Über China läst sich sehr viel Unterschiedliches zusammentragen. Als Kern schält sich aber sehr schnell die bange Frage heraus, was da auf uns zukommt. Mit ‚uns‘ ist dabei jede/r einzelne und die Menschheit insgesamt angesprochen. Geht das amerikanische Zeitalter seinem Ende entgegen und wie ginge das vor sich? Mit allmählichem Wechsel oder mit nochmaligem Aufbäumen der bisherigen „einzigen Weltmacht“? Mit stiller Expansion Chinas oder ausuferndem Kontrollanspruch von chinesischer Seite? Und welche Rolle spielt Russland in diesem Geschehen? Und schließlich Europa? Wird der europäische Entwicklungsweg in Richtung auf die Selbstbestimmung des Einzelnen durch die heutigen Umgruppierungen in Frage gestellt?
Einfache Antworten auf diese Fragen könnten sich aufdrängen, wenn man den politischen Verlautbarungen glaubt: Hier Joe Biden, der als neuer Präsident die Rückkehr zu einem „Amerika der Stärke“ gegenüber China und Russland ankündigt. Dort Xi Jinping, der den „Traum vom Sozialismus chinesischer Prägung“ weltweit verwirklichen möchte. Demokratie hier? Diktatur dort? Konfrontation? Und Russland sowie Europa irgendwie dazwischen?
Die kommenden Monate und Jahre werden zeigen, wohin die Neuausrichtung der Politik treibt. Aber die Fragen sind nicht nur an die Politik zu richten. Was mit China heraufkommt, ist nicht nur ein ökonomischer, nicht nur ein politischer Konkurrent in einer sich machtpolitisch neu gruppierenden Weltordnung. Es ist das Wetterleuchten einer noch nicht klar erkennbaren, aber neuen Kultur des Sozialen, die sich am Horizont ankündigt. Und dieses Wetterleuchten ist nicht auf China begrenzt. Als „great reset“ erfasst es den ganzen Globus.
Was sich da gegenwärtig als Kontrollstaat chinesischer Prägung zeigt, ist zweifellos erschreckend und für den europäischen Geist inakzeptabel. Aber es reicht nicht, mit dem Finger auf ein autoritäres China zu zeigen. Wir müssen verstehen: der Kontrollstaat chinesischer Prägung ist Ergebnis der Vermischung traditioneller chinesischer und europäischer, letzteres heißt, liberaler, marxistischer und auch autoritärer Kultur.
Und wie wir für die europäische Kultur zwischen aufklärerischen, liberalen und autoritären Elementen differenzieren müssen, die in das eingegangen sind, was wir heute „Demokratie“ nennen, so muss auch für die gegenwärtige Kultur Chinas differenziert werden, was in sie eingegangen ist, um angstfrei und mit Antworten für die Zukunft mit der Frage umgehen zu können, was mit dem wachsenden China auf uns zukommt.
Ein krasses aktuelles Zeugnis für die gemischte Kultur des heutigen China bieten die Ausführungen Xi Jinpings, nachzulesen in dem von der Partei herausgegebenen Buch „China regieren“, das seine Reden aus den Jahren 2012 bis 2014 enthält. Wir greifen aus der Fülle der Reden zu allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens eine heraus, die Xi Jinping anlässlich des „12. Kollektiven Lernens des Politbüros des XVIII. ZK der KP-Chinas“ am 30. Dezember 2013 unter der Überschrift „Erhöhung der kulturellen Softpower“ gehalten hat.
Wenige Zitate sollen reichen, um deutlich zu machen, in welchen Widersprüchen sich die chinesische Führung zwischen ‚Parteisprech’, Tradition und Realität bewegt.
Die Rede beginnt mit dem Satz:
„Die Verwirklichung der Ziele ‚Zweimal hundert Jahre‘ und des chinesischen Traums von der großen nationalen Renaissance hängt entscheidend von der Erhöhung der kulturellen Soft Power des Landes ab. Es gilt, die fortgeschrittene sozialistische Kultur voll zur Entfaltung zu bringen, die Reform des Kultursystems zu vertiefen, die Entwicklung und Prosperität der sozialistischen Kultur zu fördern und die Vitalität des kulturellen Schaffens der ganzen Nation zu stärken. (…)“
Es folgen dann Vorstellungen, wie das geschehen soll. Einiges sei hier zitiert:
„Es gilt, die traditionellen Tugenden, von unseren Vorfahren kultiviert und entwickelt, weiter zu pflegen und zu entfalten und an der Moralanschauung des Marxismus und Sozialismus festzuhalten. Man muss die Spreu vom Weizen trennen, Falsches ausmerzen und Richtiges bewahren. Auf dieser Basis wollen wir darauf beharren, Altes für die Gegenwart nutzbar zu machen und das neue aus dem Alten entstehen zu lassen. (…)
Es gilt, all dies verstärkt zusammenzufassen und zu interpretieren, Plattformen für die Berichterstattung fürs Ausland zu erweitern und die Grundlage dafür zu festigen, damit sich die Wertvorstellungen vom gegenwärtigen China wie ein roter Faden durch den internationalen Austausch und die internationale Kommunikation hindurchzieht. (…)
In dem mehr als 5000-jährigen Entwicklungsprozess unserer Zivilisation hat die chinesische Nation eine umfassende tiefschürfende und glänzende Kultur geschaffen. Es gilt die grundlegendsten kulturellen Gene der chinesischen Nation der gegenwärtigen Kultur und der modernen Gesellschaft anzupassen und zu verbreiten auf eine Art und Weise, welche die Menschen gut anspricht und zum Mitmachen einlädt. (…)
Hierzu sollten wir die Ressourcen unserer traditionellen Kultur systematisch sichten, um die Kulturgegenstände in der verbotenen Stadt, das Erbe unseres ausgedehnten Territoriums und die in alten Büchern enthaltenen Schriften wieder mit Leben zu erfüllen. (…)
Es ist wichtig, das Image unseres Landes zu modellieren. Gezeichnet werden soll vor allem ein Bild eines großen Kulturlandes mit langer Geschichte; eines einheitlichen Vielvölkerstaates, in dem verschiedene Kulturen harmonisch zusammenleben; einer großen Macht in Asien mit gerechter Politik, relativ entwickelter Wirtschaft, gedeihender Kultur, stabiler Gesellschaft, einer in Eintracht lebenden Bevölkerung und schönen Landschaften; eines großen verantwortungsbewussten Landes, das auf friedliche Entwicklung setzt, die gemeinsame Entwicklung fördert, die internationale Gerechtigkeit und Fairness wahrt und Beiträge zur Menschheit leistet; und nicht zuletzt das Bild eines großen sozialistischen Landes voller Sympathie, Hoffnungen und Vitalität, das sich zunehmend nach außen öffnet. (…)
Zudem gilt es, noch mehr positiv über die hervorragende Kultur und ruhmvolle Geschichte der chinesischen Bevölkerung und Nation zu berichten. Durch Schul- und Hochschulbildung, theoretische Forschung , historische Studien, Filme und Fernsehprogramme, sowie literarische Werke, soll die chinesische Bevölkerung im Geiste des Patriotismus, Kollektivismus und Sozialismus erzogen werden, damit sie sich eine richtige Anschauung von Geschichte, Nation, Staat und Kultur zu eigen macht und ihre geistige Haltung und ihr Selbstvertrauen stärkt.“ Ende des Textes
Klar, dass diese Sätze sofort den heftigsten Widerspruch unter den Mitgliedern des „Forums integrierte Gesellschaft“ provozierten: Parteiphrasen! DDR! Ulbricht! Honecker! Stalin! Mao-Bibel! Wo bleibt hier das Vorgehen der Partei gegen die Uiguren, gegen Tibet, gegen Falun Gong, wo die Niederschlagung der Demokratiebewegung Honkongs, die digitale Überwachung durch den Kontrollstaat u.a.m.
Klar aber auch, dass der Rückgriff auf die traditionellen kulturellen Werte Chinas durch die heutige chinesische Führung Ausdruck einer widersprüchlichen, differenzierten Entwicklung im Lande ist, in der sich traditionelle, maoistischer und heutige individualisierende Elemente einer sich rasant entwickelnden kapitalisierenden Gesellschaft einschließlich ihrer digitalisierten Konzentration zu dem verbinden, was in der offiziellen Sprache „Sozialismus mit chinesischem Gesicht“ heißt. Niemand kann aber von dieser Verbindung bisher sagen, wohin sie sich entwickelt und welcher Geist aus ihr hervorgeht.
Klar ist nur, um dies noch als letzte Klarheit hinzuzufügen, dass die Entwicklung der chinesischen Gesellschaft, die sich nach ihrer Erniedrigung durch die europäischen Kolonisten im 18. und 19. Jahrhundert jetzt auf ihre historische Größe besinnt, eine Kraft darstellt, deren Impulse die Welt, nicht zuletzt auch das Verhältnis des einzelnen Menschen zur Gemeinschaft, entscheidend verändern werden. Und dies nicht nur in China.
Da macht es Sinn sich den Geist genauer anzuschauen, aus dem sich dieser Impuls speist,
Dies wollen wir in einer weiteren Runde versuchen genauer zu ergründen, indem wir uns anschauen, was gemeint ist, wenn der Geist der traditionellen Werte beschworen wird.
Thema für das nächste Mal also: Chinas historische Impulse
Deadline für die Vorbereitung ist der 21.02.2021
Vorausgesetzt, es macht uns niemand einen Strich durch die Rechnung.
Erkundigt Euch also bitte elektronisch oder telefonisch, ob und wie wir den Termin halten können. Anfragen ggfls. auch über die Adresse www.kai-ehlers.de
Seid herzlich gegrüßt,
Kai Ehlers, Christoph Sträßner
Zum Thema sind folgende Texte und Videos hilfreich/interessant:
Sun Tsu: Am besten siegt, wer nicht kämpft, Marixverlag, Wiesbaden 2005
Laudse: Daudedsching (Lao-Tse: Tao-te-king). München [dtv] 4.A. 1991 (Lizenz von Reclam Leipzig 1978). Übersetzt von Ernst Schwarz.
Konfuzius: Gespräche des Meisters Kung (Lun Yü). München [dtv] 1991. Übersetzt von Ernst Schwarz.
I Ging – Text und Materialien [Das Buch der Wandlungen]. [Eugen Diederichs Verlag] 1977. Übersetzt von Richard Wilhelm.
Das alchemistische Buch von innerem Wesen und Lebensenergie (Xingming guizhi). München [Eugen Diederichs Verlag] 1999. Übersetzt von Martina Darga.
Das Weisheitsbuch der alten Chinesen: Frühling und Herbst des Lü Bu We (Lü Schi Tschun Tsiu). Köln [Anacona] 2006. Übersetzt von Richard Wilhelm.
Bei allen Titeln gilt natürlich, dass es sie auch in anderen Ausgaben von anderen Übersetzern gibt. Von Richard Wilhelm ist zum Beispiel Vieles antiquarisch in Diederichs Gelber Reihe zu finden. Außerdem können sich die Schreibungen der Namen und Titel (wie oben am Beispiel von Laudse sichtbar) unterscheiden.