die Kraft, diese Lebensprüfung zu bestehen!“

Der Soziologe Kagarlitzki war bereits politischer Dissident in der UdSSR wie auch im postsowjetischen Russland. 1982 wurde er wegen oppositioneller Aktivitäten unter Breschnew inhaftiert und später unter Jelzin im Jahr 1993 verhaftet. 1990 bis 1993 war er Mitglied der Sozialistischen Partei Russlands und Abgeordneter des Moskauer Stadtsowjets, später Mitbegründer der Arbeiterpartei und Berater des Vorsitzenden des russischen Gewerkschaftsbundes. 

 Er schreibt regelmäßig auf Telegram, ist Chefredakteur des Online-Journals Rabkor sowie der vierteljährlich in Moskau erscheinenden Zeitschrift Lewaja Politika (Linke Politik).

(Dieser Text wurde mit freundlicher Genehmingung der Redaktion von russland.news übernommen)

***

Zum Verständnis, worum es bei dem Vorgehen gegen Boris Kagarlitzki gehen k ö n n t e,  füge ich hier die Übersetzung des oben erwähnten Beitrages von Kagarlitzki zur Krimbrücke, sowie einen Text, den er im März dieses Jahres in der kanadischen Zeitschrift „Canadian Dimensions“ veröffentlicht hat.

Hier zunächst des incriminierten Telegramm-Beitrags:

Über die Brücke

DIESE NACHRICHT (MATERIAL) WURDE VON EINEM AUSLÄNDISCHEN MASSENMEDIUM IN DER FUNKTION EINES AUSLÄNDISCHEN AGENTEN UND (ODER) EINER RUSSISCHEN JURISTISCHEN PERSON IN DER FUNKTION EINES AUSLÄNDISCHEN AGENTEN ERSTELLT UND (ODER) VERBREITET.

Das russische staatliche Schlagwort ist um einen neuen Begriff reicher geworden. Wir haben bereits „Baumwolle“, „negatives Wachstum“, „Geste des guten Willens“, „Umgruppierung“… Jetzt haben wir „Zwischenfall“. Das ist, wenn eine Explosion ein wichtiges strategisches Objekt zerstört – die teuerste und am besten bewachte Brücke der Welt.

Aus militärischer Sicht ist die Bedeutung dessen, was passiert ist, mehr oder weniger klar. Es wird Versorgungsprobleme geben. Und zwar nicht nur auf der Krim. Irgendjemand wird diese Probleme schon lösen. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass es bis zu einer Lösung neue, noch schwerwiegendere Probleme geben wird.

Neben der militärischen Strategie gibt es aber auch wirtschaftliche und politische Aspekte.

Seit ihrer Einweihung war die Krim-Brücke nicht nur ein strategisches, sondern auch ein symbolisches Objekt, die wichtigste Errungenschaft der Putin-Ära und ein materieller Beweis dafür, dass es in unserem Land selbst vor dem Hintergrund des totalen Diebstahls und der Ineffizienz noch möglich ist, praktische Ergebnisse zu erzielen, wenn man 400-500 Prozent der technologisch notwendigen Mittel investiert.

Jetzt ist die Brücke außer Betrieb, und es wird bereits eine Kommission eingesetzt, die die Ursachen und Folgen des „Zwischenfalls“ untersuchen soll. Ich habe keinen Zweifel daran, dass interessierte Leute gerade jetzt Schätzungen über die für die Restaurierungsarbeiten bereitzustellenden Mittel erstellen, und potenzielle Auftragnehmer bereiten bereits Koffer mit Geld vor, die sie zu den zuständigen Stellen bringen, um einen wertvollen Auftrag zu erhalten.

Die Frage ist nur, ob man nicht das falsche Büro erwischt. Schließlich können sich der Standort dieser Büros und ihre Bewohner in naher Zukunft ändern. Und das nicht nur einmal.

t.me/kagarlitsky/1010

Was an diesem Text terrorverdächtig ist, ist bisher Geheimnis des FSB und der Justiz. Im unten jetzt der Beitrag aus „Canadian Dimension“, der schon eher erklären könnte, worum es gehen könnte.

DieTragödie des Krieges

Boris Kagarlitsky / March 21, 2023 /

Ein altgedienter russischer linker Dissident bietet eine mutige und politisch unverzichtbare Sicht auf den russisch-ukrainischen Krieg.

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine wütet seit mehr als einem Jahr. Die internationale Linke hat diesen Krieg von Anfang an debattiert, ohne dass es ihr gelungen wäre, eine mehr oder weniger kohärente Position dazu zu formulieren. Die moralische Verurteilung des russischen Einmarsches war fast universell, abgesehen von einer kleinen Anzahl stalinistischer Gruppen, die das kapitalistische Russland mit der späten Sowjetunion und Putins Oligarchen mit Antiimperialisten verwechseln. Aber eine moralische Position zu beziehen ist nicht dasselbe wie eine politische Linie zu haben. Und auch wenn die Linke kaum Einfluss auf die Ereignisse vor Ort nehmen kann, müssen wir dennoch eine Position formulieren, um zumindest in nächster Zeit Desorientierung und Verwirrung zu vermeiden.

Natürlich ist mir klar, dass wir uns hier auf sehr wackeliges Terrain begeben. Viele Jahre lang habe ich die westliche Politik gegenüber der Ukraine und die Medienmythen darüber kritisiert. Wir befinden uns jetzt aber in einer völlig neuen Situation, nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Russland, wo das Regime eine katastrophale Entwicklung von einer ehemals gemäßigten autoritären Herrschaft zu einem totalitären Regime durchmacht. Es wäre ein enormer Fehler, die Analyse der ukrainischen Politik mit der Analyse dieses Krieges zu verwechseln. Die ukrainische Sprachgesetzgebung ist beschämend, ihre Politik gegenüber dem Donbas widerspricht jeglichen demokratischen Grundsätzen, und seit dem Ausbruch des Konflikts im Jahr 2014 haben beide Seiten Menschenrechtsverletzungen begangen. Nichts von alledem erklärt oder rechtfertigt jedoch den massiven Einmarsch russischer Streitkräfte in ukrainisches Gebiet. Und die Versuche, die Entscheidung des Kremls mit der imperialistischen Logik der „Verteidigung der russischen Interessensphäre“ zu entschuldigen (typisch für einige Kommentatoren, die vorgeben, objektiv oder neutral zu sein), sind ebenfalls nicht stichhaltig.

Die Ukraine ist jetzt Opfer einer Aggression. Und ganz gleich, was wir von der Kiewer Regierung halten mögen, jeder Versuch, dies zu leugnen, läuft auf nichts anderes als auf eine reine Opferbeschuldigung hinaus. Polen war 1939 auch kein schönes Land, und es diskriminierte tatsächlich seine ethnischen Minderheiten, darunter auch die Deutschen, aber das rechtfertigt oder erklärt nicht einmal den Einmarsch Hitlers. Der Donbas war nur ein Vorwand; die meisten Motive für den Krieg im Jahr 2022 waren rein innenpolitischer Natur. Es war ein Versuch, die erschütterte Unterstützung für das Regime angesichts der zunehmenden sozialen und wirtschaftlichen Krise wiederherzustellen. Die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung in Russland zwang das Regime, in den Jahren 2020 und 2021 zu massivem Wahlbetrug zu greifen und die Repression zu verstärken. Ein antidemokratisches Gesetz nach dem anderen wurde verabschiedet, Tausende von Menschen wurden inhaftiert und viele wurden gezwungen, das Land zu verlassen. Universitäten wurden von liberalen und linken Lehrkräften gesäubert, unabhängige Printmedien wurden geschlossen und es wurde versucht, eine Internetzensur einzuführen. Kritiker des Regimes wurden offiziell als „ausländische Agenten“ bezeichnet und ihrer politischen Rechte beraubt. Dies alles geschah bereits vor Ausbruch des Krieges, der erst im Nachhinein zur Rechtfertigung und Verschärfung dieser Maßnahmen herangezogen wurde.

Die Unterstützung für das Regime erodierte jedoch immer weiter, zum Teil aufgrund seiner eigenen Unfähigkeit, zum Teil aber auch, weil die allgemeine Krise des Neoliberalismus Russland wie auch die meisten anderen Länder weltweit betraf. Die herrschende Elite versuchte verzweifelt, eine magische Lösung zu finden, um die Gesellschaft wieder zu konsolidieren. Gerüchte über gesundheitliche Probleme des alternden Diktators zwangen die Elite außerdem dazu, über ein Übergangsszenario nachzudenken, das eine effektive Kontrolle des politischen Prozesses gewährleisten würde. Ein „kurzer, siegreicher Krieg“[1] schien eine Möglichkeit zu sein, alle Probleme auf einmal zu lösen. Sie verkalkulierten sich. Der Blitzkrieg schlug fehl, und anstelle eines Siegeszuges nach Kiew haben wir einen langwierigen Krieg ohne Aussicht auf Erfolg.

Der Krieg führte zum Ausbruch eines radikalen Nationalismus, der zur einzigen Ideologie der derzeitigen Kreml-Machthaber geworden ist. Putins Gefolge und seine Propaganda bemühen sich nicht einmal, das Ziel zu verbergen, die ukrainische Nation nicht nur politisch, sondern auch physisch zu vernichten. Das ist es, was man täglich im russischen Fernsehen hört; das ist es, was man von offiziellen Politikern und Medienvertretern zu hören bekommt. Und dies ist eine wachsende Bedrohung, nicht so sehr für die Ukraine – die sich mit Hilfe des Westens recht effektiv verteidigt -, sondern für die russische Gesellschaft selbst. Leider ist die Niederlage der russischen Armee jetzt die einzige Lösung für unser Land, das von Dieben und obskurantistischen Reaktionären übernommen wurde, die versuchen, die Bildung zu zerstören und die restlichen Menschenrechte abzuschaffen, einschließlich der grundlegendsten, die sogar unter Stalin aufrechterhalten wurden. Ein Sieg Putins wäre die größte Katastrophe, die Russland in der modernen Geschichte widerfahren könnte. Zu unserem Glück wird seine Armee besiegt werden, und das öffnet die Tür für einen revolutionären Wandel.

Angesichts des Personalmangels an der Front sah sich die Regierung Putin gezwungen, neue Wehrpflichtige in die Armee einzuziehen. Diese Entscheidung rief sowohl passiven als auch aktiven Widerstand hervor. Hunderttausende von jungen Menschen verließen das Land. Diejenigen, die blieben und sich in die Streitkräfte einberufen ließen, gehörten zumeist zu den ärmsten Bevölkerungsschichten aus den am stärksten benachteiligten Gebieten des Landes. Die wachsende Zahl von Opfern führt zu zunehmenden sozialen Spannungen, die bisher unter dem Schleier von Zensur und Repression verborgen blieben.

Der gegenwärtige Konflikt bringt die Linke in den westlichen Ländern in eine sehr schwierige Lage, insbesondere wenn Pazifismus eine zaghafte Unterstützung des Aggressors bedeuten kann und die Unterstützung der NATO auch keine gute Option ist. Dies ist eine wirklich schwierige Frage, sowohl politisch als auch moralisch. Meiner Meinung nach kann und sollte eine Friedenslösung gefordert werden, aber nur unter der Bedingung, dass sich alle Streitkräfte Putins aus den nach dem 24. Februar 2022 besetzten ukrainischen Gebieten zurückziehen. Dies wäre eine so schwerwiegende Niederlage für das Regime, dass sein unausweichlicher Untergang beschleunigt würde. Genau aus diesem Grund können sich die derzeitigen Machthaber im Kreml nicht auf eine Lösung des Status quo ante einigen und versuchen, die Verhandlungen als Instrument zu nutzen, um zumindest einen Teil des besetzten Gebiets zu behalten und so die Anerkennung der Niederlage zu vermeiden.

All dies bedeutet nicht, dass wir aufhören sollten, die ukrainische Regierung und die Heuchelei der westlichen Staats- und Regierungschefs zu kritisieren (die übrigens durchaus bereit waren, die ukrainische Souveränität zu verschenken, wenn die Dinge im letzten Frühjahr nicht so schlecht für Putins Armee gelaufen wären). Ein weiteres Thema ist die Krim. Keine der beiden Seiten denkt auch nur daran, die Einwohner nach ihrer Meinung zu fragen. Ich behaupte nicht, dass die meisten von ihnen glücklich sind, russische Untertanen zu sein, aber sie waren auch unter ukrainischer Herrschaft nicht glücklich. Ähnlich verhält es sich mit den Bewohnern des Donbass. Aber wir hören nicht viel über ihre Rechte und Interessen. Was mich am westlichen liberalen Pazifismus stört, ist, dass seine Befürworter nicht einmal in Betracht ziehen, dass Ukrainer, Russen, Krimbewohner und Donbassbewohner alle ihre eigenen Interessen, Meinungen und Rechte haben. Und hier geht es nicht nur um das Leid der Zivilbevölkerung, das nicht durch einen abstrakten „Krieg“, sondern durch die konkrete Aggression von Putins Truppen verursacht wird, sondern darum, dass es sich um Menschen handelt, deren Interessen anerkannt werden sollten.

Wir stehen vor sehr schwierigen Entscheidungen. Aber wie auch immer wir uns entscheiden, wir sollten nicht vergessen, dass die wirkliche Lösung des Konflikts im Erfolg des demokratischen Wandels sowohl in Russland als auch in der Ukraine liegt.

Boris Kagarlitsky ist Professor an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Er ist Herausgeber der Online-Zeitschrift und des YouTube-Kanals Rabkor. 1982 wurde er wegen regimekritischer Aktivitäten unter Breschnew inhaftiert und später sowohl unter Jelzin 1993 als auch unter Putin 2021 verhaftet. Im Jahr 2023 erklärten die Behörden ihn zum „ausländischen Agenten“, aber er weigerte sich, das Land zu verlassen, im Gegensatz zu vielen anderen Regimekritikern. Zu seinen Büchern in englischer Übersetzung gehören Empire of the Periphery: Russia and the World System (Pluto Press 2007), From Empires to Imperialism: the State and the Rise of Bourgeois Civilisation (Routledge 2014), und Between Class and Discourse: Left Intellectuals in Defence of Capitalism (Routledge, 2020).

[1] Der Satz ist eine Anspielung auf eine Bemerkung, die der russische Innenminister Wjatscheslaw von Plehve 1904 zum Russisch-Japanischen Krieg gemacht haben soll: „Was dieses Land braucht, ist ein kurzer, siegreicher Krieg, um die Flut der Revolution aufzuhalten“.

Kai Ehlers: 25 Jahre Perestroika, zwei Bände – Gespräche mit Boris Kagarlitzki