Rassistische Massenkrawalle in Moskau. Pogromartige Übergriffe auf Ausländer durch einen rechtsradikalen Mob. Polizei geht massiv gegen Ausländer vor. Die Bevölkerung billigt mehrheitlich das Vorgehen der Polizei. Umfragen zufolge stehen 56% der Bevölkerung hinter Parolen wie „Russland den Russen“, 83% befürworten eine Deportation illegaler Einwanderer, 61% eine Begrenzung der Immigration; 67% stimmen der Meinung zu, Immigranten nähmen den Russen die Arbeit weg. Wladimir Putin kündigte unmittelbar nach den Vorfällen schärferes Vorgehen gegen Gesetzesbrecher an, wenn sie die Sitten des Landes nicht akzeptierten. Das sind einige der Meldungen, die die deutsche Leserschaft nach den jüngsten Zusammenstößen zwischen in Moskau lebenden Ausländern und russischen Rechtsradikalen erreichten. Das alles klingt wieder einmal wüst und autoritär. Es ist zudem ja auch nicht der erste Vorfall dieser Art. Chauvinismus gehört in Rußland inzwischen zum Alltag. Ist das Land auf dem Weg in eine nationalistische, gar faschistische Diktatur?
Wer genauer hinschaut, sieht, daß aktuell nicht nur ca. 3000 AusländerInnen vorübergehend festgenommen, sondern, und zwar zeitlich davor, auch über dreihundert Rechtsradikale verhaftet wurden. Was wird da signalisiert? Ruhe und Ordnung sei wiederhergestellt worden, verkündet die Polizei. Die Moskauer Behörden, letztlich Putin, hätten zeigen wollen, daß man die Probleme im Griff habe, wenigstens, in den Griff nehmen wolle, schreibt die russische Presse. In der Tat, hier geht es um Gleichgewichtsübungen.
Wer verstehen will, was sich abspielt, muß jedoch weit hinter die Kulissen der letzten Vorfälle schauen. Da ist zunächst dies: Rußland ist heute, wie die Mehrheit der alten Industrieländer mit dem konfrontiert, was im Fachjargon der internationalen Demographie „disproportionale Bevölkerungsentwicklung“ genannt wird: Schrumpfung im Norden, überproportionale Zuwachsraten im Süden des Globus. Die Geburtenrate der russischen Bevölkerung liegt mit 1,2 (statistischen) Kindern pro Frau dabei am untersten Level. Dabei muß angemerkt werden, daß dieser statistische Durchschnittswert sich in Rußland noch einmal aufgliedert in die geburtenschwachen slwawisch-stämmigen und die nicht-slawischen Völker des Landes – vornehmlich die ca. 25 Millionen Muslime. Deren Geburtenrate übersteigt die der slawisch-stämmigen Bevölkerung in der Regel um mehrere Kinder.
Ohne Zuwanderung von Menschen aus dem Ausland wird Rußland – nicht anders als etwa Deutschland – seinen Bevölkerungsstand ungeachtet dieser inneren Disproportionen nicht halten können. Nach Angaben der Migrationsbehörden der UN steht Rußland heute mit 11 Millionen Zuwanderern an zweiter Stelle nach den USA noch vor Deutschland mit 9,8 Millionen. Damit ist das Hauptproblem benannt, mit dem russische Innenpolitik sich heute konfrontiert sieht. Mit dieser Situation stünde Rußland in einer Reihe mit den Ländern Europas oder auch den USA und die Regierungen dieser Länder könnten dazu übergehen, ihre Erfahrungen in der Abwehr illegaler Einwanderer zu „vereinheitlichen“, also auch für Rußland Mechanismen der Selektion „qualifizierter“ Zuwanderer aus dem Heer der„unqualifizierten“ zu entwickeln und gegen den Andrang unerwünschter Millionen Zäune hoch zu ziehen wie in Mexiko, wie an den Grenzen der Europäischen Union. Die Positionen, die Wladimir Putin im Zuge seiner Neuwahl 2012 in einem Presseartikel unter dem Titel „Die Selbstbestimmung des russischen Volkes: Eine Vielvölkerzivilisation mir russischem Kern“ zur „Nationalen Frage“ ankündigte, wie auch sein im Januar 2013 vorgelegtes „Konzept zur Migrationspolitik der russischen Föderation für den Zeitraum von 2013 bis 2025“, könnte man so verstehen: Qualifizierte Zuwanderer will er einladen, um die Wirtschaft zu stabilisieren, illegalen Aufenthalt erschweren, die Dominanz des „russischen Kerns“ erhalten.
Nun ist Russland aber nicht Europa und auch mit den USA nicht zu vergleichen. Auch das war schon dem Artikel Putins von 2012 deutlich zu entnehmen, wenn er dort Rußlands „polyethnische“ Verfaßtheit, also die russische Vielvölkerrealität, ungeachtet des von ihm betonten „russischen Kerns“ ausdrücklich vom europäischen „Multikulturalismus“ wie auch vo „Schmelztigel“ der USA abgrenzte und als eigenen Wert Rußlands hervorhob.
Was ist gemeint? Betrachten wir zunächst die einfachste Tatsache: Heute sind die Grenzen Rußlands gegenüber seinen früheren Republiken offen. Einen Zaun von Kiew bis Wladiwostok zu errichten, um illegalen Zuwanderern aus dem Süden den Weg in dieser Weise zu verbauen, verbietet sich für Rußland bereits aus physischen Gründen. Politisch wäre eine solche Maßnahme, selbst wenn sie nur aus der Einführung eines strikten Visa-Regimes und der Anlage nicht überwindbarer Grenzbefestigungen bestehen sollte, das Aus für den von Putin verfolgten Entwicklungsplan einer „Eurasischen Union“. Zu erinnern ist hier an die von Putin schon bei seinem Amtsantritt vorgelegte Vision, Rußland wieder zu einem „Integrationsknoten“ in Eurasien zu machen. Mit der Propagierung der „Eurasischen Union“ 2008 und dem ersten Schritt auf diesem Weg, der Gründung der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ 2011, bestehend aus Rußland, Kasachstan und Weißrußland, mit Turkmenistan als Kandidat, sind reale Schritte in diese Richtung gesetzt. Eine Abschließung der Grenzen nach Süden wäre bei diesen Perspektiven für Rußland absolut kontraproduktiv, ganz abgesehen von den dort verbliebenen russischen Minderheiten.
Hinter dieser aktuellen Situation werden die grundsätzlichen Elemente sichtbar, von denen Rußlands Umgang mit den heutigen Migrationsdynamiken bestimmt wird.
Als Nachfolger des ehemaligen russischen und darauf aufgebauten erweiterten sowjetischen Imperiums ist Rußland heute nicht nur der größte Flächenstatt der Erde, auf dem ca. hundert Völker miteinander unter russischer Vorherrschaft leben. Rußland hat auch die Probleme des Zerfalls, bzw. der Neuordnung dieses Imperiums geerbt.
Anders gesagt, Rußland ist kein Nationalstaat – ist nie einer gewesen und kann es auch nicht werden. Es entstand als Vielvölkerkonglomerat unter russischer Vorherrschaft. Die Sowjetunion hatte zwar die ideologische Klammer des „Sowjetstaates“ um die in ihr lebenden Völker gelegt, ohne aber deren – wie es im heutigen Rußland noch heißt – nationale, sprich ethnisch-kulturelle Identitäten aufzulösen. Stalins Verwaltungsreformen führten dazu, daß nicht ethnische und eben auch nicht nationale Grenzen die Völker der Sowjetunion voneinander trennten, sondern Verwaltungslinien, die ethnische und kulturelle Zusammenhänge durchschnitten. Dazu kamen die von ihm veranlaßten Deportationen ganzer Volksgruppen. Was am Ende so entstand, war eine Durchmischung ethnischer Kulturen unter russissch-slawischer Dominanz durchwachsen von autonomen ethnisch-kulturellen Einheiten und geteilt durch willkürliche Verwaltungsgrenzen. Im heutigen Rußland blieben davon 83 sog. Föderationssubjekte, davon 21 autonome ethnische Republiken.
Im Ergebnis führte diese Gemengelage mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 zu dem Phänomen der doppelten Migration in der sich neu definierenden Russischen Föderation, einer inneren und einer äußeren Wanderung, die sehr unterschiedlichen Bedingungen folgen, im politischen Alltag aber zu komplizierten Problemen kumulieren.
Die innere Migration setzt sich zusammen aus Rückkehr-Bewegungen der unter Stalin verfolgten Minderheiten, etwa der Tschetschenen. Zu ihr gehören aber Menschen, die im Zuge der Zwangs-Industrialisierung nach Sibirien oder in den fernen Osten verschlagen wurden und heute wieder in den Westen der Föderation zurückkehren. Zur Inneren Migration gehören auch die Millionen der russisch-stämmigen ehemaligen Sowjetbürger und –bürgerinnen, die sich nach der Auflösung der Union in den selbständig gewordenen ehemaligen Republiken als russische Minderheiten wiederfanden. Die Frage der sog. Rückkehrer ist ein nicht gelöstes Problem Rußlands, das den russischen Nationalisten reichlich Zulauf bringt. Sie werfen der Regierung vor, sie hole Fremdstämmige ins Land, statt sich um die „Landsleute“ der eigenen Nation zu kümmern, wobei sie unter „Nation“ nur slawisch-stämmige Russen verstehen. Unter Parolen wie „Rußland den Russen“ fordern die Nationalisten Unterstützung der russischen Minderheiten in den ehemaligen Republiken und auch konkrete Hilfen für diejenigen, die ins „Mutterland“ zurückkehren wollen.
Eine besondere Variante der inneren Migration bilden die Angehörigen „kleiner Völker“, der Tschetschenen und anderer Völker des Kaukasus, aber auch Vertreterinnen der an der Wolga siedelnden wie auch der indigenen Völker Sibiriens und des fernen Ostens, die auf der Suche nach Arbeit in den westlichen Teil Rußlands ziehen.
Zur Bewältigung all dieser Zuzugsfragen, ist die Wiedereinführung des „Propusk“-Systems, einer strikten Meldepflicht in der Diskussion. Bei Einsetzen der Perestroika war sie abgeschafft worden. Sie soll Zuzug wieder von behördlichen Genehmigungen abhängig machen.
Die äußere Migration ähnelt – wie gesagt – vom Grunde her den aus den übrigen Industrieländern bekannten Phänomenen. Von der Industrie, aber auch von kommunalen Dienstleistungsagenturen als billige Arbeitskräfte genutzt, mit denen zudem das allgemeine Lohnniveau gedrückt werden kann, werden sie von der einheimischen Bevölkerung zunehmend als Bedrohung für deren eigene Lebenslage erlebt.
In einem zentralen Punkt jedoch unterscheidet sich die äußere Migration Rußlands von der Europas: Die Arbeitsimmigranten, die vornehmlich aus Usbekistan, aus Tadschiskistan oder auch aus der Ukraine nach Rußland strömen, ein Bruchteil von ihnen legal, die übrigen illegal, kommen nicht von weither übers Meer und nicht aus einem völlig anderen Kulturkreis, sondern aus einer Situation, die in engster Weise mit ihrem Zielland Rußland verbunden war und in vielfältiger auch noch verbunden ist. Viele von ihnen, zumal die älteren sprechen Russisch, haben zumindest zuhause enge Berührung mit russischer Kultur gehabt, leben noch in der Erinnerung an die Sowjetunion. Sie finden sich in ihrem Gastland einigermaßen zurecht, ohne sich ganz von Grund auf besonders vorbereiten zu müssen. Für die jüngeren gelten diese Bedingungen nicht mehr in demselben Maße.
Aus all dem bisher Gesagten folgt als paradoxes Kernproblem der russischen Migrationspolitik: Es gibt in Rußland heute keine ausgearbeitete Integrationskultur, und das aus dem einfachen Grunde, weil die Menschen, gleich ob Zugehörige der inneren oder der äußeren Migration, im herrschenden Bewußtsein der heute politisch aktiven Generation immer noch in das ehemalige Ganze integriert sind. Man lebt noch in der Erinnerung des gemeinsamen sowjetischen Raumes; das war der Raum einer eurasischen Integration. „Unsere Tadschiken“, „unsere Ukrainer“, „Unsere Usbeken“ sind häufig gegebene Antworten, wenn man Moskauer danach befragt, wer ihnen z.B. die Parks säubert. Erst recht die Tschuwaschen von der Wolga, die Chakasen oder Altaizis aus Sibirien, selbst die Tschetschenen, also Vertreter der inneren Migration, sind selbstverständlich „unsere“.
Um so krasser werden die Zuwanderer da abgelehnt, wo sie – obwohl sie doch wissen müßten, wie man sich in Ruland zu benehmen hat – die Regeln nicht einhalten und die Kultur, in der sie sich bewegen, nicht achten. Solche moralischen Töne sind selbst von Staatschef Putin zu hören, wenn er mahnt, andernfalls müsse das Gesetz sprechen.
Daß die Jüngeren Zuwanderer, die die Sowjetunion nur noch aus der Geschichte kennen, dieses Wissen nicht mehr haben, ist bisher nicht soweit ins öffentliche Bewußtsein gedrungen, daß daraus eine aktive, neue, russische Integrationskultur erwachsen wäre.
Dieses Paradoxon aufzulösen, wird eine der Hauptaufgaben der russischen Migrationspolitik sein. Dafür muß ein neuer Integrationsgedanke entwickelt werden. Davon ist die russische Politik allen bisherigen Ansätzen zum Trotz weit entfernt. Jelzin versuchte eine nationale Idee zu stiften; Putin versuchte Rußland im Tschetschenischen Krieg zu einen; Medwedew wählte das Stichwort der Modernisierung. Eine tragende neue russische Identität ist aus keinem dieser Versuche hervorgegangen. Man darf gespannt sein, ob Putins Visionen einer Eurasischen Union jetzt etwas dazu beitragen können.