Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums,
Unsere Suche nach einem Ausweg aus der Krise des Nationalstaates hat uns in den letzten Gesprächsrunden des Forums über mehrere miteinander verbundene Stationen geführt. Eine ging konsequent aus der vorigen hervor. Am Anfang stand die Frage nach der Notwendigkeit und den Möglichkeiten der Entflechtung des einheitlichen Nationalstaats. Damit rückte die Frage in den Vordergrund, wie aktuell die auf Rudolf Steiner zurückgehenden Ideen einer Dreigliederung des sozialen Organismus heute sind. Es folgten die Fragen nach einem Kapital ohne Kapitalismus, einem Staat als Rechtsgemeinschaft, nach der subsidiären Basis von Demokratie und schließlich nach einem freien Geistesleben, mit dem all diese Entwicklungen überhaupt erst möglich werden. [1]
Aber wie, so erhob sich die nächste Frage, kommen wir zu einem freien Geistesleben? Damit waren wir bei der Frage der Bildung angelangt – und dies gleich in ihrer aktuellsten Problemstellung, der heute stattfindenden Digitalisierung unseres Lebens.
Das zurückliegende Treffen, von dem hier berichtet wird, hatten wir deshalb unter die Frage gestellt:
Bildung – durch Digitalisierung erstickt oder gefördert?
Wie beginnen? Was ist Bildung? Was ist Digitalisierung? Als könnte es nicht anders sein, begann dieses Gespräch mit einer Bestandsaufnahme dessen, was Bildung n i c h t ist und was geschieht, wenn das digitalisiert wird, was Bildung nicht ist, nämlich: Information, pures Wissen.
„Wir leben in einer Welt der Informationsüberflutung, in der die Grenze zwischen Wahrheit und ‚alternativen‘ Fakten, Halbwahrheiten und halbseidenen Theorien mehr und mehr verschwimmt und deren Unterscheidung zunehmend schwieriger fällt. Mehr noch, Falschaussagen werden gerade über Social Media gezielt platziert und eingesetzt, um Menschen zu beeinflussen“, heißt es dazu – ausgerechnet auf der Plattform von Amazon, aber dennoch zutreffend – in der Werbung für ein Buch das kürzlich unter dem Titel „Kritisch denken im Zeitalter der Lügen“ erschienen ist. Autor, für die, die es sich erwerben wollen, Daniel J. Levitkin, ein Kindl Buch.
Wenn Bildung mehr ist als Information und Wissen, mehr als Konditionierung für eine effektive Kapitalverwertung, was ist sie dann? Eine erste Annäherung brachte uns das von einer Teilnehmerin des Kreises eingebrachte Stichwort, eines „immanenten Beziehungswissens“. Es sei immanent im Sinne von „unbewusst“, im Sinne von „sich sozial verhalten können“, selbst eigene Perspektiven entwickeln können, kurz, eine Person unter Personen, Mensch unter Menschen zu sein und sich im sozialen Raum verantwortlich bewegen zu können. Technische Hilfsmittel könnten zweifellos Aktionsräume erweitern oder auch eingrenzen, aber die Fähigkeit zum Verhalten in der Welt nicht ersetzen.
Damit war immerhin schon einmal ein Ansatz für das weitere Gespräch gesetzt, durch den, zwar psychologisch und sozialarbeiterisch verklausuliert, das gute alte Humboldt’sche Bildungsideal einer ganzheitlichen Ausbildung in Kunst und Wissenschaft doch wenigstens noch hindurchschimmerte. Ziel dieser Vorstellungen ist die Entwicklung des autonomen Individuums und mündigen Weltbürgers. Mit dieser Erinnerung vor Augen wandten wir uns dem digitalen Bildungsgeschehen zu. Kann es, ja soll es überhaupt diesem Ziel dienen?
Nun ist diese Frage so umfassend und war das Gespräch dazu so vielschichtig, dass eine Nachzeichnung des Gesprächsverlaufes sich verbietet. Nur einige Grundaspekte, die das Gespräch durchzogen und über die weiter nachzudenken fruchtbar sein könnte, seien hier in gebotener Kürze skizziert:
Das ist als Erstes der Komplex des Druckes, der durch die zunehmende Geschwindigkeit der technischen Innovationen auf die Lehrenden, wie auch auf die Lernenden in Schulen und Ausbildungsstätten ausgeübt wird, die diese Technik benutzen sollen.
Das ist die Notwendigkeit, für „alle Fälle“ immer einen „Plan B“ und ein Duplikat des gespeicherten Lehr-, Studien- und Archivmaterials bereitzuhalten zu müssen, was einer Doppelbelastung der Lehrenden wie auch der Lernenden bedeutet und insgesamt die Archivmenge, die auf der Erde lastet, vervielfacht, statt zu einer Befreiung von überflüssigen Speichern zu führen.
Das ist die Leere, die sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen einstellt, wenn die Kommunikation digital bei gleichzeitiger Disziplinierung durch die einzuhaltenden technischen Vorgaben erfolgt.
Das ist die krankmachende Sucht des Informiert-Sein-Müssens, des Beteiligt-Sein-Müssens an allem und jedem, was jetzt und hier gerade geschieht, ohne über diesen bloßen Konsum einer virtuellen Realität hinaus durch eigenes Denken in die wesentlichen Fragen des Lebens, sozialer und allgemeiner Weltzusammenhänge tiefer und langfristiger einzudringen.
Am Ende dieser Reihe steht die Deformation der lebendigen Beziehung von Vielfalt und Einheit, von Individualität und Gemeinschaft zu einem technisch diktierten Dualismus von Atomisierung und Konformität, ja, kollektivistischer Konditionierung, zu einem Dualismus also, dessen auseinanderstrebende Seiten nicht mehr durch direkten menschlichen Austausch vermittelt werden.
Wollen wir, können wir so leben? Ganz sicher nicht. Am Ende dieses Weges stünde die Unterordnung des Menschen unter die von ihm geschaffene Maschine und damit sein Ende als beseeltes Wesen.
Damit erhebt sich die Frage: Ist diese Zukunft unausweichlich oder gibt es Wege, die kollektiven Kräfte der Menschheit mittels Digitalisierung in einer solchen Weise zu optimieren, dass sie hilft die Entwicklung neuer individueller Fähigkeiten freizusetzen und zu fördern?
Mit dieser Frage betraten wir einen Raum, der bisher nahezu unerforscht ist und in dem man sich leicht verirren kann. Es ist der Raum der geistigen Durchdringung der Maschine. Damit ist nicht etwa gemeint, die Maschine bis zur Seelenreife entwickeln zu wollen, wie manche durchgeknallten Informatiker aus der Riege der Transhumanisten sich das heute vorstellen. Es ginge vielmehr darum, zu verstehen, dass die Maschine Geist von unserem Geist ist und in welchem Maße sie das ist – der Umgang mit ihr also nur aus Selbsterkenntnis, Selbstschulung- und Selbstdisziplin des Menschen heraus möglich ist. Das Wesen der Maschine zu begreifen, heißt das, setzt voraus uns selbst zu begreifen. Die Maschine zu steuern, setzt voraus, dass wir in die Lage kommen uns selbst zu steuern. Die Maschine zu disziplinieren, heißt uns selbst zu disziplinieren, anders gesagt unser Menschentum bewusst zu bilden. Wenn wir diesen Schritt nicht schaffen, wird uns die Maschine überrollen. Das gilt im Kleinen für den Umgang mit dem Handy, ebenso wie für den Einsatz von digitalen Mitteln in den verschiedensten Ausbildungsbereichen bis hin zur Industrie und Waffentechnik. Die sogenannte Künstliche Intelligenz ist uns nur dann überlegen, wenn wir unseren eigenen Lebenssinn nicht verstehen und uns selbst nicht disziplinieren können. Wir können der Maschine nur Grenzen setzen, wenn wir uns selbst Grenzen setzen.
Mit diesem Ausblick auf das unbeackerte Feld der Beziehung zwischen der von uns geschaffenen Maschine und uns muss der Bericht für heute enden.
Wir werden dieses Gespräch beim nächsten Mal fortsetzen, wenn alle sich zu dieser Frage schlau gemacht haben, sei es bei Marx, Steiner oder dem Shooting Star der Big-Data-Debatte Yval Noa Harrari.
Das Thema für das nächste Mal:
Big Data – Geist von unserem Geist
Das Treffen ist für den 01.09. um 15.00 angesetzt, am gleichen Ort wie üblich.
Bitte bringt eine Kleinigkeit zum Knabbern mit und meldet Euch an, wenn möglich. Freunde und Freundinnen, interessierte Gäste, streitbare Geister sind willkommen.
Anmeldungen ggfls. über die Adresse www.kai-ehlers.de
Seid herzlich gegrüßt,
Kai Ehlers, Christoph Sträßner
P.S.
Es gilt, was immer gilt: Wer keine Berichte vom „Forum integrierte Gesellschaft“ mehr bekommen möchte – kurze Rückmeldung genügt.
[1] Diesen Weg könnt ihr angenehm dicht in dem Themenheft verfolgen, dass wir unter dem Titel: „Forum integrierte Gesellschaft, ausgewählte Berichte aus 2018/19: Krise des Nationalstaats“ zusammengestellt haben. Zu beziehen über www.kai-ehlers.de für 5 € digital oder für 7 € als gedrucktes Heft per Post.