Die Kraft der Überflüssigen | Erweiterte Neuauflage

Die Kraft der Überflüssigen Book Cover Die Kraft der Überflüssigen
Erweiterte und kommentierte Neuauflage
Kai Ehlers
06.12.2016
311
10,99

Überflüssig? Abgedrängt? Kein Ausweg? Keine Perspektive? Nur noch der große Crash? Nur noch Selektion von Nützlichen und nicht Nützlichen? Oder Revolten?

Schauen wir genau hin: Die „Überflüssigen“ sind nicht das Problem, das entsorgt werden müßte – sie sind die Lösung. Sie sind Ausdruck des über Jahrtausende angesammelten Reichtums der Menschheit – wirtschaftlich, sozial und kulturell. Sie sind Ausdruck der Kräfte, welche die Menschheit heute zur Verfügung hat, um vom physischen Überlebenskampf aller gegen alle in eine ethische Kulturgemeinschaft überzugehen, die am Aufstieg des Menschen zum Menschen orientiert ist und keinen Menschen mehr ausschließt.

Das vorliegende Buch zeigt: Wer die „Überflüssigen“ sind, welche Kräfte in ihrem „Überflüssigsein“ liegen, welchen Widerständen bis hin zu eugenischen Selektionsphantasien der heute Mächtigen ihr Aufbruch ausgesetzt ist, welche Kraft die „Überflüssigen“ bilden, wenn sie sich entschließen, ihr Leben selbst zu organisieren – und schließlich, wie der Weg der Selbstorganisation in einer neuen, sozial orientierten Gesellschaft aussehen könnte.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de
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    Selektion von Nützlichen und nicht Nützlichen? – Revolten oder Alternativen?

    Liebe Leserinnen, lieber Leser,

    „Die Kraft der ‚Überflüssigen’“ – warum dieses Buch? Wie ist dieser Titel zu verstehen? Was kann Kraft mit „Überflüssigen“ zu tun haben? Ist diese Formulierung nicht ein Widerspruch in sich? Ein unsinniges Paradoxon? Und überhaupt, macht es einen Sinn von „Überflüssigen“ zu reden? Wer ist damit gemeint? Wer spricht so?

    Lassen Sie mich zunächst aus eigener Erfahrung antworten.

    Es waren meine eigenen Kinder, die mich mit solchen Fragen bestürmten: Wo ist mein Platz in der Welt, wenn schon alles besetzt ist? Wofür werde ich noch gebraucht, wenn ich doch nichts ausrichten kann? Wer bin ich, wenn jede meiner Initiativen schon zahllose Vorgängerinnen im Internet hat? Ein Klick auf Facebook und es gibt mich in 10.000 Facetten. Wohin kann ich mich mit meinen Sehnsüchten wenden, wenn sich doch alles nur noch um Geld dreht? Wie soll ich in einer Welt leben, in der ich einer von sieben Milliarden Menschen bin, von denen jedes Jahr Millionen verhungern? Was kann ich glauben, wenn im Namen der Menschenrechte gemordet und Kriege geführt, im Namen der Religion Bomben gelegt werden?

    Sinnfragen junger Menschen sind natürlich nicht neu. Jede Generation stellt sie und jede Generation muss ihre eigene Antwort finden. Die Antwort meiner Generation war die Kulturrevolution der 60er und der folgenden Jahre; danach war es der ökologische Umschwung. Heute sehen sich alle Generationen gemeinsam einer aus dem Ruder laufenden globalen Profitkultur gegenüber, die dabei ist, die Bewohnbarkeit des Planeten unwiederbringlich zu zerstören.

    Was zählt der Mensch noch in dieser Welt?

    Vor Jahren schrieb ich meinem heranwachsenden Sohn einen Brief zu diesen Fragen, den ich hier in Auszügen voranstellen möchte:

    „Mein Lieber, Du möchtest schöpferisch in einer Weise tätig sein, die den ganzen Menschen fordert, fördert und erfreut – triffst aber auf eine Situation, in der man Dich zum Erfüllungsgehilfen eines bereits stattfindenden, zunehmend automatisierten Prozesses degradiert, in dem dir nur noch die Funktion zufällt, von der großen Zivilisationsmaschine vorgegebene Muster zu bedienen… Das erscheint natürlich als ein persönliches Problem, muss auch von jedem Einzelnen als persönliches Problem gelöst werden, ist aber selbstverständlich kein persönliches Problem, sondern eben Ausdruck der genannten Tatsache, dass die Maschine den Menschen in wachsendem Maße zum Erfüllungsgehilfen eines allgemeinen organisierten technischen Prozesses macht.

    Also, was tun? Hier ist der erste Reflex, den ich bestens verstehe: Ausbrechen! Der zweite, den ich ebenso verstehe: den ganzen Mist zerschlagen! Der dritte, auch verständlich, aber natürlich tödlich: Resignation. Zynismus, Nihilismus. Ist alles klar! Geht Dir so, geht all denen so, die in diese Erniedrigung gedrückt werden – das ist die Mehrheit. Eine Minderheit paßt sich dem Apparat an – und bedient ihn. Das ist scheinbar ein Privileg, in Wirklichkeit ist auch das ätzend – Streß pur, in dem die Menschen, scheinbar mächtig sind, scheinbar selbstständig, doch sehr schnell verbrannt werden.

    Für Menschen wie Dich, die das Pech oder auch das Glück haben, über den eigenen Bauchnabel hinaus zu schauen/schauen zu müssen, gibt es nur eines: die eigene „Überflüssigkeit“ als Chance, als Aufforderung zur Entwicklung von Perspektiven zu nutzen, die über die bloßen Effektivitätsanforderungen der Gegenwart hinausführen …

    Ich muss hier zurzeit nicht mehr darüber sagen.

    Vielleicht nur noch dies: Mir geht es ja nicht anders – die  aktuelle   Vernutzung des Menschen als Erfüllungsgehilfe der maschinisierten Zivilisation halte auch ich nur aus, indem ich die Perspektive herausarbeite, dass eben diese Zivilisation Kräfte freisetzt, die bisher gebunden waren. In Leben verwandeln kann man diese Kräfte nur, denke ich, wenn man ihren Ursprung aus dem konkreten Prozess der Über-Effektivierung, der Automatisierung etc. pp. erkennt. Das bedeutet einfach: Das Überflüssig-Werden nicht nur als Krankheit der Gesellschaft und als ausweglose eigene Situation zu begreifen, sondern als Freiheitsgewinn, als Aufforderung; die freigesetzten Kräfte anders einzusetzen…“

    Es waren die Gespräche mit meinen Kindern und ihren Freunden, die mich dazu brachten, der Frage der „Überflüssigen“ so nachzugehen, wie Sie es auf den folgenden Seiten lesen können; nicht zuletzt war es auch die Tatsache, dass ausgerechnet meine Tochter, vom Ansatz her eher an künstlerischen Fragen als an Politik interessiert, die Weitergabe traumatisierender Erfahrungen am Beispiel des 2. Weltkrieges und die damit verbundene Auseinandersetzung mit immer noch nicht überwundenen Folgen des Faschismus als Thema für ihre Diplomarbeit wählte. Schließlich waren es aber auch, das muss ich unbedingt hinzufügen, nachdem ich es beinahe selbst übergangen hätte, die vielen Begegnungen mit den Menschen der ehemaligen Sowjetunion, später Russlands und anderer Gebiete des ehemals sozialistischen Raumes, die aus meiner jahrelangen Erforschung der Perestroika und ihrer Folgen hervorgingen.

    In diesen Begegnungen erlebte ich in großem und erschreckendem Maßstab, wie aus sozial abgesicherten Menschen, aus strammen oder auch weniger strammen Sozialisten, aus „Helden der Arbeit“ quasi über Nacht ein ganzes Heer von „Überflüssigen“ hervorging, sozial entwurzelt, ratlos, ihres Glaubens beraubt, Menschen, die verzweifelt nach neuen Wegen suchten und immer noch suchen. In dem von dieser Situation ausgehenden Transformationsdruck liegt ein weiterer Impuls, der mich zu diesem Buch führte.

    Bevor ich Sie aber aus dieser Einleitung entlasse, möchte ich Ihnen noch einen Text mit auf den Weg geben, der mich auf den verschiedenen Etappen, in denen ich den Fragen der „Überflüssigen“ nachging, die ganzen Jahre über begleitet hat. Es handelt sich um die Geschichte, wir könnten auch ruhigen Gewissens sagen, das Gleichnis vom alten Eichbaum, das sich in den philosophischen Erzählungen Chuang Dsi’s, dem Geistesverwandten und Nachfolger des bekannten chinesischen Weisen Laotse, unter dem Thema „In der Menschenwelt“ findet. Die Geschichte steht dort neben weiteren ähnlichen, die sich alle um die Nutzlosigkeit des Nutzens drehen und die alle sehr lesenswert sind.

    Der Zimmermann Stein“, so erzählt Chuang Dsi‘s liebevoll übersetzt von dem Sinologen Richard Wilhelm, „wanderte nach Tsi. Als er nach Kü Yuan kam, sah er einen Eichbaum am Altar, so groß, dass dessen Stamm einen Ochsen verdecken konnte¸ er maß hundert Fuß im Umfang und war fast so hoch wie ein Berg. In einer Höhe von zehn Klafter erst verzweigte er sich in etwa zehn Äste, deren jeder ausgehöhlt ein Boot gegeben hätte. Er galt als eine Sehenswürdigkeit in der ganzen Gegend. Der Meister Zimmermann sah sich nicht nach ihm um, sondern ging seines Weges weiter, ohne innezuhalten. Sein Geselle aber sah sich satt an ihm; dann lief er zu Meister Stein und sprach: ‚Seit ich die Axt in die Hand genommen, um Euch nachzufolgen, Meister, habe ich noch nie ein so schönes Holz erblickt. Ihr aber fandet es nicht der Mühe wert, es anzusehen, sondern gingt einfach weiter, ohne innezuhalten: weshalb?’

    Jener sprach: ‚Genug! Rede nicht davon! Es ist ein unnützer Baum. Wolltest du ein Schiff daraus machen, es würde untergehen; wolltest du einen Sarg daraus machen, er würde bald verfaulen; wolltest du Geräte daraus machen, sie würden bald zerbrechen; wolltest du Türen daraus machen, sie würden schwitzen; wolltest du Pfeiler daraus machen, sie würden wurmstichig werden. Aus dem Baum lässt sich nichts machen, man kann ihn zu nichts gebrauchen. Darum hat er es auf ein so hohes Alter bringen können.’

    Der Zimmermann Stein kehrte ein. Da erschien ihm der Eichbaum am Erdaltar im Traum und sprach: ‚Mit was für Bäumen möchtest du mich denn vergleichen? Willst du mich vergleichen mit euren Kulturbäumen wie Weißdorn, Birnen, Orangen, Apfelsinen, und was sonst noch Obst und Beeren trägt? Sie bringen kaum ihre Früchte zur Reife, so misshandelt und schändet man sie. Die Äste werden abgebrochen, die Zweige werden geschlitzt. So bringen sie durch ihre Gaben ihr eigenes Leben in Gefahr und vollenden nicht ihrer Jahre Zahl, sondern gehen auf halbem Wege zugrunde, indem sie sich selbst von der Welt solche schlechte Behandlung zuziehen. So geht es überall zu. Darum habe ich mir schon lange Mühe gegeben, ganz nutzlos zu werden. Sterblicher! Und nun habe ich es so weit gebracht, dass  mir das vom größten Nutzen ist. Nimm an, ich wäre zu irgendetwas nütze, hätte ich dann wohl diese Größe erreicht? Und außerdem, du und ich, wir sind beide gleichermaßen Geschöpfe. Wie sollte ein Geschöpf dazu kommen, das andere von oben her beurteilen zu wollen! Du, ein sterblicher, unnützer Mensch, was weißt denn du von unnützen Bäumen!’

    Meister Stein wachte auf und suchte seinen Traum zu deuten.

    Der Geselle sprach: ‚Wenn doch seine Absicht war, nutzlos zu sein, wie kam er dann dazu, als Baum beim Erdaltar zu dienen?’

    Jener sprach: ‚Halte den Mund, rede kein Wort mehr darüber! Er wuchs absichtlich da, weil sonst die, die ihn nicht kannten, ihn misshandelt hätten. Wäre er nicht Baum am Erdaltar, so wäre er wohl in Gefahr gekommen, abgehauen zu werden. Außerdem ist das, wozu er dient, von dem Nutzen all der anderen Bäume verschieden, sodass es ganz verkehrt ist, auf ihn die (gewöhnlichen) Maßstäbe anwenden zu wollen.’“

    Ein paar Sätze weiter beschließt Chuang Dsi sein Kapitel über die Menschenwelt mit den Worten: „Jedermann weiß, wie nützlich es ist, nützlich zu sein, und niemand weiß, wie nützlich es ist, nutzlos zu sein.“

    Wenn wir nun noch einmal fragen, was dies alles mit der „Kraft der „Überflüssigen“ zu tun hat, dann heißt es: Überflüssiger als der hier geschilderte Baum kann wohl kaum etwas sein. Der Baum hat alles, was ein Baum braucht und mehr: einen mächtigen Stamm, eine Höhe wie ein Berg, Äste vom Volumen eines Bootes, lauter Superlative und ist doch zu nichts nutze – aber eben darum ist er wichtig und eben darum kann er am Erdaltar dienen.

    So auch die „Überflüssigen“ – eben darum, weil sie in einer Welt des Überflusses „überflüssig“ sind, werden sie eine Kraft. Man muss es nur verstehen. Dieses einfache Paradoxon, das unsere Welt gegenwärtig erlebt, möchte ich jetzt genauer beleuchten.

    Zu diesem Zweck lade ich Sie ein, mit mir zusammen nach der labyrinthischen Methode, das heißt, Umlauf für Umlauf in einer allmählich enger werdenden Pendelbewegung, von der Bestandsaufnahme des Überflusses über die Grenzen und absehbaren Gefahren, durch die heute schon stattfindenden Transformationsprozesse zu möglichen Alternativen und schließlich zu den eigentlichen Kraftquellen vorzudringen.

    Ich wünsche Ihnen eine angenehme und ertragreiche Lektüre, Kai Ehlers

    Vorwort:
    Warum dieses Buch? 11

    Teil I – Wer darf leben? 16

    Überfluss: 17
    Sieben, acht, neun Milliarden 25
    Kräfte der Zukunft 26
    Wer sind die „Überflüssigen“? 30
    Die jungen Empörten 32
    Die aktiven Alten 35
    Kranke, Behinderte, Hypersensibilisierte 37
    „Spinner“, Spieler, Forscher und Künstler 41
    Proletariat, Prekariat, Drohnen 47
    Exkurs – Unbekannte Antipoden: Marx und Steiner 49
    Ethnologische Korrekturen 53

    Grenzen – neue Zäune: 58
    Nach wie vor Raubbau 59
    Fesselung der Initiative 60
    Die Alten: ausgedient und abgedrängt 62
    Krankheit als Risiko 63
    Virtuelle Selbstverlorenheit 65
    Präventionswahn 67
    Die Geburt von „Transferbabies“ begrenzen? 73
    „Bruch mit der Mangelpflege“ und 79
    Zukunft durch „Anthropotechniken“?
    DOK – Definition von Eugenik 84
    Ein Blick auf die biomächtige Gesellschaft 87
    Zwei notwenige Ergänzungen – 93
    nicht-faschistische Eugenik und Grenzen des Genom-Wahns
    Blick in den Abgrund 100 8

    Transformationen – Angebote an die verlorene Seele: 104
    Globale Perestroika
    Russland 107
    Fragen über Fragen 112
    Islam: „Prinzip des mittleren Weges“ 120
    Islam Banking 125
    Der große Zeigefinger 128
    Das chinesische Prinzip 131
    Kontrollierte Experimente statt „Schocktherapie“ 134
    „Den Bauch füllen und die Knochen stärken“ 138
    Zukunft ohne Hölle? 142
    Die Vielen und die Wenigen 144
    Stärke aus Schwäche 147
    Afrikas Immunschwäche 149
    Der vieldimensionale Tisch 154

    Teil II – Am Horizont die neue Allmende 156

    Eine Hymne anstimmen: 157
    Ein Signal aus Oslo 161
    DOK – „Kollektive Bedarfsgemeinschaft“ 165
    „Tragödie der Allmende“ 166
    „Trittbrettfahrer“ 170
    Soziales Kapital 171
    Stichwort Arbeit – Stichwort Versorgung 177
    Stichwort Versorgung 182
    Arbeit & Versorgung neu verknüpfen 186
    Eine mögliche Struktur 188
    Der Praxis auf der Spur 192
    Und endlich der Rest der Hymne… 200
    Von der Produktionsgesellschaft zur Bedarfsgesellschaft –
    Der Staat 203
    Aufbruch in die Empathie? 208 9

    Teil III – Der Weg 121

    Das radikale Ich: 214
    Stirner und Steiner
    Ort der Umstülpung 218

    Das solidarische Du: 224
    Instinkt und Moral 226
    Mensch, Natur, Technik 230

    Wir und die Heimat: 237
    Im Gespräch 238
    Die Kunst der Pause 244
    Ausflug ins metamorphe Feld 246
    Terra Nova – eine Pause für die Erde 249

    Ausgang 258

    Alles hat seine Zeit 259

    Anhang

    Die Krise nutzen: 270
    Ausbruch oder Aufbruch aus der Wachstumsbrache?
    Vom ökonomischen zum sozialen und kulturellen Wachstum.
    Welches sind die Entwicklungskräfte heute?
    Annäherung an einen Kulturraum der Entschleunigung
    DOK – Manifest der Empörten 285
    DOK – Bestuschew-Lada: Die Welt im Jahr 2000 287

    Verwendete Literatur
    – Bücher 291
    – Borschüren, Aufsätze 303
    – Kai Ehlers, Über den Autor, Eigene Bücher 305 10

    Teil I  – Wer darf leben?

    Überfluss

    Beginnen wir also mit dem offensichtlichsten Widerspruch unserer Zeit, den wir heute beobachten können: Er zeigt sich darin, dass in einer Welt des Überflusses und der zunehmenden globalen Entgrenzung immer mehr Menschen als überflüssig bezeichnet werden oder sich selber so fühlen und immer höhere Zäune gezogen werden.

    Unworte wie „Reichen-Ghetto“ oder wie „menschlicher Müll“ bezeichnen heute Realitäten, wenn die Reichen und Superreichen sich hinter immer höheren Mauern verschanzen, während die Ärmsten der Armen auf den Abfallbergen der Welt vegetieren. Von einer 20:80-Gesellschaft ist die Rede, also von einer Gesellschaft, in der 80% der Menschheit zu den „Überflüssigen“ zu zählen sei; geredet wird auch von einem Ansturm der „Überflüssigen“ auf die „Zivilisation“, die verteidigt, von einem „schrumpfenden Europa“, das geschützt werden müsse. Unausgesprochen, aber unüberhörbar wird die Frage gestellt: Wer darf leben? Und wie? Eine Wiedergeburt eugenischen Denkens im Gewand einer präventiven Sicherung der Zukunft erscheint da am Horizont.

    Aber erschrecken Sie nicht angesichts dieser kategorischen Feststellungen. Niemand muss diese Tatsachen für unabwendbar halten. Kein Mensch, einmal geboren, ist von Natur aus überflüssig, das sei hier vorausgeschickt, so wenig wie unser Globus, das Sonnensystem oder das Universum überflüssig sind. Jeder Mensch, der geboren wird, das durfte ich von einer russischen „Nanja“, Kinderfrau lernen, der ich einst mit ihren Schützlingen in der Transsibirischen Eisenbahn begegnete, bringt etwas Neues in die Welt, nicht anders als jeder Stern. Diese Botschaft gibt sie ihren Kindern mit, wenn diese ihre ersten Fragen nach dem Sinn des Daseins stellen. Damit können die Kleinen leben, denke ich.

    Auch ist das Wort „überflüssig“ von seinem Wesen her keineswegs ein Schimpfwort. Unsere Sprache erzählt da ihre eigene Geschichte: „Überfluss“ habe ursprünglich „große Fülle“, „Reichlichkeit“, das davon abgeleitete Wort „überflüssig“ habe „strömen“ und „überquellen“ bedeutet. Das lässt sich in jedem etymologischen Lexikon nachlesen. Erst im 16. Jahrhundert verengte die Bedeutung des Wortes „überflüssig“ sich auf  „überreichlich“, im 18. Jahrhundert auf „nutzlos“ oder auch „zwecklos“.

    Beides, ‚vor Fülle überströmen’ wie auch ‚nutzlos sein’ im Sinne von ‚zwecklos’ könnte also gemeint sein, wenn von „Überflüssigen“ die Rede ist.

    Doch Perspektiven wie die oben genannten provozieren die Frage: Wollen wir wirklich so leben? Soll es wirklich so weitergehen? Es ist ja nicht das erste Mal, dass Zäune gebaut und Menschen, seien es Einzelne, Gruppen, Stände, Klassen oder ganze Völker ausgegrenzt und gar vernichtet werden. Es ist auch nicht das erste Mal, dass die Ausgegrenzten um Teilhabe kämpfen. Es ist aber das erste Mal, dass solche Kämpfe den ganzen Globus erfassen, dass schon die bloße Zahl der „Überflüssigen“ den Abbau der Zäune, vielleicht sogar deren gewaltsames Niederreißen erwarten lässt. Darin liegt Chance und Bedrohung zugleich.

    Es war Jean Jaques Rousseau, der die Abfolge von immer wiederkehrender Ausgrenzung und deren Überwindung durch „Überzählige“ am Vorabend der französischen Revolution zum ersten Mal aus einem  unhinterfragten Naturkreislauf heraushob und als gesellschaftliche Tatsache aussprach. In seinem Bemühen, seinen Zeitgenossen einen Weg aus der Ungleichheit zu zeigen, formulierte er im Jahre 1755, wenige Jahre vor dem Ausbruch der französischen Revolution, in seinem programmatisch nach diesem Ziel benannten „Diskurs über die Ungleichheit“ die seither immer wieder zitierte Passage:

    „Der Erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend  und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemanden.’“

    Auf knapp hundert Seiten beschrieb Rousseau sodann, wie die Ungleichheit unter den Menschen durch schrittweise Zerstörung des Naturzustandes entstanden sei, welche die „Überzähligen“, dazu gezwungen habe „ihren Lebensunterhalt aus der Hand der Reichen entweder zu empfangen oder zu rauben und wie daraus, je nach den verschiedenen Charakteren der einen und der anderen, die Herrschaft und die Knechtschaft oder die Gewalt und die Räubereien entstehen.“ Und weiter dann: „Dies war, oder muss der Ursprung der Gesellschaft und der Gesetze gewesen sein, die dem Schwachen  neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte gaben. die natürliche Freiheit unwiederbringlich zerstörten, das Gesetz des Eigentums  und der Ungleichheit  für immer fixierten, aus einer geschickten Usurpation  ein unwiderrufliches Recht machten  und um des Profites einiger Ehrgeiziger willen fortan das ganze Menschengeschlecht der Arbeit, der Knechtschaft und dem Elend unterwarfen.“

    Die Französische Revolution fegte die so beschriebene Ungleichheit für ein paar Jahre hinweg, nicht allerdings, ohne zugleich neue Zäune zu errichten. Die Guillotine wütete nicht nur gegen den Adel, mit ihr entledigte sich die neue bürgerliche Herrschaft zugleich der  proletarischen Elemente der Revolution, die weitergehende Vorstellungen zu Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit hatten als allein die Freiheit des Geldes herzustellen.

    Was sich durchsetzte, war ein auf Profitstreben ausgerichtetes Bürgertum, das aufgebrochen war, die Welt zu erobern. Renaissance, Reformation, religiöse Impulse wie die Prädestinationslehre der Calvinisten, wie die Leistungsaskese englischer Reformierter, wie die nach Amerika ausgewanderten „Pilgrim-Fathers“ und andere ganz der Diesseitigkeit verpflichtete Gottsucher hatten die Wurzeln für eine Kapitalisierung der Welt gelegt, die scharf zwischen erfolgreichen,  also gottgefälligen und nicht erfolgreichen Menschen zweiter Klasse, jenen, die Rousseau die  „Überzähligen“ genannt hatte, unterschied.

    Seit den Tagen der französischen Revolution hat die Auseinandersetzung um die „Überzähligen“ und die „Zäune“ ihre Geschichte. Als überflüssig bezeichnete der britische Ökonom Thomas Robert Malthus noch während der französischen Revolution die von der einsetzenden Industrialisierung in England hervorgebrachten Armen. In einem 1798, also ein Jahr vor dem Ende der Revolution, veröffentlichen „Essay on the principle of population“ definierte er die Frage einer möglichen Überbevölkerung als ökonomisches Problem. Er behauptete, mit mathematischer Präzision belegen zu können, dass sich in einer industriellen Gesellschaft wie der damals in England entstehenden Menschen mit unausweichlicher Naturnotwendigkeit schneller vermehrten als Lebensmittel – wenn nicht Krankheiten, Elend und Tod immer wieder für ein Gleichgewicht sorgten.

    Berüchtigt wurde Malthus` Verdikt: Ein Mensch,  der in einer schon „occupirten Welt“ geboren werde und dessen Familie nicht die Mittel habe, ihn zu ernähren oder dessen Arbeit von der Gesellschaft nicht benötigt werde, habe „nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedeck für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen.“

    Karl Marx war es, der diesen Thesen fast hundert Jahre später, 1887, mit seiner Analyse des Kapitals entgegentrat. Statt die „Paupers“ zu einer die Existenz Englands bedrohenden Überbevölkerung hochzurechnen, wie Malthus es getan habe, statt also von „absolutem Überwuchs“ zu reden, so Marx, müsse vielmehr von einer „relativen Überzähligmachung“ gesprochen werden, mit der sich das Kapital eine „industrielle Reservearmee“ halte.

    Damit war der Grunddissens benannt, in dem sich die Beurteilung des Phänomens der „Überflüssigen“ weiter entwickelte: Hier eine angebliche natürliche, geradezu biologische Unvermeidlichkeit, dort eine von der kapitalistischen Wirtschaftsweise, also von Menschen hervorgebrachte Erscheinung, die folgerichtig auch von Menschen zu korrigieren ist.

    Marx hat, um das noch klarer zu sagen, die Entstehung der „Reservearmee“ als unvermeidlichen, wenn auch in seinen sozialen Folgen zu kritisierenden Fortschritt beschrieben; erst im Übergang zur proletarischen Revolution könne dieses Problem bewältigt werden. Für Paul Lafargue, den Schwiegersohn von Karl Marx, war dieser „Fortschritt“ Anlaß, sein berühmtes Pamphlet zum „Lob der Faulheit“ zu verfassen, in welchem er rät, die durch Maschinen eingesparte Arbeitskraft für Erholung, Bildung und Kultur einzusetzen, statt sie für die weitere Steigerung der Produktion überflüssiger Produkte zu verbrauchen.

    Ähnlich argumentierten andere Vertreter emanzipatorischer Grundideen, die mit dem Proletariat verbunden waren, bis hin zu Rudolf Steiner. Sie alle gingen dabei davon aus, dass die „Überflüssigen“ keine natürliche Erscheinung, sondern Resultat gesellschaftlicher Verhältnisse, konkret, sozialer Ungerechtigkeit seien.

    Aus der Malthusschen Argumentation entwickelte sich dagegen eine geistige Bewegung, die über die Rassismuspropaganda des 18. Jahrhunderts – Arthur de Gobineau und andere – direkt in die Eugenik des 19. und 20. Jahrhunderts führte und – traurig zu sagen – aller historischen Erfahrungen zum Trotz bis in die heutige Genetik führt

    Für überflüssig hielten schließlich selbst die proletarischen, nicht anders als die pseudo-proletarischen, nationalen Revolutionäre bis hin zu den Nationalsozialisten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, darin Friedrich Nietzsche variierend, das Bürgertum, verdammt dazu, einem „neuen Menschen“  zu weichen, sei es als technokratische, sei es als ideologische Schöpfung; Faschismus und Sozialismus gaben ihm die jeweilige Form: Der wirkliche Mensch degenerierte zum „Volksgenossen“ oder zum „Schräubchen“.

    Diese hier skizzierte Entwicklung wird im Verlauf des Buches genauer beleuchtet werden.

    Was könnte also gemeint sein, wenn heute von „Überflüssigen“ gesprochen wird? Und worin könnte ihre Kraft bestehen?

    Nun, es heißt zunächst, wenn wir die engste Bedeutung anschauen, mit der das Wort heute gebraucht wird, dass immer weniger Menschen im profitorientierten Produktionsprozess benötigt werden, weil immer mehr, immer kompliziertere, immer intelligentere und immer effektiver arbeitende Maschinen den Einsatz physischer menschlicher Arbeitskraft, tendenziell sogar geistiger in zunehmendem Maße überflüssig machen.

    Immer mehr Arbeitsprozesse werden roboterisiert; Menschen werden, um dies in einem Bild zu verdeutlichen, „unten“ aus ihren Subsistenzen heraus in die industriellen Lohnarbeitsprozesse hineingezogen, dort als Arbeitskraft verwertet, um dann „oben“ in beschleunigtem Maße als nicht mehr benötigt wieder ausgestoßen zu werden.
    (siehe dazu die nebenstehende Skizze)

    Unten ihrer lokalen, ihrer traditionellen Möglichkeiten der Selbstversorgung beraubt, oben als Erwerbslose ohne Einkommen und Lohn ins Nichts entlassen, werden sie unten wie oben an den Rand der menschlichen Gemeinschaft gedrängt, die Gelderwerb durch Lohnarbeit zum Gradmesser des Menschseins erhoben hat. Gleichzeitig werden die, die noch in Lohnarbeit stehen, immer intensiveren Anforderungen unterworfen, die sie hinnehmen müssen, wenn sie nicht ebenfalls zu den Entlassenen gehören wollen.

    Schema des globalen Verwertungswolfes:

    An der Basis der beiden Füße befinden sich Subsistenz/Eigenversorgung/lokale Wirtschaft; in der Mitte, wo beide Schenkel des X zusammenkommen dreht sich die Produktionsspirale; nach oben hinaus über die beiden auseinandergehenden Schenkel werden links und rechts die Entlassenen ausgespuckt. Es entsteht der Eindruck eines stehenden Fleischwolfes, der von der Basis Menschen rundherum aufsaugt, sie in der Mitte auspresst, und oben leer wieder ausscheidet. Dabei stellt die Mitte den aktiven Tel der Gesellschaft dar, unten und oben befinden sich die Felder, auf denen die „Überflüssigen“ als Rückstand zurückbleiben – unten mit zerstörter Subsistenz, oben als Lohnarbeitslose, (oder auch beides zugleich).

    Im Gefolge des technologischen Fortschritts entsteht so eine doppelte Entwürdigung des Menschen, der in die vollkommene Abhängigkeit verfällt – der eine durch Ausgrenzung vom gemeinsamen Wohlstand, der andere in die intensivierte Produktion eingeschlossen, durch die er als Inhaber  einer Erwerbsarbeitsstelle zwar über finanzielle Mittel verfügt, selten aber noch über die Kraft und die Fähigkeit, sich ausreichend um sich selbst als Mensch zu kümmern. Diese Entwicklung zieht sich heute durch alle Gesellschaften, gleich, aus welcher Geschichte sie kommen; besonders krass tritt sie in Ländern hervor, die sich auf dem Weg der nachholenden Industrialisierung befinden. Dort werden Millionen von Menschen aus ihren traditionellen Versorgungsverhältnissen gerissen, wie seinerzeit bei Beginn der Industrialisierung in England und dann im übrigen Europa, ohne einen neuen Platz finden zu können, von dem aus sie sich und ihre Familien menschenwürdig versorgen könnten.

    Merke gut: Dies alles geschieht heute, obwohl der industrielle Entwicklungsprozess, evolutionär betrachtet, eine zunehmende Befreiung des Menschen von der Notwendigkeit beinhaltet, sein Überleben durch Einsatz seiner physischen Arbeitskraft zu sichern. „Eigentlich“ liegt in dieser zunehmenden Freisetzung „überflüssiger“ Kräfte bei steigender Produktivität heute die Chance für die unterschiedlichen Gesellschaften, ja, für die Menschheit insgesamt, sich mehr als bisher anderen Aufgaben als denen des bloßen physischen Überlebens zuzuwenden. Das wären gute Voraussetzungen für die Entwicklung eines Zuwachses an Freiheitsgraden und Menschenwürde, wenn Freiheit und Menschenwürde an der Fähigkeit des Menschen gemessen würde, sich als Mensch verwirklichen zu können und Formen des Miteinander Lebens zu entwickeln, die den Engpass der gegenwärtigen Produktions- und Lebensverhältnisse hinter sich ließen – und wenn die Verhältnisse, unter denen die „Überflüssigen“ heute freigesetzt werden, als das erkannt würden, was sie sind, als Überfluss nämlich, und wenn dieser Überfluss genutzt würde, die „Überflüssigen“ zu Eigeninitiativen zu ermutigen, statt sie als  „Arbeitslose“, genauer als Erwerbslose, die nicht einmal mehr ihre ihnen im Kapitalismus zugedachte Mindestrolle als Konsument ausfüllen können,  unter Kontrolle zu halten.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    Erweiterte und korrigierte Neuauflage im September 2016

    Herausgegeben bei:
    Verein zur Förderung der deutsch-russischen Medienarbeit e.V.
    Fössestr. 77, 30451 Hannover
    Gestaltung: Michaela Jordan
    Zeichnungen auf den Seiten 247-250 von Herman Prigann. COURTESY Erbengemeinschaft Herman,
    Copyright VBK Wien 2013.
    Umschlagbild: Kai Ehlers
    Zeichnungen: Kai Ehlers

    Anmerkung:
    Die 2013 beim Verlag Pahl-Rugenstein erschienene Ausgabe des Buches (unter der ISBN 978-3-89144-463-4) wird durch diese eigene Neuausgabe komplett ersetzt.

    Die neue ISBN lautet: 9783741298066