Neu: Dikoe Pole, Wildes Feld – aus dem Russischen. Ethischer Aufschrei aus den Sprachenkriegen am Ende der UdSSR am Beispiel Moldawiens

Geleitwort des  Herausgebers

Geschichte wiederholt sich nicht. Und wenn sie sich doch wiederholt, dann nur als Farce, wie wir heute zu sagen gewohnt sind. Manches Mal offenbaren sich die Ereignisse von gestern allerdings auch als die embryonale Form nachfolgender Kataklysmen. 

So ist es mit dem moldauischen Sprachenkrieg, über den der Moskauer Schriftsteller und Poet, Jefim Berschin, der als Korrespondent der „Literaturnaja Gazeta“ direkt in die Geschehnisse hineingezogen wurde,  in  seiner dokumentarischen Erzählung Zeugnis ablegt.

Mit Gewalt versuchte eine moldauisch sprechende Mehrheit, der nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion soeben in die Unabhängigkeit  taumelnden sozialistischen Sowjetrepublik Moldau, im Sommer 1992 der Bevölkerung des seit Jahrhunderten vielsprachigen Moldauer Raumes im Namen einer nationalen Einigung die moldauische Sprache als einzige aufzuzwingen.

Der Versuch führte zu einem eruptiven Gemetzel, kurz, aber extrem brutal und blutig, das mehr als 1500 Menschen das Leben kostete. Eine Einigung wurde nicht gefunden. Die jenseits des Dnjestr lebenden Teile der Bevölkerung Transnistriens, die die gewaltsame Verengung ihrer Vielvölkerkultur auf das Moldauische nicht akzeptieren wollten, erklärten sich zur unabhängigen Republik. Völkerrechtlich wurde sie bis heute von niemandem anerkannt. Die unentschiedene Beziehung zwischen Moldau und der Dnjester-Republik schwelt, um es paradox zu formulieren, heute als einer der „eingefrorenen Konflikte“ im Spannungsfeld zwischen Russland und dem Westen. Russland, unterhält dort eine Friedenstruppe von ca. 1000 Mann.

Was damals in einer kurzen Eruption geschah, wiederholt sich mehr als 20 Jahre später in einem um Vieles erweiterten Maßstab im ukrainischen Krieg, in dem wieder versucht wird in diesem extrem pluralistischen Raum des süd-östlichen Europa, zudem in unmittelbarer Nachbarschaft zum moldauischen Schauplatz von 1992 eine nationale Einheit, diesmal die ukrainische mit Gewalt gegen sprachliche und kulturelle Minderheiten zu erzwingen.  Mindestens 10.000 Menschen fanden bei diesem gnadenlosen Schlachten bisher den Tod, nicht gerechnet die ungezählten die Opfer von Unterernährung, von Krankheit und die mehr als eine Million Flüchtlinge, die Zerstörung der Potenzen eines von Natur aus reichen Landes, die die Bevölkerung ins Elend gestürzt hat.  

Der ukrainische Krieg erscheint wie ein in überdimensionales aufgeblasenes Déjà vue des Moldauer Sprachenkrieges. Hieß es 1992 ‚Moldawisch für ein einheitliches Moldawien‘, heißt es fünfundzwanzig Jahre danach ‚Ukrainisch für eine einheitliche Ukraine‘. Im Namen europäischer Werte, die für sich den Anspruch erheben eine totalitäre Vergangenheit durch Solidarität, Menschenrechte, Selbstbestimmung und Toleranz anders Denkenden und anders Lebenden gegenüber zu überwinden, tobt sich ein bestialischer, menschenverachtender nationalistischer Terror aus. 

Und so wenig der Konflikt im moldawischen Raum beigelegt, eben nur “eingefroren“ ist, so wenig ist es bisher auch der in der Ukraine zurzeit tobende, auch wenn gegenwärtig wenig geschossen wird. 

Mehr noch, im Juni 2015 trat der Ukrainische Präsident Poroschenko in Absprache mit den Präsidenten Rumäniens, Klaus Johannis sowie dem  Moldaus, Nikolae Timofti zusammen mit dem kurz davor zum Gouverneur von Odessa im Süd-Osten der Ukraine ernannten ehemaligen Georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili mit der Ankündigung in die Öffentlichkeit,  den „eingefrorenen Konflikt“ zwischen Transnistrien, wie sie die  Dnjesterrepublik nennen, und der Moldauischen Republik „auftauen“ zu wollen, damit, wie sie erklärten, ein unabhängiges Moldawien seine territoriale Integrität  und nationale Einheit wieder erlangen könne. Die  Ankündigung dieser Absicht wurde bis heute nicht zurückgenommen.                   

Man vergegenwärtige sich die Lage der Dnjesterrepublik als schmalen Landstreifen am östlichen Ufer des Dnjestr, eingeklemmt zwischen der südlichen Ukraine und der auf Revision dringenden Republik Moldau, unterstützt durch rumänische Expansionsgelüste und man ersetze in Ergänzung zu den genannten moldauischen Konfliktparteien die Dnjesterrepublik durch die Republiken Donezk und Lugansk in der Ost-Ukraine sowie Moldau durch die Kiewer Ukraine, dann hat man das mögliche Szenario eines solchen „Auftauens“ klar vor Augen – die Gefahr einer Wiederentfachung der 1992 am Dnjestr und soeben im ukrainischen Raum vorläufig eingedämmten nationalistischen Exzesse zu einem den gesamten Raum erfassenden Flächenbrand.

Es ist klar, dass eine solche Entwicklung Russland als unmittelbaren Nachbarn auf den Plan rufen müsste. Eine geopolitische Konfrontation, die neben dem transnistrischen und dem ukrainischen auch andere „eingefrorene Konflikte“ des Raumes wie Berg Karabach, Abchasien oder Ossetien mitreißt, ist in dieser Konstellation angelegt – und sie kann jederzeit durch neue Provokationen aktiviert werden, wenn es den hinter dem Vorstoß vom Juni 2015 stehenden strategischen Kräften nützlich erscheint. Der „eingefrorene“ Konflikt am Djnestr eignet sich vorzüglich zum Zündeln. 

Vor diesem Hintergrund gewinnt die dokumentarische Erzählung Jefim Berschins, die sich nicht auf die Schilderung des Krieges beschränkt, sondern die historisch gewachsene Gemengelage des Durchgangsraumes  nördlich des Schwarzen Meeres – Bessarabien, Novorossija, kaukasische Sowjetunion – insgesamt sichtbar macht, beißende politische Aktualität. Hier gilt wieder einmal: der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch. 

Noch nicht benannt ist dabei das Entsetzen, das der Bericht angesichts einer Gesellschaft vermittelt, die von einem Tag auf den nächsten von einer gewachsenen Sprachen- und Kulturgemeinschaft unterschiedlicher Völker in eine Masse hemmungsloser Folterer, Vergewaltiger und Mörder auseinanderbricht. Diesen Kulturbruch im Detail zu beschreiben und Fragen dazu zu stellen, wollen wir nunmehr dem Autor überlassen.

Nur eins vielleicht noch: Selbst der wütendste nationalistische Terror, von wem auch immer benutzt, kann die Tatsache nicht verdecken, das heute unter den Bedingungen der Globalisierung immer mehr Menschen und Völker nach Selbstbestimmung und Autonomie, gebunden an Toleranz verlangen. Dieses Verlangen wächst nicht zuletzt gerade aus dem Entsetzen über die Abgründe, die sich auftun, wo diese Werte fehlen oder ihre Verwirklichung niedergeschlagen werden soll. Eine globale Katharsis kündigt sich an, die den Menschen über den Wahn des Nationalismus hinausführt. Jefim Berschins Bericht ist ein Zeugnis dieser möglichen Katharsis.

Kai Ehlers                                                                                 15.05.2016

Bestellungen über: Kai Ehlers