Wollte man dem Mainstream der westlichen Medien glauben, dann begänne in Rußland jetzt die Hohe Zeit der Diebe, Spekulanten und notorischen politischen Fälscher – dazu noch die Alleinherrschaft Wladimir Putins als „strongman“, wie Teile der US-Presse den zukünftigen Präsidenten Rußlands während der Vorwahlzeit zu nennen beliebten. „Strongman“ war übrigens auch der Name, den die US-Medien Muamar al-Gadaffi gegeben hatten. Nicht wenige Kommentatoren können ihren heimlichen Wunsch nach einer „bunten Revolution“ in Rußland kaum verhehlen.
Die Tatsachen sind profaner: Rußland hat gewählt Die neue Duma ist die alte Duma. Der neue Präsident ist der frühere, alte Präsident, Wladimir Putin. Die Regierungen des Westens gratulierten kühl; allein China fand betont freundliche Worte für Putins Wahlsieg, verbunden mit besten Wünschen für zukünftige enge und gute Zusammenarbeit.
Neu ist dagegen eine außerparlamentarische Opposition, getragen von einer städtischen Mittelklasse, welche die Fortsetzung der bisherigen Machtverhältnisse der „gelenkten Demokratie“ nicht mehr hinnehmen will. Ihre Vertreter wollen die Ergebnisse der Präsidentenwahl anfechten, so wie sie schon die Ergebnisse zur Dumawahl angefochten haben. Michail Gorbatschow, der sich zu dieser Bewegung rechnet, erklärte einen Tag nach der Wahl, er erwarte vorgezogene Neuwahlen in absehbarer Zeit.
Will man nicht spekulieren, erheben sich drei wesentliche Fragen:
– Wofür tritt Putin jetzt an? Woran wird man ihn zukünftig messen müssen?
– Was will und was kann die neue Opposition?
– In welcher globalen Gemengelage findet der russische Wechsel statt?
Beginnen wir in aller Kürze mit Putin:
Im Unterschied zum Jahr 2000, als er sein Amt als kooptierter „Niemand“ antrat und in einem lapidaren Text im Internet nur einen einzigen Gedanken vorstellte, nämlich den russischen Staat im Kräftefeld zwischen Asien und Europa restaurieren zu wollen, hat er sich zu den aktuellen Wahlen programmatisch mächtig ins Zeug gelegt. Er hat aktiv in der Öffentlichkeit für seine Vorstellungen geworben, wohl wissend, daß Restauration als Programm nach zwölf Jahren Restauration nicht mehr ausreichen würde.
Wohl wissend weiterhin, daß diejenigen, die ihm als Opposition entgegen traten, außer dem Vorwurf der Fälschung der Wahlen und dem allgemeinen Ruf nach Freiheit kein eigenes positives Programm vorzubringen hatten, mehr noch, sie, wie etwa Boris Nemzow, in den 90er Jahren verantwortlich dafür waren, daß aus Gorbatschows Impuls einer Demokratisierung des Sozialismus der kriminelle russische Liberalismus wurde.
Wohl wissend auch, daß die aktuellen Massenproteste gegen Wahlfälschungen ungeachtet der Heterogenität der Bewegung ein Ausdruck für das politische Erwachen in der russischen Bevölkerung sind, an denen vorbei ein „Weiter so“ nicht möglich sein wird und die Regierung in den „Zukunftsdialog“ mit dessen Vertretern gehen muß, ob sie will oder nicht.
Wohl wissend schließlich, daß Rußland in den kommenden Jahren stark sein muß, um in der globalen Transformationskrise des Kapitalismus, von Putin „Turbulenzzone“ genannt, nicht unterzugehen, sondern eine stabilisierende Rolle zu übernehmen, wenn möglich zusammen mit China.
Putins fünf ausrichtende Artikel vor der Wahl haben diese Probleme aktiv aufgegriffen. Er wird zeigen müssen, daß er bereit ist, seine Ankündigungen tatsächlich umzusetzen.
Wenden wir uns nun der Opposition zu: Drei Jahre nach Wladimir Putins Antritt als Präsident Rußlands veröffentlichte Boris Kagarlitzki, neulinker russischer Radikaldemokrat, aktiver „Antiglobalist“, im April 2003 ein interessantes Buch zur Analyse der Entwicklung der globalen sozialen Widersprüche, Titel: „Aufstand der Mittelklasse“.
Kagarlitzki schrieb in seinem Vorwort: “Der soziale Kompromiß zwischen Kapital und Arbeit im XX Jahrhundert brachte die Mittelklasse hervor. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde dieser Kompromiß gebrochen, das heißt, die Zukunft der Mittelklasse wurde in Frage gestellt. Die Mittelklasse leistet Widerstand, verteidigt ihre Privilegien. Und genau das bringt sie dazu zu revoltieren. Der Wohlfahrtsbürger wird zum Aufrührer, der Konformist entdeckt in sich den Revolutionär. Und unerwartet findet er, daß kämpfen und seine Prinzipien zu verteidigen, wie schwierig das auch sein mag, wesentlich interessanter ist, als einfach nur Konsument oder Schräubchen im System zu sein. Die Antwort auf den „Aufstand der Eliten“ wird der Aufstand der Mittelklasse. Der Kreis schließt sich. Um die Massen zu beruhigen, verwandelte man sie in die Mittelklasse. Aber die Eliten brachen den sozialen Kompromiß. Der Krieg ist erklärt. Und die Mittelklasse verwandelt sich unausweichlich und unerwartet für sie selbst aufs Neue in eine nicht zu steuernde und revoltierende Masse, die die bürgerlichen Denker schon einmal am Ende des vorvorigen Jahrhunderts so erschreckte.“
Nach den ersten Protesten am 10. Dezember 2011 erklärte Kagarlitzki nach einem kritischen Blick auf den heterogenen Charakter der Bewegung, auf Differenzen, die zwischen Liberalen und Linken aufgetreten waren und insbesondere auf die Tatsache, daß bei den großen Kundgebungen auch rechtsextreme, offen nazistische Redner hatten auftreten können:
„Dennoch haben diejenigen recht, die sagen, eine neue russische Revolution hat begonnen. An diesem 10. Dezember fanden Demonstrationen im ganzen Land statt, anders als in Moskau ging es dabei in der Mehrzahl der Fälle um soziale Fragen und um Kritik am wirtschaftlichen und sozialen System. Es ist gut, daß es zwischen den Liberalen und den Linken zum Bruch gekommen ist. Die Linke beteiligt sich an Protestaktionen der Liberalen, aber sie spürt, daß sie etwas anderes will. Demokratische Fragen sind wichtig. Doch die Liberalen führen uns in eine Sackgasse. Wir müssen uns getrennt organisieren in den Betrieben, an den Universitäten und Schulen, und radikalere Formen des Protestes entwickeln, (so – ke) wie die Globalisierungsgegner im Westen. Die Liberalen verlieren an Boden, weil sie nicht die Fragen ansprechen, die die Masse der Menschen interessiert. Die Linke muß ihre eigene Agenda entwickeln.“ (SoZ Nr. 01/2012)
Zwischen diesen beiden Zitaten liegen gut 10 Jahre arbeitsteiligen Regierens von Putin und Medwedew. Aus den Texten wird die Dimension des Problems ersichtlich, das mit den Ereignissen rund um die jetzigen Wahlen zutage getreten ist. Manchen Kommentaren waren ja bereits Vergleiche zu den Protesten in den arabischen Staaten zu entnehmen. Weniger häufig, aber durchaus auch zu lesen waren Vergleiche mit der Protestkultur der Anti-Globalisten in Europa oder den USA, der Occupy-Bewegung, den spanischen „Empörten“, gelegentlich sogar den „Wutbürgern“ von „Stuttgart 21“ und ähnlichen.
Man könnte in der Tat meinen, daß man es in Rußland mit einem Reflex der gleichen weltweiten Proteste gegen die krisentreibende Politik des internationalen Kapitals zu tun hätte. Das wäre, gestehe ich, mir eine Freude, denn klar ist, daß jeder zählt, der oder die dem Wahnsinn der globalen Krisentreiberei entgegentritt.
Bedauerlicherweise muß man die Hoffnung auf solche Ziele bei den Protesten in Rußland sehr relativieren. Die erste Frage lautet: Wer ist in Rußland heute Mittelklasse? Die Antwort ist einfach: Niemand weiß es genau. Die Kriterien sind vollkommen unscharf. Offenbar zählt Gorbatschow sich dazu, aber ebenso auch Olga oder Pjotr, die sich mit drei Jobs durchschlagen müssen, sich aber doch politisch unabhängig fühlen. Kurz gesagt: Zur Mittelklasse gehört, wer sich ihr zugehörig fühlt. Statistiken schwanken zwischen 5 und 25 %.
Ein kleiner Hinweis auf die russisch-sowjetische Geschichte mag genügen, um diese statistischen Unsicherheiten zu erklären: Das zaristische Rußland hat keine bürgerliche und auch keine kleinbürgerliche Klasse entwickelt. Die Zusammensetzung der russischen Bevölkerung bestand noch in den Zeiten der nachholenden Industrialisierung am Anfang des vorletzten Jahrhunderts, konkret 1913 zu 66,7 Prozent aus Einzelbauern plus 16,3% Großbauern, also zu gut 80% aus bäuerlicher Bevölkerung. Dazu kamen 14,6 % Arbeiter und 2,4% Angestellte. Bourgoisie, Großgrundbesitzer und selbstverständlich der ganze Zarenhof erscheinen in der Statistik überhaupt nur noch als Namen ohne Zahlenangaben. Eine Mittelklasse hat es nicht gegeben. (Quelle, Helmut Steiner, 1999)
Die Oktoberrevolution ebnete diese soziale Zusammensetzung der russischen (sowjetischen) Bevölkerung zu einer egalitären sozialen Struktur von Arbeiter, Bauern und Intelligentia ein. Eine den westlichen Industrieländern vergleichbare Differenzierung der Bevölkerung hat mit der Privatisierung seit Ende der 80er des letzten Jahrhunderts zwar eingesetzt, hat aber bis auf die groben Unterschiede zwischen Superreichen und dem Rest der Bevölkerung, sowie darüber hinaus in diesem Rest der Bevölkerung zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung keine eindeutigen Zugehörigkeiten zu bestimmten Schichten oder Klassen gebracht. Lediglich den aktuellen Armutsstatistiken sind einige Zahlen zu entnehmen. Danach hat sich im Zuge der Entsozialisierung Rußlands seit Perestroika eine Unterschicht von ca. 7% herausgebildet. Sie ist zu ergänzen durch eine „noch nicht ganz deklassierte“ „obere Unterschicht“ von 7 – 8%. Etwa 20 – 30% betrage der „situationsabhängige“ „einkommensschwache“ Teil der Bevölkerung. ( Rußland Analysen, 222) „Situationsabhängig“ bedeutet, daß die Einkommensverhältnisse nicht stabil sind, sondern ohne Netz und doppelten Boden ständigen Schwankungen wie Betriebsschließungen, unversicherten Krankheiten etc. pp. unterliegen.
Wer nicht in diese Kategorien fällt, aber sich auch nicht zu den 4 – 15% Reichen in der Bevölkerung zählen darf – gehört demnach in die „Mittelschicht“. Das wären dann ca. 40%.
Es ist offensichtlich, daß solche Zahlen – mal 15, mal 25, mal 40% – für die Bestimmung dessen, was „Mittelklasse“ sein soll, nicht ausreichen. Ergänzend zählen kulturelle oder soziale Kriterien, die teils noch in die Sowjetzeit zurückreichen, z.B. die Position als Lehrer oder Lehrerin. Sie sind schlecht bezahlt, aber als Intellektuelle sind sie „gefühlte“ Mitglieder der „Mittelklasse“, dies allerdings auch wieder differenziert nach Stadt und Land.
Also kurz, „Mittelklasse“ ist in Rußland ein amorpher diffuser Begriff; entsprechend diffus und unbeständig sind auch die Interessen dieser sozialen Schicht.
Die zweite Frage ist: Was bedeutet in Rußland Demokratie, Freiheit und Liberalismus?
Die Frage ist schwieriger zu beantworten. Gorbatschow verstand unter Demokratisierung die Befreiung persönlicher Initiative im Rahmen der bestehenden sowjetischen Troika: Partei, Gewerkschaft, Betrieb. Die Troika bildete zu Sowjetzeiten eine alle Lebensbereiche umfassende Struktur, innerhalb derer der Einzelne aufgehoben war. Gorbatschow führte Wahlen mit mehreren Kandidaten auf lokaler Ebene ein – jedoch ohne das Parteienmonopol der KP, d.h. auch ohne die Troika aufzuheben. „Freie“ Wahlen nach westlichen Vorbildern implantierte erst Jelzin nach der Auflösung des Obersten Sowjets 1993 und dessen Ersetzung durch die nach zaristischem Vorbild gebildete Duma. Das Wahlverhalten vieler Menschen vor Ort folgt aber bis zum heutigen Tag immer wieder den 70 Jahre lang eingeübten Gewohntheiten aus Zeiten der Troika, was immer wieder dazu führt, daß – sagen wir es einfach – kollektiv gewählt wird. Das entspricht selbstverständlich nicht den Standards formal-demokratischer geheimer Wahlen, wie sie im Westen üblich sind.
Wahlen sind daher in Rußland, man könnte es schon so formulieren, erst nur dem Anspruch nach frei und geheim, die Realität ist immer noch den kollektiven patriarchalen Strukturen verhaftet. So gesehen gehört „Wahlfälschung“ heute noch immer zum normalen Ablauf russischer Wahlen, ganz zu schweigen von einer Nichtbeachtung formaler Standards wie Einhaltung der persönlichen Abschirmung bei der Wahl, richtiger Aufstellung von Wahlplakaten, korrekter Stimmabgabe u.ä. Besonders zu beachten ist auch noch, daß Rußland ergänzend zur unmittelbaren Wahlteilnahme am Wohnort des Wählers oder der Wählerin und der Briefwahl als zweiter Möglichkeit noch eine dritte Möglichkeit der Beteiligung kennt, nämlich die ambulante Teilnahme bei vorübergehendem Aufenthalt an einem Ort, wenn man sich zuvor eine „Tallone“ dafür geholt hat. Diese Regelung dürfte mit Rücksicht auf die großen Entfernungen im Lande beschlossen worden sein. Es kann also durchaus vorkommen, daß ein Ort mehr abgegebene Stimmen als Einwohner hat. Auch diese Regelung verführt, obwohl durchaus sinnvoll, natürlich zu Schlampigkeiten bis hin zu bewußtem Mißbrauch.
Also, Verfälschungen der Wahl sind in Rußland immer noch Standard, auch ohne daß die Staatsmacht das von oben her anordnen müßte. Eine andere Sache ist, daß diese, ich nenne sie mal, gemischten Strukturen vorzüglich dazu geeignet sind, auf dem Vorwege über sachliche oder politische Abhängigkeitsverhältnisse auf die Ergebnisse von Wahlen einzuwirken. Und dies – das kann man blind sagen – hat mit Sicherheit auch bei den letzten Wahlen zur Duma und zur Präsidentschaft stattgefunden. Diese Art der Beeinflussung, das muß hinzugefügt werden, ist aber nicht wirklich eine Verzerrung „eigentlich“ zu erwartender Ergebnisse. Sie ist eher ein authentischer Ausdruck der bestehenden Macht- und Kräfteverhältnisse nach dem Motto: Wer kann, der kann und der versucht es auch; das gilt für alle Beteiligten.
Hierhin gehören vor allem die Klagen über „unfaire“ Wahlen. Sie besagen nichts anderes, als das die Möglichkeiten der Beeinflussung der Wählerschaft im Vorfeld der Wahlen gemäß den eigenen Möglichkeiten in unterschiedlichem Maße genutzt wurden. Da wird in der Tat mit harten Bandagen und dem Einsatz aller Möglichkeiten gekämpft. Treffender als die einfache Klage über mangelnde Fairneß trifft aber wohl die Differenzierung des Kandidaten Prochorows zu, der die Wahl als „nicht fair, aber legitim“ bewertete.
So viel zur Wahldemokratie. Was nun Freiheit und Liberalismus betrifft, so hat die Mehrheit der russländischen Bevölkerung in den Jahren nach Gorbatschow die bittere Erfahrung machen müssen, daß ihr im Namen von Freiheit, Liberalismus und Privatisierung die sozialen Sicherheiten und auch Rechte, in denen sie vor der Auflösung des sowjetischen Staates durch Jelzin gelebt hat, zerstört, ja, wortwörtlich geraubt worden sind. Freiheit und Liberalität, ja, sogar Demokratie haben in den Ohren der Mehrheit der Bevölkerung daher, freundlich gesprochen, einen schlechten Klang. Demokratie wurde in der Volkssprache zu Dermokratie (von dermo, sehr vulgär – Scheiße) und Privatisierung zu Prichwatisierung (von prichwats – rauben). Deutlich gesagt, Demokratie, Freiheit und Liberalismus haben bei der großen Mehrheit der russischen Bevölkerung rundum „verschissen“. Für sie hat soziale Sicherheit, die ihnen im ökonomischen und sozialen Alltag ein selbst bestimmtes Leben erlaubt, eindeutig Priorität vor formalen demokratischen Standards von Freiheit, ganz zu schweigen von Liberalismus, der nicht nur mit der Zerstörung der Union, sondern auch mit dem Verlust der eigenen Lebensqualität assoziiert wird. Nur eine Minderheit der russländischen Bevölkerung, Superreiche, deren neureiches Umfeld, Städter und unabhängige Intellektuelle blieben von diesen Folgen des Liberalismus verschont.
Vor diesem Hintergrund betrachtet, erschließt sich die Sprengkraft der von Kagarlitzki oben zitierten Sätze: Eine Minderheit der russischen Bevölkerung, vornehmlich städtische Besser-Versorgte revoltiert gegen die rücksichtslose Kapitalisierung des Landes. Darin ist ihre Revolte in der Tat den Protesten und Revolten in Europa, den USA oder Nordafrika verwandt, sofern es um Teilhabe am Großen Kuchen, um das Recht auf freie Selbstverwirklichung und um Forderungen nach politischer Mitwirkung am gesellschaftlichen Geschehen geht. Im Unterschied zu dem, was sich in den alten kapitalistischen Ländern abspielt wie auch in den Ländern nachholender Industrialisierung fordern die russischen „Mittelklässler“ aber nicht nur Teilhabe. Soeben aus der egalitären Geschichte herausgerissen, wehren sie sich zugleich dagegen, sofort, noch ehe sie sich als Mitglied einer Klasse gefunden haben, finden mußten oder überhaupt finden konnten, wieder sozial niedergedrückt zu werden – dieses mal aber nicht in die Egalität, sondern in eine waschechte Proletarisierung.
Es ist eine Bewegung mit doppelter, widersprüchlicher Dynamik – der Protest gegen Putin richtet sich gegen die Zerstörung der egalitären Werte der alten Gesellschaft durch die oligarchische Putinsche Ordnung, die Rufe nach Freiheit dagegen enthalten die Forderung an den Erfolgen und dem Reichtum eben dieser Putinschen Ordnung gleichberechtigt beteiligt zu werden. Diese Widersprüche äußern sich im heterogenen Erscheinungsbild der Bewegung, die von rechts außen bis links innen jeden Ton mitnimmt, sodaß die Bewegung sich kaum als Ganzes wird artikulieren können. Es sind, wie bei Kagarlitzki herauszuhören, eher Spaltungen nach politischen und sozialen Prioritäten zu erwarten, einschließlich von Spaltungen zwischen Duma-Parteien und außerparlamentarischen Kräften. Ob unter solchen Umständen ein konstruktiver „Zukunftsdialog“ zwischen der Opposition und dem herrschenden oligarchischen Kartell um Putin zustande kommen kann, ist eine sehr offene Frage. Eine Beantwortung dieser Frage wird eng damit zusammenhängen, welche Aufgaben Putin für Rußlands Rolle in der Welt definiert, genauer, ob es ihm gelingt, die widersprüchlichen mittelklässlerischen Aufständigen in tatsächliche oder vermeintliche nationale Interessen einzubinden oder auch zu neutralisieren. Zielvorstellungen dafür – Rußlands Rolle als ruhender, wirtschaftlich und sozial stabiler eurasischer Pol an der Seite Chinas in der globalen Transformationskrise – hat er ja schon genannt. Ob ihm eine solche Politik gelingt und wie die verschiedenen Strömungen der Aufständigen sich darin einbinden lassen, wird sich zeigen.
Kai Ehlers
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