Forum 103: Unruhig bleiben, ja, aber wie?

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

Das zurückliegende Forum war der Frage gewidmet, welche geistigen Bewegungen hinter dem Krieg in der Ukraine sichtbar werden, anders gesagt, inwiefern das wuchtige Wort vom „Zeitenwechsel“ tatsächlich zutrifft, wenn man es nicht nur auf immer neue Waffenlieferungen für die Ukraine bezieht.

Zweifellos geht es in diesem Krieg um globale Machtverschiebungen. Über die ökonomischen und machtpolitischen Interessen hinaus werden allerdings kulturelle Dynamiken der gegenwärtigen Weltentwicklung sichtbar, die hinter diesem Konflikt aufeinanderprallen. Salopp gesprochen, die amerikanisierte westliche Kultur des „Cancel culture“ und eines „queeren“ Modernismus provoziert eine Rückwendung Russlands und seiner Unterstützer in traditionalistische Orthodoxie; hinter den so auseinandertreibenden Polen erneuert sich die chinesisch-asiatische Tradition unter dem Führungsanspruch Xi Jinpings. Dies alles wird überschattet vom Gespenst eines digitalisierten Transhumanismus.

Vor diesem Hintergrund kann der Konflikt um die Ukraine über den Krieg hinaus als Menetekel einer weltumfassenden Sinnkrise begriffen werden, die in Polarisierungen treibt. Wo finden wir in dieser Melange Ansatzpunkte für eine menschengerechte Zukunft? Oder wird die Zukunft der Menschheit im schwarzen Loch dieser Sinnkrise verschwinden?

Mit dieser Frage wandten wir uns im zurückliegenden Forum der von der gegenwärtigen westlichen Kulturkritik als „Impulsgeberin“ gefeierten amerikanischen Biologin, Ökofeministin, Kulturologin Donna J. Haraway, Professorin an der Universität Califoniens in Santa Cruz zu. Sie verkörpert in ihren Veröffentlichungen den Anspruch, einen Weg aus dem Elend des patriarchalen Postkapitalismus zu weisen, einen Aufbruch, der in ein neues Zeitalter der kooperativen Gemeinschaft aller Kreatur, einschließlich der Maschinenwesen führe und so die Erde vor Zerstörung retten könne.  

Zu reden ist aktuell von ihrem 2018 in deutscher Übersetzung im Wissenschaftsverlag Campus erschienenen Buch, „Unruhig bleiben – die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän“, in dem sie in einer Verbindung von „science fiction“ und „science facts“ „Geschichten von Geschichten“ vorstellt, wie die heutige Menschheitskrise überwunden werden könne.

Chthuluzän, erklärt die Autorin den Namen, den sie für die kommende Epoche vorschlage, die alle bisherigen Epochen hinter sich lassen werde, „ist ein einfaches Wort. Es verbindet zwei griechische Wurzeln (khthon und kainos) miteinander, die zusammen eine Art Zeitort benennen; einen Ort des Lernens, um die Idee eines responsablen gemeinsamen Lebens und Sterbens auf einer beschädigten Erde nicht aufzugeben.“

Kategorisch fordert die Professorin mit Hinweis auf die heutige Krise: „Wir müssen denken!“ ‚Denken‘, darunter versteht sie, bewusst und aktiv unter dem Wegweiser „Macht Euch verwandt, nicht Babies“ Wege zu suchen, wie die zerstörerische menschliche „Exzeptionalität“, die zur Überbevölkerung der Erde durch Menschen und zur existenziellen Bedrohung der Arten auf und in der Erde geführt habe, in einer neuen Hinwendung zu aller Kreatur zu überwinden sei. Dabei reicht ihre Definition von „Natur“ von der Amöbe und dem kleinsten Wurm bis zum Menschen auf der einen Seite und vom Menschen bis zu den vom Menschen hervorgebrachten Maschinenwesen, den Cyborgs auf der anderen. (In dem aktuellen Buch laufen die Cyborgs nur am Rande mit; zu ihnen hat die Autorin aber schon früher ausführliche Texte veröffentlicht.)

Es gehe darum, so Prof. Haraway alle diese verschiedenen Kreaturen, einschließlich der Menschen, also alle „Kritter“, wie sie alles Lebende einschließlich der Cyborgs mit einem Sammelnamen benennt, aktiv in symbiotischen Prozessen miteinander zu verbinden, um alte Lebenskomplexe zu bewahren, wieder zu beleben oder neue zu schaffen. Für diesen Prozess wählt sie das Bild traditioneller indigener „Fadenspiele“, das sind zwischen den Fingern beider Hände geknüpfte variabel verknotete Netze, die aus einem einzigen Faden bestehen. Nach dem Muster der „Fadenspiele“, erklärt sie, könnten die unterschiedlichsten „Kritter“, einschließlich des Menschen, in einem bio-sozialen Prozess kreativ und interaktiv miteinander an einem langen Faden in wechselnden Knoten zu neuen oder zur Wiederbelebung alter, gefährdeter Entitäten verbunden werden.

Die „Geschichten“, die sie hierzu beispielhaft vorträgt, beeindrucken durch ihre wissenschaftliche, kenntnisreiche Dichte und Aktualität, soweit es biologische Fakten und auch damit verbundene soziale Verbindungen zwischen Menschen und Tieren betrifft. So ihre Schilderung von Mensch-Taubengemeinschaften im Laufe der Geschichte und heute, deren Rolle im bio-sozialen Geschehen, deren Gefährdung und deren Rettung auf Basis symbiotischer Gegenseitigkeit. So ihre Behandlung der Korallenfelder, deren gegenwärtige Gefährdung durch Verschmutzung der Meere und mögliche Rettungsperspektiven durch gezielte Stärkung der in und mit den Korallen in Symbiose lebenden Arten, einschließlich der Menschen sie eindrücklich darstellt. So weitere „Geschichten“, die sie spannend und lehrreich erzählt.

Soweit, so gut. Das wäre traditionelle Ökologie auf dem Höhepunkt heutiger biologischer Forschung, flott erzählt, die alle Sympathie einer nach praktischen und phantasievollen Alternativen lechzenden Gesellschaft auf sich ziehen könnte, auch wenn die stillschweigende Einbeziehung des Cyborgs in die Reihe der „Kritter“ schon stutzig machen sollte.

Diesem Auftakt folgt dann jedoch ein Absturz aus der Höhe radikaler zeitgemäßer Ökologie, die nach einer bewussten Hinwendung des Menschen zur Natur verlangen müsste, zurück in plattesten Biologismus. Gegen Ende des Buches, in dem Kapitel, in dem es um zukünftige Perspektiven geht, verwandelt sich die Aufforderung „Macht Euch verwandt, nicht Babies“ von einer Aufforderung  zum „Denken“, zur Hinwendung und zur sozialen Symbiose mit der Tier- und Umwelt schließlich in ein aktives biologisches Eintauchen der Menschen als „Kritter“ unter „Krittern“  in den „Humus“, in den „Kompost“ des Lebens, der, wie hier noch einmal hervorzuheben, vom kleinsten Wurm über den Menschen, bis zu den von Menschen hervorgebrachten Cyborgs gebildet werde.

Geschehen soll das Eintauchen durch genetische Anverwandlung von tierischem Erbgut an den Menschen, vorzugsweise solcher Tierarten, die vom Aussterben bedroht sind. Daraus sollen die unterschiedlichsten Symbionten durch freie Wahl von Elterngruppen hervorgehen. Der so beschriebene Prozess der Zeugung und der genetischen Anverwandlung soll nicht mehr in traditionellen Paarbeziehungen, zumindest der Begegnung von Mann und Frau, sondern in außergeschlechtlichen „queeren“ Beziehungen mehrerer beteiligter Personen in  Dreiergruppen erfolgen. In dieser Gesellschaft wird zur nicht geschlechtlichen Benennung von Personen folgerichtig nicht als „er“ oder „sie“, sondern als „per“ gesprochen. Die Entscheidung, welche Eigenschaften einem zu erwartenden Nachwuchs genetisch hinzugefügt werden, soll der „gebärende Teil“ der Gruppe „frei“ bestimmen.

Die Details dieser Art symbiogenetischer Gesellschaft sollen hier nicht weiter beschrieben werden. Ein Zitat aus dem letzten Kapitel mit der Überschrift „Die Kinder der Kompostisten“, in dem an Ende des Buches die Erfolge der symbiontischen Verschmelzung nach mehreren Generationen bilanziert werden, mag genügen, die anvisierte Zukunft deutlich zu machen:  

Camille 5

Geboren 2340: Menschliche Weltbevölkerung 4 Milliarden

Gestorben 2425: Menschliche Weltbevölkerung: 3 Milliarden.

Eine Milliarde Mensch-Kritter-Symbionten leben 2425 auf der Erde.

Zwei Milliarden Menschen sind 2425 Non-Sym.

Über 50 Prozent aller Kritter-Spezies, die des 2015 gab, sind  2425 verschwunden.

Viele Millionen Arten vom Krittern sind Syms mit Menschen.

Die tierischen Partner werden nicht mit menschlichen Genen verändert.

Die menschlichen Syms nehmen immer mehr Eigenschaften ihrer tierischen Partner an.

Viele Menschen sind Syms mit ausgestorbenen Partnern.

 

Liebe Freunde, liebe Freundinnen,

wir müssen nicht betonen, dass wir diese Vision, wie flott sie auch in der Verbindung von „science fiction“ und „science facts“ daherkommt, nicht für geeignet halten, die Sinnkrise, in der die Welt sich heute befindet, zu überwinden. Die Freiheit mit einem Tier durch genetische Manipulation im vorgeburtlichen „verwandt“ gemacht zu werden, hat weder für den Menschen noch für Tiere etwas mit „artgerechtem“ Leben oder Freiheit zu tun. Das ist klar.

Aber wie mit solchen Vorstellungen wie denen Haraways umgehen? Ihre „Geschichten“ einfach als „Spiel“ beiseiteschieben? Dagegen spricht, dass ihre „Geschichten“ schon Teile der heutigen Wirklichkeit beschreiben. Biogenetische Transplantationen sind schon kein Tabu mehr. „Queere“ Transgenderpropaganda durchdringt die Gesellschaften, wenn auch in widersprüchlicher Weise und in unterschiedlichem Tempo. Transhumanistische „intelligente“ Technik drängt den Menschen zunehmend beiseite. Die Melange von „science fiktion“ und „science facts“ elektrisiert die kulturell interessierten Teile der Gesellschaft und bindet in sie in wachsendem Maße.

Sollen wir uns also auf die Seite derer schlagen, die den Panzer orthodoxer Ethik gegen solche Positionen anlegen? Dagegen spricht, dass solche Polarisierungen nicht zur Klärung, nicht zu mehr Bewusstsein, sondern ihrerseits in die dumpfe Konfrontation führen. Die Frage ist also schließlich: Haben wir eine Alternative, die über diese Polaritäten hinausführt? Und wer sind dann ‚wir‘?

Diese Frage soll nächstes Mal anhand des Buches „Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können“ (Verlag Westend) von Ulrike Guerot von einer anderen Seite her angeschaut werden.

Wir treffen uns am 11.06.2023 wie üblich um 14,00 Uhr am gleichen Ort

und auch dieses Mal bei Kleinigkeiten zum Knabbern….

 

Seid herzlich gegrüßt,

Kai Ehlers, Christoph Straessner

 

P.S.

Ich möchte Euch aufmerksam machen auf einen in meiner Website angezeigten Vortrag zum Thema Ukraine, den ich vor kurzem in Wuppertal gehalten habe, Kai Ehlers: 

https://kai-ehlers.de/2023/05/der-ukraine-konflikt-als-wegbereiter-in-eine-soziale-zukunft/