Eine Losung geistert zurzeit um die Welt: „multipolar“. Liegt in dieser Formel ein „Sesam öffne Dich“ für den Weg zu einer friedlichen Lösung der gegenwärtigen Weltkrise? Öffnet sich mit ihr die Tür in eine friedliche, kooperative Zukunft gleichberechtigter Partnerschaften zwischen unterschiedlichen Mächten und Kulturen oder beschleunigt sie nur das drohende Chaos der niedergehenden „unipolaren“ amerikanischen Hegemonie? Erweist sich die Losung vielleicht auch nur als leere Formel, die erst mit Inhalt gefüllt werden muss?
Antworten auf diese Fragen können nur mit einer illusionslosen Bestandsaufnahme zum Charakter der gegenwärtigen globalen Krise beginnen. Da wäre zunächst zu konstatieren: Was gegenwärtig auf eine Lösung zutreibt, ist nicht mehr und nicht weniger als die sich beschleunigende Transformation des von den USA heute dominierten globalen kolonialen Kapitalismus, der im Zuge erweiterter Konkurrenz vor unseren Augen in seine nachkoloniale Phase der Instabilität übergeht.
Das klingt nach einfacher Steigerung der letzten großen Krisen. Der Prozess unterscheidet sich jedoch von den historischen Stufen der Entkolonialisierung, die zum ersten und dann zum zweiten Weltkrieg führten, in einem grundsätzlichen Punkt: Konnte die mit der wachsenden Konkurrenz auftretende Überproduktionskrise des vorigen Jahrhunderts durch den ersten und dann noch einmal durch den zweiten Weltkrieg „gelöst“ und in neues „Wachstum“ verwandelt werden, so verbietet sich eine solche „Marktbereinigung“ heute wie schon zu Zeiten des sog. Kalten Krieges mit der Existenz der atomaren – und nicht zu vergessen auch biologischen Kriegsausrüstung der heute an dem Konflikt beteiligten Staaten. Das gilt umso mehr angesichts der Regellosigkeit der von den USA unter Umgehung der UNO ausgerufenen „regelbasierten Ordnung“, und es gilt bei Strafe des Unterganges für alle Mitglieder der globalen Staatengemeinschaft, gleich ob Aggressor oder Verteidiger oder keines von beidem.
Anders, und paradox zu sagen: in der heutigen Möglichkeit gegenseitiger Vernichtung liegt ein klarer Imperativ, die Lösung der aktuellen Krise nicht wie im zurückliegenden Jahrhundert in der großräumigen Zerstörung des überflüssigen globalen Kapitals, sondern in dessen Nutzung für die zivile Entwicklung des Lebens zu suchen. Die Möglichkeiten für lebensförderlichen Einsatz des überschüssigen Kapitals, festen wie auch beweglichen, sind schier endlos auf allen Ebenen, vom sozialen Alltag bis in geistige Aufbrüche – der Weg dahin ist allerdings schwierig. Er muss gemeinsam erforscht, beschritten und gepflegt werden.
Um nicht falsch verstanden zu werden, sei noch hinzugefügt: Der entstandene Imperativ, der eine neuerliche Kapitalvernichtung im globalen Maßstab heute bremst, bringt k e i n e n A u t o m a t i s m u s des Friedens hervor. Er fordert zunächst nur, a n d e r e Wege der Kapitalvernichtung unterhalb der Schwelle eines Einsatzes atomarer oder biologischer Waffen zu finden. Die Frage stellt sich allerdings ultimativ, ob nicht die Zeit gekommen ist, von der Vernichtung überflüssigen Kapitals generell zu dessen lebensfördernder Verwertung überzugehen.
„Multipolare“ Dynamiken
Vor diesem Hintergrund klingt das Wörtchen „multipolar“, das erstmals mit der Auflösung der Sowjetunion und jetzt lauter werdend mit der Krise des US-dominierten „unipolaren“ Globalismus und der darin herrschenden „regelbasierten Ordnung“ durch die Welt geht, wie die Ankündigung eines solchen, in die Zukunft weisenden zivilen Weges. Einiges spricht tatsächlich dafür, dass dies so sein, vorsichtiger gesagt, so werden könnte.
Aber hier gilt es einzuhalten: Ein Automatismus, der die grundlegende Krise, in welche die Welt heute gekommen ist, friedlich lösen könnte, liegt auch in der Formel des „Multipolaren“ noch nicht, solange deren Wirkung darauf beschränkt bleibt, die globale Dominanz der Weltmacht USA nur in nationale, regionale oder sogar lokale Räume hinein auflösen zu wollen. Der Effekt könnte sogar zu einer beschleunigten Zunahme der Instabilität in der Welt führen.
Die widersprüchlichen Elemente einer solchen möglichen Instabilität sind schnell benannt:
Da droht zum einen die Gefahr einer neuen Blockbildung, welche die zurückliegende Konstellation zwischen USA/EU und Sowjetunion unter neuen Vorzeichen nur fortsetzt, tendenziell sogar verschärft, jetzt zwischen dem US-dominierten „Westen“, der seine Dominanz verteidigt, und den im BRICS-Bündnis um Russland und China auftretenden neuen Kräften der ehemaligen Kolonien. Eine lähmende Stagnation und direkte kriegerische Konfrontation der globalen Mächte könnte daraus folgen.
Da droht zum anderen, sozusagen von der zweiten Seite der Lunte her, die Gefahr einer eskalierenden Konkurrenz zwischen den sich aus ihren nach-kolonialen Bindungen lösenden Nationalstaaten, die im Zuge der Krise des US-Globalismus in gegenseitiger nationalistischer Abschottung weltweit um den Zugang zu Markt und Ressourcen kämpfen. Auch das könnte ins kriegerische Chaos führen.
Da droht schließlich, aber nicht zuletzt noch die Gefahr einer sich ausbreitenden Allmacht expandierender Tech-Monopole, die sich die Konkurrenz der Blöcke und Nationen und daraus resultierende Chaos dienstbar machen und sich das lokale Leben unterwerfen.
Dies alles, einzeln und/oder in Zusammenwirkung, könnte die gegenwärtige Agonie unserer Welt eher noch beschleunigen, solange die unkontrollierte Selbstverwertung des Kapitals weiterhin das treibende Element gesellschaftlicher Entwicklung bleibt.
Elemente einer Differenzierung
Eine zukunftstaugliche Kraft kann die „Multipolarisierung“ aber dann entwickeln, wenn sie über eine bloße Vervielfältigung der Nationalstaaten hinaus zum Ausgangsimpuls für eine Transformation des kapitalgetriebenen Monopolismus wird, wenn sie die Entwicklung einer über das „Multipolare“ hinausführenden Differenzierung zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, zwischen lokalen, regionalen und raumübergreifenden Interessen zulässt, vielleicht gar fördert, ohne dabei auf primitiven Lokalpatriotismus oder Nationalismus zurückzufallen, wenn sie die Basis dafür schafft, wirtschaftliche Produktivität auf die Entwicklung des alltäglichen, des zivilen und kulturellen Lebens, auf die Förderung geistiger Unabhängigkeit und nicht zuletzt auch auf die ökologische Pflege der Erde zu lenken, statt in neue Orgien der Kapitalvernichtung zu führen. Soweit der Übergang in eine „multipolare Welt“ miteinander kooperierender Staaten und Kulturen einer solchen Entwicklung förderlich ist, ist sie selbstverständlich mit offenen Armen und aus ganzer Kraft zu begrüßen.
Fragen wir deshalb noch etwas deutlicher, wie eine Entwicklung „multipolaren“ Lebens aussehen müsste, wenn „multipolar“ mehr als nur eine Vervielfältigung der Verhältnisse werden soll, in denen Wirtschaft, Staat und geistiges Leben immer noch eine monopolistische Einheit unter dem Kommando der Ökonomie bilden, sondern wenn Wirtschaft, Staat und Kultur sich, gefördert von „multipolaren“ Impulsen weltweit, das Lokale mit dem Globalen verbindend, als selbstverantwortliche Lebensbereiche im gegenseitigen Austausch ergänzen und kontrollieren könnten.
Betrachten wir kurz die Bedingungen, die für eine solche differenzierende Entwicklung gelten würden:
Zunächst die Wirtschaft: Wirtschaftliches Handeln folgt sachlichen Anforderungen, die ihre Begründung in ihrem Zweck finden, dem Menschen seine physische Existenz zu ermöglichen. Da kann nicht lange gefackelt werden, da muss die Arbeit zu bestimmten Zeiten unter bestimmten Bedingungen für klare Zwecke erbracht werden: Das Brot muss sättigen, das Haus muss schützen, die Kleidung muss wärmen. Die Arbeit beginnt bei der Beschaffung von Grundnahrungsmitteln, führt über die Bearbeitung von Naturstoffen und endet im Bau von Behausungen, Verkehrswegen, ganzen Städten und der Entwicklung technischer Hilfen. Da muss eine Hand in die andere greifen. Individuelle Fähigkeit und Bereitschaft, sowie Schaffung von Wegen zur Kooperation sind Basisbedingungen der sich so entwickelnden Produktion. Für dieses Gebiet des Lebens gilt: Handeln nach Plan und festen Übereinkünften, Auftrag, Pünktlichkeit und exakte Ausführung. Überschüsse gehen in die individuelle Bewältigung des Alltags vor Ort und in die Sicherung der gemeinsamen Zukunft.
Damit sind wir bei der Alimentierung des Staates, sowie des kulturellen und geistigen Lebens durch die Wirtschaft. Beginnen wir mit dem Staat: Staatliche Realität schafft und schützt die Regeln des menschlichen Zusammenlebens auf der Basis einer durch die Wirtschaft gesicherten materiellen Lebensgrundlage. Nicht mehr und nicht weniger. Staatliches Zusammenleben folgt anderen Gesetzen als wirtschaftliche Kooperation. Im staatlichen Gefüge ist jeder Mensch dem anderen rechtlich gleichgestellt, anders als in der Wirtschaft, wo aus der Arbeitsteilung unterschiedliche Aufgaben für Mitglieder eines Arbeitsprozesses in unterschiedlichen Stellungen folgen. Arbeit ist hierarchisch als Auftragskette von oben nach unten, respektive von unten nach oben organisiert. Der Staat kennt die Hierarchie nur da, wo mit der Stellung bestimmte Funktionen verbunden sind. Als Mensch sind alle Mitglieder des Staates gleichermaßen berechtigt.
Die kulturelle und die darüberhinausgehende geistige Sphäre sind Ideengeber für Wirtschaft und Staat, ihnen aber nicht untergeordnet. Ihre Vertreter folgen eigenen, selbst bestimmten Aufgaben und Fragen, die sich aus Bildung, Forschung und spirituellem Leben ergeben und auf diese initiierend zurückwirken.
Noch einmal zusammengefasst: Der gesellschaftliche Körper ergibt sich aus dem getrennten Zusammenwirken dieser drei Lebensrealitäten.
Ethischer Konsens
Getragen werden kann eine solche Organisation des Lebens selbstverständlich nur von einem globalen Konsens der gegenseitigen Toleranz, Akzeptanz und Kooperation, wahrgenommen von einem Weltrat, bestehend aus drei Kammern oder Zweigen und ihren sich stufenförmig ins Kontinentale, Regionale und Lokale fortsetzenden Untergliederungen, in denen die drei Elemente des wirtschaftlichen, rechtlichen und des geistigen Lebens im horizontalen wie auch im vertikalen Austausch, im Dialog und in der Kooperation miteinander stehen können.
Sage niemand, das sei nicht möglich. Ansätze für eine solche Organisation sind in den heutigen Organen der UNO und ihren Unterorganisationen schon gegeben – vorausgesetzt, es setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Entwicklung eines solchen Trialoges von Wirtschaft, politischem und geistigem Leben, der alle Ebenen durchdringt und in gegenseitiger Unterstützung miteinander verbindet, als unumgänglich erkannt wird, wenn die menschliche Gesellschaft die heute herangewachsene Krise nicht nur überleben, sondern in eine soziale Dynamik überführen will, die das lokale Leben des einzelnen Menschen mit globalen Überlebensinteressen der Menschheit in lebensförderliche Übereinstimmung bringen will.
Möglich ist eine solche Entwicklung allerdings nur, wenn Toleranz, Akzeptanz und Kooperation, also einfach gesagt, gegenseitige Achtung fremder Kulturen, gleiches Recht für alle und Kooperation mit dem Ziel gegenseitiger Hilfe als ethischer Kanon in das alltägliche soziale Leben und nicht nur das, sondern auch in das globale Miteinander einziehen. Dies heißt nichts anderes als sich in den gegenseitigen Fähigkeiten zu verbinden, statt einander in Konkurrenz und Verhärtung des Eigenen zu bekämpfen oder gar zu vernichten.
Hier beginnt, wenn alles gut läuft, jetzt, heute eine neue Geschichte gegenseitiger Entwicklungshilfe der globalen Kulturen; vorsichtiger und zugleich dringlicher zu sagen, hier könnte, hier müsste eine neue Geschichte beginnen, die über die aktuellen Ost-West Konflikte hinausführt und auch den erwachenden globalen Süden mit einbezieht.
Allerdings muss hier auch angemerkt werden: Damit diese neuere Geschichte gut anlaufen kann, müssten nicht nur Westen und Osten in den Austausch, statt in die Konfrontation gehen, müssten nicht nur die Kräfte des globalen Südens gehört werden, es müsste sich auch Europa, insonderheit Deutschland auf seine historisch gewachsene Rolle als Vermittler zwischen Osten und Westen besinnen und sich zugleich für den Süden öffnen. Nur wenn dies geschieht, kann die mögliche „multipolare Welt“ eine friedliche werden.
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