Thesen zur russischen Wahrnehmung der weltweiten Krise.
Wie wird die Krise in Russland wahrgenommen und welche Wege der Bewältigung sind erkennbar? Momentaufnahme einer Recherche im Sommer 2009.
Boris Kagarlitzki, Direktor des russischen „Zentrums für Globalisierung und soziale Bewegungen“, schrieb angesichts des aktuellen Krisenverlaufes im Mai 2009[1] zu der Frage, wie sich die gegenwärtige Krise von den Krisen 1990/1 und 1998 unterscheide: „In der Zeit des ökonomischen Aufschwungs veränderte sich die Situation des Arbeitsmarktes. Das ist jetzt schon nicht mehr die nachsowjetische Gesellschaft, in der die Menschen sich aus den Gärten ernähren konnten, in der Betriebe ihre Arbeiter halten konnten, während sie ihnen keinen Lohn auszahlten, die Menschen sich aber durch irgendwelche sozialen Vergünstigungen versorgten und an Werte des Arbeitskollektivs appellierten. Millionen Menschen siedelten inzwischen in die wachsenden großen Städte um, jetzt können sie nicht zurückkehren und Kartoffeln ziehen – sie haben einfach keine Gärten mehr und die Familien blieben sechs Tagereisen weit in anderen Oblasten und in einem anderen Leben zurück. Millionen Menschen, die sich in den 1990er Jahren aus Arbeitern oder Ingenieuren zu kleinen Händlern umschulen konnten, sind inzwischen umgeschult. Und was jetzt tun mit den Millionen für die Wirtschaft nicht benötigten Trägern weißer Kragen, den Haltern kreditierter Automobile, den durch Hypotheken finanzierten oder gemieteten Wohnungen, was tun mit den Arbeitern der Gesellschaften, die in den Bankrott gehen?“ Die heutige Krise, so Kagarlitzki, lasse demjenigen, der ihr verfalle, im Unterschied zu der Krise von 1991, als es Aufstiegschancen für eine Minderheit gegeben habe, im Gegensatz zu der Krise von 1988, die kurz gewesen sei und die mit dem Aufstieg der Industrie und dem Anstieg der Ölpreise geendet habe, „auf individuellem Niveau … keinerlei Chancen“. Die Krise konfrontiere die russische Gesellschaft vielmehr mit der der Logik des kapitalistischen Systems, aus dem es keinen individuellen Ausweg gebe: Das Prinzip „Jeder für sich selbst“ funktioniere nicht mehr. Hoffen könne man nur noch auf „andere“ Wie könne man aber auf andere hoffen, wenn alle dahin getrimmt worden seien, dass jeder nur für sich selbstverantwortlich sei? Die „Nicht-Mehr-Gewohnheit für andere Verantwortung zu tragen“, schließt Kagarlitzki, sei daher das „hauptsächliche ‚systemische’ Problem der russischen Gesellschaft in der gegebenen Etappe ihrer Geschichte.“ Dies gelte es zu begreifen und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Welche, sagte Kagarlitzki in diesem Text nicht.
Die Umschau im Lande selbst ergab:
1. Mit dieser Position repräsentiert Kagarlitzki zur Zeit die radikalste Sicht auf die russische Krise. Diese Sicht kam auch auf der Konferenz „Russland , die globale Krise und die WTO“ zum Ausdruck, die vom „Institut Globalisierung und soziale Bewegung“ im Dezember 2008 in Moskau durchgeführt wurde: Die globale Krise wurde dort mehrheitlich als Systemkrise des Kapitalismus verstanden, die Russland infiziere und Russland damit konfrontiere erkennen zu müssen, wohin die kapitalistische Logik unausweichlicher Weise führe. Die Lasten der Krise würden auf die Bevölkerung abgewälzt. Aus dieser Analyse heraus kam die Konferenz zu der Position, dass ein möglicher Beitritt Russlands zur WTO kritisch zu überdenken und eine Kampagne dagegen zu entwickeln sei.[2]
2. In ihrer Einschätzung der Krise als systematisches Produkt kapitalistischer Logik ist die Kritik der radikaldemokratischen Linken zugleich Ausdruck der im Lande vorfindlichen allgemeinen Stimmung, welche die krisenhafte Entwicklung als Produkt des aus dem Westen importierten „Kapitalismus“ begreift – allerdings eher summarisch und athmosphärisch, als konkret und analytisch und ohne dass der Linken daraus personell direkt neue Potenzen erwüchsen. Die Bandbreite dieser Stimmung reicht von der schlichten Feststellung, alles hänge heute mit allem zusammen, bis zu dem Verdacht, Opfer westlicher Manipulationen zu sein, insbesondere US-amerikanischer, die bewusst angezettelt worden seien, um Russland durch den Zusammenbruch der Öl- und Gaspreise zu schwächen.
3. Aus dieser allgemeinen Gestimmtheit heraus werden die Maßnahmen der Regierung, insbesondere auch die demonstrativen Auftritte Putins ohne Ausnahme als Schritte verstanden, die von ihm aufgebaute Stabilität zu retten. Das gilt für Putins „Machtwort“ gegenüber den Bankern, die er bei Androhung von Haft anwies, die Stützungsgelder der Regierung tatsächlich als Kredite an die Industrie weiterzugeben. Das gilt für Modernisierungsprojekte wie die von Anatoly Tschubajs geleitete Kommission zur Entwicklung der NANO-Technologie, in die mit eigenem russischen Geld ausländisches Know-how ins Land gezogen werden soll. Das gilt ebenso für Putins demonstrative Auftritte, mit denen er vor Ort Krisenmanagement betreibt. So bei seinem Auftritt in dem Monostädtchen Pikaljéwo, wo er vor laufender Kamera den Oligarchen Deripaska verpflichtete, ausgesetzte Lohnzahlungen sofort zu begleichen und die Produktion sofort wieder aufzunehmen – ungeachtet der Frage, wo das Geld herkomme und ob der „Markt“ die Produkte aufnehmen könne. Eine Woche später prangerte Putin in einer Supermarktkette vor laufender Kamera die überhöhten Preise an – am Tag darauf waren die Preise um ein Drittel gesenkt. Der Beifall des TV-Volkes war ihm gewiss.
4. Differenzen gibt es in der Beurteilung, welchen Charakter die Stabilität habe und was die Auftritte Putins konkret bewirkten. Dem breiten Beifall für seine „entschlossene Aktionen“ stehen sehr kritische Sichtweisen gegenüber, und zwar sowohl aus Kreisen des „Busyness“ als auch aus der Tiefe der Bevölkerung, welche die Krise von einer ganz anderen Seite her beleuchten: Da ist zum einen die Position von „Insidern“, die die Krise mit den Augen des Geschäftsmannes sehen. Sie verstehen die Krise als Poker globaler Konzerne, an dem auch die russische Regierung zusammen mit Gasprom teilnehme. Als einer der zur Zeit potentesten Kapitalhalter habe Russland die dabei Chance, profitversprechende Produktionsstätten „für fast nichts“ zu kaufen wie Anteile von OPEL und andere. Dabei habe die Krise für das russische Inland zugleich den Effekt, das russische, wie auch das in Russland investierte ausländische Kapital von überflüssigen Arbeitskräften zu „reinigen“.
5. Aus der Sicht der abhängig Beschäftigten – vornehmlich ihrer kritischen Vertreter, versteht sich – steigert sich dieses Grundverständnis der Krise dahingehend, das gesamte Krisengeschehen für ein inszeniertes Theater halten, bei dem „Politik“ und „Kapital“ mit verteilten Rollen der Bevölkerung mehr Leistung abverlangten und gleichzeitig das Geld aus der Tasche ziehen wollten, um in dem internationalen Poker optimal mithalten zu können. Stichwort: „Sie nutzen die Krise, um sich zu sanieren.“ Aus dieser Sicht werden die Auftritte Putins als „peinlich“ erlebt, weil diese Noteinsätze deutlich machten, wie wenig die Regierung darüber wisse, wie das „Volk“ tatsächlich lebe und wie wenig ihr auch an einer tatsächlichen Beseitigung der Folgen der Krise für die Bevölkerung gelegen sei – denn es liege ja auf der Hand, dass letztlich keinerlei Verbesserung für die individuellen Opfer der Krise aus solchen Auftritten folge. Die Auftritte seien nur mediales Makeup zur sozialen Beruhigung.
6. In der Tat ändern die Auftritte Putins so gut wie nichts an den ökonomischen Auswirkungen und Folgen der Krise; sie verschärfen eher noch die auseinanderdriftende Polarität zwischen einer vom Bedarf losgelösten, nur um des Profites willen stattfindenden Produktion und der Verwandlung dieses Profites in eine Spekulationsware auf der einen und einen „Markt“, der nicht mehr in der Lage ist, die vom Bedarf losgelösten Produkte aufzunehmen auf der anderen Seite. Die Bevölkerung ist ja im Zuge der Krise noch weniger in der Lage, Produkte zu konsumieren, für die weder realer Bedarf noch ausreichend Geld vorhanden ist, wenn sie nicht mit aggressiver Werbung und Kreditversprechen künstlich dazu angereizt wird. Während Putin in Worten den unsozialen Umgang von Bankern, Oligarchen, Händlern und Spekulanten mit der Krise öffentlich geißelt, forciert er deren Verschärfung durch weitere Ankurbelung dieser vom Bedarf losgelösten Produktion. Das ist: Kritik des Neoliberalismus in Worten, dessen Fortsetzung in Taten. Diese Maßnahmen sind mit dem westlichen Krisenmanagement zu hundert Prozent vergleichbar.
7. Klare Unterschiede liegen dagegen in der Art der Regierungsauftritte, in denen Ökonomie durch Politik ersetzt wird. Manch westlicher Politiker dürfte die russische Regierung für Inszenierungen wie die in Pikaljéwo heimlich beneiden. In der Bewertung russischer Analytiker, wie übrigens auch im sozialen Alltag, trifft man sich in der Sicht, dass die autoritären Strukturen durch die Krise gestärkt werden; von basisgewerkschaftlicher Seite wird sogar zunehmende Repressionen beklagt, mit der Proteste niedergehalten würden. Andererseits wird die Bevölkerung sich selbst überlassen. Analytisch genauer formuliert: Die Krise reproduziert die traditionellen russischen Strukturen einer bürokratisch gelenkten Wirtschaft, während sie gleichzeitig die Individualisierung und Dezentralisierung weiter hervorbringt; ob das Zentrum, konkret das Tandem Putin Medwedew, daraus gestärkt hervorgehen wird oder eher geschwächt, darüber sind die Meinungen allerdings so geteilt wie die Ansichten zum morgigen Wetter.
9. Für die Bevölkerung bedeutet die Krise: Wegfall von „überflüssigen“ Arbeitsplätzen, die in der Boomzeit gehalten wurden, Entlassungen, Wegfall des in der Boomzeit üblichen „schwarzen“ Anteils der Lohntüte, offizielle Lohnkürzungen bis hin zur Zurückhaltung von Löhnen. Gleichzeitig steigen die Preise für Lebensmittel – allerdings nicht für alle Produkte, sondern auf Grund der Rubelabwertung für ausländische Waren. Die Preise für einfache Grundnahrungsmittel aus russischer Erzeugung sind zum Teil sogar gesunken. Dafür steigen die Kosten für infrastrukturelle und soziale Einrichtungen der Versorgung – Strom, Gas, Wasser, Verkehr usw. usw. Förderungen für öffentliche Initiativen, Kulturarbeit etc. werden rundum massiv gekürzt. Der Druck auf die Bevölkerung, die sich in der aufsteigenden Kreditwelle des zurückliegenden Booms vertrauensvoll und leichtsinnig verschuldet hat, steigt enorm. Darin ist Boris Kagarkitzki zuzustimmen,
10. Russland hat allerdings, das ist hier festzuhalten, gewissermaßen noch einmal Glück gehabt, von der Krise erfasst zu werden, b e v o r die durch den Boom der letzten Jahre anrollende Kreditwelle im eigenen Lande zu den Ausmaßen anwachsen konnte wie im Ursprungsland der Krise, den USA. Russland ist an der Kreditfalle eben noch vorbeigeschrammt. In Erkenntnis dieser Tatsache wurde die Hürde für private Kreditaufnahmen zu Konsumzwecken, die im Jahr zuvor noch leicht zu nehmen war, wenn man nur einen Arbeitsplatz nachweisen konnte, inzwischen entschieden erhöht. Jetzt wird nicht nur der Nachweis eines Arbeitsplatzes verlangt, sondern die Bonität des potentiellen Kreditkunden rundum geprüft. Eine allgemeine Verschuldung der Bevölkerung wie etwa in den USA wird es in Russland deshalb wohl nicht geben, eher eine Reduktion auf reale Formen des Austausches, eine Konzentration auf die eigenen Kräfte, auf den Erhalt und Ausbau persönlicher Autarkie in Form traditioneller und neuer Formen von Eigenversorgung. Genereller gesprochen gilt das auch für die Verschuldung des Staates; was den Staat angeht, liegt Russlands Problem sogar eher darin, die in den Boomjahren zurückgelegten Gelder so anzulegen, dass daraus keine inflationären Tendenzen erwachsen. Konsequenterweise bemüht man sich jetzt, damit dem norwegischen Modell folgend, verstärkt um Anlagen im Ausland,
11. Unbedingt zu relativieren ist vor diesem Hintergrund die Aussage, die russische Bevölkerung sei nach dem Boom der letzten acht Jahre nicht mehr in der Lage, auf Strukturen der Selbstversorgung zurückzugreifen. Es stimmt, dass der Boom Millionen von Menschen vom Land in die Städte gezogen hat, viele von ihnen als illegale Gastarbeiter. Wenn diese Millionen durch die Krise ihre Arbeit verlieren, werden nur die wenigsten in der Lage sein sich selbst zu versorgen. Dann bilden sie ein Krisenpotential in den großen Städten, von dem große Bedrohungen der sozialen Ruhe ausgehen können.
12. Tatsache ist aber, dass selbst in den Metropolen die Datscha, der Hofgarten, das eigene Stück Land vor der Stadt nach wie vor zur Grundausstattung vieler Familien gehören. Mehr noch, die Krise hat der „familiären Zusatzversorgung“ eine neue Bedeutung gegeben. Viele Menschen haben sich im Frühjahr 2009 entschieden, ihre Datscha wieder stärker zu bewirtschaften, ggflls. auch bewirtschaften zu lassen. Menschen aus der näheren Umgebung der Metropolen, die ihre Arbeit verloren, kehr in ihre Orte zurück. Zu diesen Bewegungen gibt es selbstverständlich keine Statistiken, aber Gartenausrüster wie OBI standen Anfang des Jahres nicht nur in den Regionen Russlands, sondern auch in Moskau im Boom; ihre Regale mit Samen und Pflanzen waren ausverkauft. Selbst in einem „Kurort“ wie Tarussa, 150 KM südlich von Moskau, gilt die Datscha heute immer noch – und wieder – als Lebensversicherung, hat die örtliche Verwaltung die Bevölkerung zur privaten Nutzung brachliegenden Landes vor der Stadt aufgerufen. Das gleiche Bild in Tscheboksary, der Hauptstadt Tschuwaschiens an der Wolga. Dort rief eine Versammlung des Tschuwaschischen Kulturzentrums zur erneuten Nutzung des brachliegenden Landes auf. Einzelne Personen, die aus dem Arbeitsprozess herausgefallen sind, spielen mit dem Gedanken, ländliche Gemeinschaften zu bilden, die gemeinsam eine Datschensiedlung kultivieren. Auf gut dreißig bis vierzig Prozent der Bevölkerung wird der Anteil derer geschätzt, die sich zur Zeit über familiäre Zusatzwirtschaft selbst versorgen. Dieser Einschätzung muss, darauf direkt angesprochen, auch Boris Kagarlitzki zustimmen.
13. Die überbordende Urbanisierung, die Verödung des Landes, in dem die Felder brach liegen, der Verfall der Dörfer, die nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu versorgen, wurde auch von der Regierung als Problem erkannt. Im letzten Jahr wurde ein Agrarprogramm neu aufgelegt, das die Rekultivierung des ländlichen Raumes fördern soll. Mit der Europäischen Union wurde 2008 ein Agrarförderungsprogramm vereinbart. Einzelne Initiativen zur Revitalisierung der Dörfer, zur Stärkung regionaler Entwicklung werden mit staatlichen Geldern unterstützt. So ein Pilotprogramm zur Revitalisierung von Dörfern im Oblast Archangelsk, das der „Wosroschdennija russkich Derewen“, der „Widergeburt des russischen Dorfes“ gewidmet ist. Unter den Bedingungen der Krise bekommen alle diese Programme eine erkennbare Dringlichkeit.
14. Was sich – verstärkt durch die Krise – so herausbildet, ist ein Nebeneinander von beschleunigter Modernisierung der industriellen Produktion im westlichen Stil bei gleichzeitiger Abstützung der Volkswirtschaft, also letztlich des Modernisierungsprozesses auf die Strukturen der Eigen- und Selbstversorgung – des Landes wie auch des Einzelnen im Rahmen seiner individuellen Versorgungszusammenhänge. In dieser Polarisierung liegt zweifellos die Gefahr einer gefährlichen Spaltung der Gesellschaft in Tradition und Moderne, in Land und Stadt, in arm und superreich. Andererseits liegt gerade in dieser Konstellation auch die Chance, dass die Modernisierung des Landes zu einer Symbiose von industrieller Fremdversorgung und familiärer, lokaler, regionaler und sogar nationaler Eigenversorgung führt, wenn diese beiden Pole als unabweisbare, historisch gewachsene strategische Elemente begriffen werden, deren Wechselwirkung heute aktiv gefördert werden muss und kann. In dieser Symbiose wird ein möglicher Ausweg aus der Krise erkennbar, der auch über Russland hinaus Bedeutung haben könnte: eine moderne Kombination von Fremd- und Eigenversorgung, in der sich die allgemeine industrielle Produktion mit dem tatsächlichen Bedarf vor Ort verbindet, sich gegenseitig ergänzt, begrenzt und optimiert. In einer solchen Kombination liegt eine mögliche Botschaft Russlands für einen Weg aus der globalen Systemkrise.
[1] Der Text erschien unter der Überschrift: „Das Ende der Stabilität“ in der russischen Zeitschrift „Alternative“[1], 31.05.2009
[2] Siehe dazu: Lewaja Politika, Nr. 9, Ende der Stabilität, S, 1. f
geschrieben für: Rosa Luxemburg Stiftung
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