Blick auf Chinas traditionelle Werte

Bericht 85 des Forums integrierte Gesellschaft

Noch einmal China, nachdem wir aus dem vorangegangenen Treffen mit der Frage herausgekommen sind, was gemeint sein könnte, wenn die chinesische Führung heute den Geist traditioneller Werte beschwört. Die Frage dürfte nach den Umbrüchen des letzten Jahrhunderts und angesichts der gegenwärtigen Modernisierungskampagnen in China schon für die chinesische Bevölkerung selbst nicht leicht zu beantworten sein. Umso mehr stellt sich natürlich die Frage, was  dabei herauskommen kann, wenn Europäer sich auf die Suche nach dem historischen Geist Chinas machen. Kann mehr dabei herauskommen als ein vorsichtiges Tappen im Dunst einer im Westen nahezu unbekannten Geschichte?  

Kommen wir gleich auf die wichtigste Hürde: Die Schrift! Schon Russland liegt ja jenseits des europäischen Alphabetes. Aber erst China! Chinas Geist ist hinter 50.000 Zeichen verborgen. Auch wenn heute nur zwischen 2000 und 4000 Zeichen im Alltag gebraucht werden, ist die darin lebende Welt für Europäer doch immer noch nicht mit der für Europäer gewohnten einfachen Kombinatorik von Buchstaben erreichbar – erreichbar wird sie erst für diejenigen, die bereit sind sich auf eine Welt einzustellen, die sich in Andeutungen, in Assoziationen, in beständiger Wandlung und Übergängen bewegt, oder sagen wir, die sich durch das verständigt, was  n i c h t  in 26 Buchstaben definierbar ist – und dabei doch zu gleicher Zeit ein pragmatisches Verhältnis zur Wirklichkeit entwickelt hat.

Erlaubt uns deshalb ein paar Schritte der Annäherung vorzustellen.

Schaut Euch dazu diese Tabelle an, die einen kleinen Ausschnitt aus der Fülle der Zeichen zeigt.

http://www.china-park.de/sprache/chinesische-basis-schriftzeichen/

Wer Lust und Zeit hat, kann auf den Link gehen, wo die Zeichen und ihre detaillierten Erklärungen und Verwandlungen einzeln aufrufbar und bespielbar sind. Exemplarisch ist die zweite Zeile, in der die Verwandlung des Zeichens für ‚Mensch‘ (auf zwei Strichen stehendes Dreieck) zu verfolgen ist. 

Am Ende stehen wir vor einer kalligraphischen Kultur, die aus einer reichen meditativen Bilderwelt hervorgeht. Wir schauen auf Bilder, auf  denen der frei gelassene Raum, durch wenige Pinselstriche markiert, die eigentliche Botschaft ist.

Dazu lesen wir einen Spruch von Laotse wie den folgenden; es ist der elfte, nachzulesen im Tao Te King, einer Spruchsammlung aus dem 6. Jahrhundert vor Christi Geburt:

 

Dreißig Speichen  umgeben eine Nabe:

In ihrem Nichts besteht des Wagens Werk.

Man höhlet Ton und bildet ihn zu Töpfen:

In ihrem Nichts besteht der Töpfe Werk.

Man gräbt Türen und Fenster, damit die Kammer werde:

In ihrem Nichts besteht der Kammer Werk.

 

Darum: Was ist, dient zum Besitz.

Was nicht ist, dient zum Werk.

 

Dieser Spruch, wie das gesamte Tao Te King, wurde von Richard Wilhelm[i] in europäische Syntax gebracht.

Unverbunden in den chinesischen Zeichengruppen klingt das so[ii], wobei die Vieldeutigkeit der Zeichen auch noch andere Bedeutungen zulässt:

 

dreißig / speichen / vereinigen sich / eine / nabe:

angemessenheit / ihres / nichts

ist / des / wagens / brauchbarkeit;

knetet / ton / im / hinblick auf / topf:

angemessenheit / seines / nichts

ist / des / topfes / brauchbarkeit;

stemmt aus / tür / fenster / im hinblick auf / haus:

angemessenheit / ihres / nichts

ist / des / hauses / brauchbarkeit.

 

Also:

Des / seins / absicht / vorteil,

des / nichts / absicht / brauchbarkeit

 

Selbst diese zweite ‚Übersetzung‘ ist noch europäischen Wahrnehmungsgewohnheiten angepasst, wenn man weiß, dass es im Chinesischen keine Artikel, keine Flexionen, keine Konjugationen, kein Aktiv oder Passiv, keine verbindlich definierte Syntax gibt. Jedes Bild spricht für sich und gewinnt seine aktuelle Bedeutung aus dem Bezug des gesamten Sinnzusammenhangs und dem interpretierbaren offenen Raum darin. 

Den ältesten Zugang in die Welt des chinesischen Geistes eröffnet das „I Ging, Buch der Wandlungen“, ebenfalls von Richard Wilhelm für Europäer fassbar gemacht. Die Ursprünge dieses Buches reichen bis in 3. Jahrtausend vor Christi Geburt zurück. Es wurde als fundamentales Weisheitsbuch über viele Generationen immer wieder erweitert und kommentiert und dürfte für die chinesische Kultur von ähnlicher Bedeutung sein wie das alte und neue Testament für die westliche Geistesgeschichte.

Das I-Ging enthält vierundsechzig Positionen eines Hexagramms, das aus zwei Triagrammen gebildet wird, in denen je drei durchgehende oder geteilte Balken ihre Positionen zueinander verschieben, so dass mal sechs durchgehende Striche, mal sechs geteilte das ganze Hexagramm bilden oder auch Mischungsverhältnisse von fünf durchgehenden und einem geteilten, vier durchgehenden und zwei geteilten entstehen usw., wodurch ineinander übergehende Wandlungsstufen von Himmel, Erde und der sich verändernden Vielfalt des Lebens dargestellt und entsprechend kommentiert werden.

So  diente das I Ging über Jahrtausende als geistiger Ratgeber, Entscheidungshelfer in Tagesfragen und astrologisch-ethischer Wegweiser. Sowohl Laotse als auch Kungfutse, der zweite große ‚Alte‘ des chinesischen Geisteslebens und viele andere Lehrer des Landes haben immer wieder aus der Tradition des I-Ging geschöpft und sie erweitert.

Wer nachschauen will, kann mit Gewinn das Buch selbst vornehmen (siehe Lit-Liste) oder auch hierzu einen Link aktivieren https://de.wikipedia.org/wiki/I_Ging

Lassen wir Richard Wilhelm erklären: „Der Grundgedanke des Ganzen ist der Gedanke der Wandlungen. In den Gesprächen  (…) wird einmal erzählt,  wie der Meister Kung an einem Fluß stand  und sprach: ‚So fließt alles dahin wie dieser Fluß, ohne Aufhalten, Tag und Nacht.‘ Damit ist der Gedanke der Wandlung ausgesprochen. Der Blick richtet sich für den, der die Wandlung erkannt hat,  nicht mehr auf die vorüberfließenden Einzeldinge, sondern auf das unwandelbare, ewige Gesetz, das in allem Wandel wirkt.  Dieses Gesetz ist der SINN des Laotse, der Lauf, das Eine in allem Vielen.  Um sich zu verwirklichen bedarf es  einer Entscheidung, einer Setzung.  Diese Grundsetzung ist der große Uranfang  alles dessen, was ist, Tai Gi , eigentlich: der Firstbalken. (…)  Mit dieser (…Setzung), die an sich eins ist, kommt eine Zweiheit in die Welt. Zugleich mit ihr ist oben und unten, rechts und links, vorn und hinten – kurz die Welt der Gegensätze gesetzt. Diese Gegensätze sind bekannt geworden unter dem Namen Yin und Yang (…)“

Das Zeichen, sei ergänzt, symbolisiert den wechselseitigen Übergang des einen, das im Anderen schon enthalten ist. Das ist so klar, dass es hier nicht weiter erläutert werden muss – es sei denn, man will sehr weit in die Tiefe der Wandlungsprozesse gehen.

Nicht vergessen werden darf in unserer kurzen Annäherung Sun Tsus Werk über die Kriegskunst aus dem fünften Jahrhundert vor Christi Geburt, als dessen Leitspruch angesehen werden kann: „Wahrhaft siegt, wer nicht kämpft.“ Sun Tsu gilt als geistiger Vater des Guerillakrieges, des asiatischen Gegenpols zum ‚klassischen‘ europäischen Theoretiker des Kabinettskrieges, Carl von Clausewitz.

„Sun Tsu sagt: „In der wahrhaftigen Kunst des Krieges ist es von jeher die beste Lösung, das Land  des Feindes heil und unversehrt zu erobern; nicht gut ist es, es zu zerschmettern und zu zerstören.  So ist es auch besser, eine Armee in ihrer Gesamtheit gefangen zu nehmen, als sie zu vernichten, ein Regiment, eine Abteilung oder eine Kompanie im Ganzen gefangen zu nehmen, statt sie zu zerstören. .. So ist es denn nicht die höchste Meisterschaft, in allen  Schlachten zu kämpfen und zu erobern; die höchste Meisterschaft aber ist es, des Feindes Widerstand zu brechen, ohne kämpfen zu müssen.“

***

Zugegeben, dies sind alles nur Hinweise auf Facetten eines anderen, eines assoziativen Denkens, das eher auf Eingebundenheit in ewige Gesetzmäßigkeiten orientiert, als auf individuelle Erkenntnis. Was macht das Eintauchen in diese Welt mit uns? Beengt es uns,  ängstigt es uns, fordert es unsere Abwehr heraus? Oder regt es uns an, in die eigenen Traditionen einzutauchen, die westlichen, die europäischen, die deutschen, so dass wir in einen übergreifenden, beweglichen Entwicklungsstrom gegenseitiger Anregungen hineinkommen – geistig, kulturell, der über politische Polarisierungen hinausführen kann?

Dieses Ergebnis der Gesprächsrunde führte uns zum Thema, das beim nächsten Mal auf der Tagesordnung stehen soll:

 

Thema für das nächste Mal also:

Traditionelle Strömungen in der multipolaren Welt – konservativer Rückfall oder Chance?

 

Termin für den nächsten Austausch ist der 21.03.2021

Vorausgesetzt, es macht uns niemand einen Strich durch die Rechnung.

Erkundigt Euch also bitte elektronisch oder telefonisch, ob und wie wir den Termin halten können. Anfragen ggfls. auch über die Adresse www.kai-ehlers.de

 

Seid herzlich gegrüßt,

Kai Ehlers, Christoph Sträßner

 

Zum Thema sind folgende Texte und Videos hilfreich/interessant:

  1. Laotse, Tao Te King, Das Buch vom Sinn und Leben, übersetzt von Richard Wilhelm, Diederichs Gelbe Reihe.
  2. Laudse: Daudedsching (Lao-Tse: Tao-te-king). München [dtv] 4.A. 1991 (Lizenz von Reclam Leipzig 1978). Übersetzt von Ernst Schwarz.
  3. Konfuzius: Gespräche des Meisters Kung (Lun Yü). München [dtv] 1991. Übersetzt von Ernst Schwarz.
  4. I Ging – Text und Materialien [Das Buch der Wandlungen]. [Eugen Diederichs Verlag] 1977. Übersetzt von Richard Wilhelm.
  5. Das alchemistische Buch von innerem Wesen und Lebensenergie (Xingming guizhi). München [Eugen Diederichs Verlag] 1999. Übersetzt von Martina Darga.
  6. Das Weisheitsbuch der alten Chinesen: Frühling und Herbst des Lü Bu We (Lü Schi Tschun Tsiu). Köln [Anacona] 2006. Übersetzt von Richard Wilhelm.
  7. Sun Tsu: Am besten siegt, wer nicht kämpft [da ich das Buch gerade verliehen habe, kann ich jetzt keine weiteren bibliographischen Angaben machen)
  8. Francois Jullien, Denkzugänge, mögliche Wege des Geistes,  Matthes und Seitz, Berlin

Bei allen Titeln gilt natürlich, dass es sie auch in anderen Ausgaben von anderen Übersetzern gibt. Von Richard Wilhelm ist zum Beispiel Vieles antiquarisch in Diederichs Gelber Reihe zu finden. Außerdem können sich die Schreibungen der Namen und Titel (wie oben am Beispiel von Laudse sichtbar) unterscheiden.

Einen besonderen Hinweis verdient die Präsentation eines Textes von Kai Ehlers im „Kritischen Netzwerk“:

„Das chinesische Prinzip“ https://kritisches-netzwerk.de/forum/was-chinas-aufstieg-mit-russlands-perestroika-verbindet

[i] Richard Wilhelm, Tao Te King in Diederichs gelbe Reiche

[ii] Jan Ulenbrook, Taote King, Ullstein