„Tränen in einem Ozean“ – Russische Medien zwischen Zensor und Mafia

Vorspann:

Rußlands „Glasnost“ ist ins Gerede gekommen.  Sechs Journalisten kamen in den ersten Monaten dieses Jahres in Rußland ums Leben; siebenundzwanzig waren es seit Anfang 1993.  14 Tote, 30 Verletzte, 23 Geschlagene, 100 mit „Warnschüssen“ Eingeschüchterte, 146 willkürlich Aufgehaltene sowie hunderte alltäglicher Behinderungen gehen dabei auf das Konto des Krieges in Tschetschenien. Kaum einer der Vorfälle wurde verfolgt. Eins von den wenigen Verfahren, das überhaupt angestrengt wurde, endete soeben als Farce: Die Erschießung Natalia Aljakowa-Mrozeks durch einen russischen Posten während der Geiselnahme von Budjonnowsk im Sommer 95. Ihr Tod soll als Zufall zu den Akten gelegt werden.  So war es kürzlich von Vertretern der Moskauer „Stiftung zur Verteidigung von Glasnost“ bei einem Forum von Journalisten Hamburg zu erfahren. Alexej Simonow, Gründer der „Stiftung“, faßte die heute entstandene Lage auf dem Forum so zusammen:

O-Ton 1:    Alexej Simonow         (1,26)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzere hochziehen, verblenden

Übersetzer:    „Ich möchte mit einem Paradoxon beginnen: Als ich meine Thesen für diesen Vortrag schrieb, kam mir in den Sinn, die folgende Frage zu stellen: Ist ein Watergate im heutigen Rußland möglich? Dazu kann ich sagen: Material, das für zehn oder zwanzig Skandale im Stile Watergates gereicht hätte, wurde veröffentlicht. Doch die öffentliche Resonanz ist gleich Null. Daraus kann man recht klar die Grenzen dessen erkennen, was wir `Glasnost´ nennen: Glasnost, also die Möglichkeit Fakten herauszufinden und diese, wenn auch mit Risiko für deinen Beruf, deine Zukunft, dein Leben, zu veröffentlichen, besteht. Aber es gibt keinen gesellschaftlichen Mechanismus, um mit diesen Fakten auch Einfluß zu nehmen. So kommen wir zu dem Paradoxon, daß es in Rußland Glasnost gibt; eine Freiheit des Wortes als gesellschaftliche Übereinkunft aber nicht.“
(…w Rossije njet.“)

Erzähler:    Gisbert Mrozek, der Ehemann der getöteten Natajla Alikowa,  selbst als Journalist in Moskau akkreditiert, eröffnete seine Schilderung der Vorgänge um den Tod seiner Frau mit der Feststellung:

O-Ton 2:     Gisbert Mrozek     (0,34)
Regie: O-Ton ganz durchlaufen lassen

O-Ton Mrozek:    „Trotz aller Besonderheiten: der Tod von  Natascha, der Tod von Jochen Piest, der Tod von vielen anderen ist für mich nichts anderes als eine Träne im Ozean.  Das ist alles fürchterlich gewöhnlich. Und das Besondere war nur, daß hier plötzlich viele Leute auch in Europa, auch in Deutschland aufgehorcht haben und sich irgendwie geäußert haben.“

Erzähler:     Wer eine Erklärung für das von Alexei Simonow aufgezeigte Paradoxon sucht, daß Glasnost in Rußland besteht, die Freiheit des Wortes aber nicht, der muß in den von Gisbert Mrozek genannten Ozean tauchen.

O-Ton 3:     Druckmaschinen     (0,32)
Regie: langsam hochziehen, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden.

Erzähler:     Eine Druckerei an der mittleren Wolga. Hier wird noch Handarbeit geleistet: Bleisatzverfahren.

O-Ton 4:     Hausbesichtigung mit dem Direktor     (0,43)
Regie: verblenden, kurz stehen lassen, unterlegt halten, verblenden

Erzähler:    Aufträge fehlen, Geld fehlt, teilt der Direktor  mit, während zum zweiten Stock hinaufsteigen, wo er mir die Satzcomputer zeigen will. Zwei ältere Modelle westlicher Bauart stehen da. Daneben eine alte Offsetpresse. Import aus Indien, bemerkt der Direktor müde. Alle Maschinen stehen. Früher sind wir mit zwei Schichten nicht ausgekommen, sagt der Direktor. Jetzt ist nicht einmal eine Schicht richtig besetzt.“
Ob die Drruckerei so überleben könne?
(.. w Rossije“)

O-Ton 5:     Direktor der Druckerei     (0,29)
Regie: O-Ton kommen lassen, abblenden, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:    „Schwer. Schwer. In letzter Zeit ist es so schwer. So arbeiten? Nein. Neue Entlassungen wird es geben, wie schon einmal `92. Wir hatten ja neun Zeitungen, aus neun Bezirken und noch andere Blätter. Die werden jetzt alle vor Ort gedruckt, nach alten Methoden, so wie unten bei uns. Bei uns ist es zu teuer: Man muß herfahren, einen Telegraf kann man nicht bauen. So muß alles am Ort gehen.“
(…swje na mestje)

Erzähler:     Vor der Tür treffen wir auf Wladimir Furkov, einen vierschrötigen, einfachen Mann. Er ist Lokalredakteur der Zeitung „Avantgarde“, die hier gedruckt wird. Wladimir Furkow ist aufgebracht:

O-Ton 6:     Redakteur der Landzeitung, Furkow     (0,42)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt lassen, mit o-Ton 7 verblenden, bei Stichwort „..nje dadut nam“ kurz hochziehen, danach wieder abblenden, unterlegt halten.

Übersetzer:     „Vor drei Jahren hatten wir eine Auflage von 10.000. Das war 1980, als die Preise stabil waren und alle Geld verdient haben. Aber jetzt bekommen die Sowchosarbeiter keinen Lohn und so können sie die Zeitung nicht kaufen. Dabei ist es doch eine Zeitung für die Landbevölkerung hier bei uns. Selbst wir Redakteuere haben seit Monaten keinen Lohn gesehen. Sie geben uns einfach nichts.“

Erzähler:     Die Auflage ist auf ein Drittel gefallen. Geld durch Werbung hereinzubekommen, wie Zeitungen in der Stadt es machen, ist nicht möglich. Die Werbefirmen annoncieren nicht in einer Zeitung, die nur für die Landbevölkerung erscheint. Wladimir Furkow sieht nur einen einzigen Ausweg: Subventionen! Ohne Subventionen wird auch die Zeitung nicht überleben.
Die Frage, was er davon halte, daß die Presse „vierte Macht im Staate“ sein solle, ist für ihn schon fast eine Provokation:

O-Ton 7:     Wladimir Furkow, Forts.     (0,17)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ah, was?! Vierte Macht!? Wie kann das sein?, wenn Du abhängst von Leuten. Wenn Du um Geld bettelst. Wenn ich mein eigenes Geld hätte, dann könnten wir alles schreiben, alles herausschreien. Aber jetzt haben wir doch schon wieder Angst. Wenn man uns kein Geld mehr gibt, was dann?“

Erzähler:    Zweitausend Kilometer weiter im Osten treffen wir auf Juri Gorbatschow. Er war früher Agrarspezialist am „abendlichen Sibirien“. Seit zwei Jahren arbeitet er als Kriminalreporter. Die Zeitung ist eine von dreizehn, die heute wie eh und je im gemeinsamen „Druckhaus Sibir“ für die Stadt und die Region Nowosibirsk hergestellt werden. Früher war das Druckhaus Kopf einer regionalen Pyramide. 1989/90 war auch hier Glasnost angesagt. Jede Zeitung versuchte, ihren Weg zu finden. Man mußte Gelder durch die Werbung reinholen. Man fand neue Wege, die einen so, die anderen so: ein bißchen Abenteuer, ein bißchen Sensation, ein bißchen Erotik. Man überlebte. Jetzt spricht man auch in Nowosibirsk vom Zeitungssterben. Wieso?

O-Ton 8:     Juri Gorbatschow, Novosibirsk     (1,08)
Regie: O-Ton  kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegt halten, nach Erzähler hochziehen, das Lachen stehen lassen, abblenden

Übersetzer:     „Nun, wenn man über die finanziellen Aspekte sprechen will, so hängt das mit dem Mord an Listjew zusammen. Obwohl das in Moskau geschehen ist, weit weg also, hat das auch hier zu finanziellen Einbrüchen geführt.“

Erzähler:     Listjew war Moderator des zweiten Fernsehkanals. Als man ihn im Sommer 1995 erschoss, wurde sein Tod in Zusammenhang mit mafiotischen Werbegeschäften gebracht. Es gab einen Erlaß der Regierung, der die Werbung aus den Medien hinausdrängen sollte. Das hat der Werbung wenig geschadet. Für die Zeitungen aber brach die wirtschaftliche Basis zusammen. Es hieß: Entweder ihr findet Geld oder es ist eben Schluß.
(…Lachen)

Erzähler:     Juri macht hält nicht hinterm Berg damit, was das seiner Meinung nach zu bedeuten hat:

O-Ton 9:     Juri, Forts.     (1,23)
Regie: verblenden, O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen.

Übersetzer:     „Ich denke, unser Kollektiv erlebt zur Zeit seine erste Phase der Privatisierung. Das heißt, es geht darum, wer wen aussticht, wer wen fertig macht. Es geht um die Nomenklatura, darum, wer was aus dem Parteivermögen bekommen hat und jetzt bekommt. Das wird alles hier in unserem Mikrokollektv deutlich. Das kann man getrost Kommandokratie nennen. Ihr geht es um ihr eigenes finanzielles Überleben. Das Kommando rekrutiert sich nicht aus den Besten, nicht auf Grundlage von intellektuellen Leistungen, guter Recherche oder so. Es bildet sich auf Grundlage persönlicher Beziehungen. Wer oben war, ist oben geblieben. Ich selbst sehe mich plötzlich in der Situation, daß ein Buchhalter dreimal soviel verdient wie ich, obwohl ich doch Sonderkorrespondent bin.“
(…spezialni korrespondjent)

Erzähler:    Aber es sind nicht nur die Finanzen. Einen weiteren Grund sieht Juri in dem, was er den „Zusammenbruch das charismatischen Bewußtseins“ nennt. Auf Nachfrage erläutert er:

O-Ton 10:    Juri Forts.     (0,52)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Übersetzer wieder hochziehen

Übersetzer:     „Nun das Charisma war derart, daß man eine Zeitung genommen hat und jedes Wort glaubte, buchstäblich. Etwa so: Das Dach ist bei einem kaputt? Er ruft an, damit ich das repariere. Er glaubt, das ich das kann. Oder das Wasser ist abgestellt?  Da ruft er mich an. Verstehst du? Die Leute wandten sich an uns. Jetzt ruft niemand mehr an. Es gibt kein Vertrauen mehr. Die Leute glauben nicht mehr, daß wir irgendwas bewirken können. Sie sehen, daß wir machtlos sind, einfach praktisch.“
(…tschista praktitschiski)

Erzähler:     Auch gut gemachte Unterhaltung, selbst Sensationen können diese Lücke auf Dauer nicht füllen. Das kann Juri aus eigener Erfahrung sagen:

O-Ton 11:     Juri, Forts.     (0,53)    Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:      „Naja, stell Dir jemanden vor, der gewohnt ist, Süßigkeiten zu kaufen. Nun wird er plötzlich mit Geschichten über Kriminalität konfrontiert, über Stalin, was der für ein Mistkerl war und keineswegs der tolle Typ, als der er immer hingestellt wurde. Und dann ständig Neues über die Krise! Das  brauchen die Leute alles nicht! Sie sagen: `Wir haben gut gelebt. Alles war in Ordnung. Jetzt kommt ihr an und erzählt uns, daß in der Nachbarschaft ein Pädophiler lebt und da oder dort hat man einen Banker erschossen.´
Das ist doch alles überflüssig! Die Streßbarriere ist bei den Leuten durch den ganzen Kram, den sie inzwischen gehört haben, so hoch, daß sie von all dem nichts mehr hören wollen.“
(…nje wosprinimajut usche)

Erzähler:     Im Rückblick auf fünf Jahre Perestroika kommt Juri zu einem sarkastischen Resumee:

O-Ton 12:     Gorbatschow, Forts.     (1,21)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:     „Ich sehe das ungefähr so: Vor Jahren hatte man das subjektive Gefühl der Freiheit:  Jetzt, Leute, können wir also schreiben, was wir wollen! Aber das durchzuführen, verstanden wir nicht. Weil wir die Problematik des Marktes nicht begriffen. Das ist das eine. Außerdem war die Freiheit natürlich nicht so frei wie sie schien: Es gab sehr viele Schablonen, pseudodemokratische Mythologie, neue Zwänge. Heute verstehen wir den Markt besser, heute kann man schon konkreter arbeiten, mehr oder weniger wirklich professionell. Das ist so. Aber das Gefühl der Freiheit hat sich trotzdem verringert. Warum? Weil das Wissen um die Gefahr sich erhöht hat. Wir haben heute keine Zensur mehr, dafür sitzt der Zensor jetzt als Aufpasser mit der Automatischen und mit Pistolen im Foyer.
(…pistolettom)

Erzähler:    Um ein Beispiel gebeten, erzählt er:

O-Ton 13:    Juri, Forts.     (1,47)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, zum Lachen (1,24) zwischendurch hochziehen, wieder abblenden, unterlegt halten, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Nun, an uns wenden sich Leute, die Konflikte haben mit der Bank. Da kommt eine frühere Kassiererin eines Geschäftes, das jetzt privatisiert worden ist. Sie beginnt alles über die Mafia zu erzählen, was sie weiß. Wie sieht sie das? Mit den Augen der Kassiererin natürlich: Dies ganze Herrenleben bei den neuen Besitzern: Autos, Frauen, Datschen und ich, die Kassiererin, habe nichts!
Nach der Kassiererin ruft mich der Besitzer dieses Ladens an. Er ist ein echter Mafiosi. Er gibt mir Informationen über die Bank. Aber die Bank gibt mir keine Informationen über den Mafiosi. Und so fange ich an, zwischen ihnen hin und her zu irren. Hier höre ich noch dies, dort noch das. Dann höre ich, daß schon Krieg ausgebrochen ist zwischen ihnen, daß sie sich schon gegenseitig jagen.
„Ich rufe sie also an und sage: Wissen Sie, ich will keinem von ihnen zu nahe treten, ich schätze sie alle sehr, sie sind alle sehr sympathische Leute.

Regie: Zum Lachen kurz hochziehen, wieder abblenden, unterlegt stehen lassen, zum Ende hochziehen

Du verstehst? Sie kämpfen ja alle irgendwie  um ihr Überleben, wenn auch vielleicht nicht in meinem Stil. – Sag mir, wozu da einmischen, wozu wenn ich in keiner Weise geschützt bin in einer solchen Situation? Wir haben nichts! Keinen Sicherheitsdienst, keine Hilfsmittel, keinen juristischen Schutz. Absolut nichts“
(…absolutna ni kak)

Erzähler:     Zur Angst für das eigene Leben kommen noch die elend niedrigen Honorare, von denen niemand existieren, geschweige denn eine Familie ernähren kann. Viele Journalistinnen oder Journalisten leben auf Kosten ihrer Ehepartner, ihrer Eltern oder sie schlagen sich mit Nebenjobs durch. Auch dies droht letztlich wieder auf mafiotische Wege zu führen, wenn sie mit dem Geld zu machen versuchen, was sie zuvor recherchiert haben.
Das Fazit ist niederschmetternd:

O-Ton 14:     Tajana Sidnikowa, Union der Journalisten (0,37)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Die Euphorie in Bezug auf die Freiheit der Presse ist vorüber. Wenn die Massenmedien früher alles getan haben, um dem Einparteien-Diktat zu entkommen, so hat das Diktat sich jetzt nur in ein ökonomisches verwandelt. Das hat die Massenmedien vor das Problem das faktischen Überlebens gestellt.“
(…vischewannije)

Erzähler:     So spricht eine offizielle Stimme des Journalismus. Frau Tatjana Sidnikowa ist Leiterin der journalistischen Fakultät der staatlichen Beamtenschule von Nowosibirsk, früher kurz „Kaderzentrum“ genannt. Als Vertreterin der „Union der Journalisten“ hat Frau Sidnikowa soeben an einem Kongress in Moskau teilgenommen, wo diese Organisation ihre neue Rolle in der heutigen  Entwicklung zu finden versucht. Wer einen zivilisierten und intelligenten Weg gehen wolle, so Frau Sidnikowa, finde sich heut in einer schwierigen Lage: Hohe Kosten für die typographischen Dienste, für die Verkehrsmittel; Defizit bei Papier:

O-Ton 15:     Sidnikowa, Forts.                 (1,20)
Regie: kurz stehen lassen, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Ich will mich gar nicht erst über die Willkür der Druckereien beklagen. Ich kann sie verstehen, denn bei 85% unserer polygrafischen Basis wäre eine totale Erneuerung nötig. Da herrscht eine solche Archaik wie in der Steinzeit. Das ist vor allem in der Region so, wo Massenprodukte hergestellt werden. Früher hat es bei uns große Druckereien gegeben, die mit Ausrüstung aus der DDR versehen waren. Das galt damals für das beste. Aber heute ist das alles veraltet. Klar, daß die Druckereien auch aus der schlechten Lage heraus diktieren. Dazu kommen noch Postgebühren, Probleme mit dem Papier. Und schon stoßen wir gleich wieder auf die ökonomische Sphäre, Monopolisten! Wer am meisten zusammengeraubt hat, wer am meisten in der Hand hält, der diktiert dort.“
(…diktuit w etom..)

Erzähler:     Nur überregionale Blätter können diesem Druck standhalten, allerdings nur durch Erhöung ihrer Preiose. So sieht sich auch die zentrale Presse in einer schwierigen Lage. Zwar hat sich die Pyramide der Parteipresse mit Aufkommen der Perestroika seit 1987/8 geöffnet. Mehrere Linien entwickelten sich: die staatliche Presse, die unabhängige, die prokommunistische, die „gelbe“, also die Boulevardpresse, die profaschistische. Aber die Mehrheit der Leserschaft, die sich schon die örtliche Presse nicht mehr leisten kann, ist erst recht nicht mehr in der Lage, eine zentrale Zeitung zu abonnieren oder zu kaufen. Auch deren Auflage ist deshalb innerhalb der letzten zwei Jahre rapide gesunken, teilweise um fünfzig und mehr Prozent. Ergebnis, so Frau Sidnikowa, ist eine Katastrophe:

O-Ton 16:     Forts. Frau Sidnikowa                 (0,45)
Regie: Ton kurz stehen lassen, unterlegen, nach der Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Die ersten Köpfe des Landes pflegen die Kanäle ihrer Politik nicht mehr. Zeitungen haben keine Funktion mehr. Das ist das  eine Problem.
Das andere Problem ist: Da die Zeitungen nicht unter dem Schutz der großen Politik stehen, verkommen sie zu Instrumenten der örtlichen Administration. Und wird ein Redakteur, der da in irgendeinem sumpfigen Flecken sitzt, abhängig sein, von dem, was die örtliche Verwaltung meint? Na klar wird er! Schluß!
(…bsjo)

Erzähler:     Und als müsse sie die Einschätzung untermauern, die Alexej Simonow soeben in Hamburg gab, faßt sie ihre Erfahrung mit fünf Jahren Glasnost in den Worten zusammen:

O-Ton 17:    Sidnikowa, Forts.                     (0,39)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:  „Wir erhielten die Möglichkeit, über alles zu schreiben, über alles, wozu Verstand, Herz und Umstände ausreichten, um wirklich nachzugraben. Sowohl in der zentralen wie auch in der regionalen Presse gibt es heute viele kritische Veröffentlichungen, die die heutigen Praktiken betreffen. Die werden dort erörtert oder auch nicht. Aber diese Veröffentlichungen beachtet niemand. Journalismus erweist sich als nicht mehr gefragt.“

Erzähler:     Besonders beunruhigt ist Frau Sidnokowa über das, was sie den „Verlust des journalistischen Ethos“, die „neue Skupellosigkeit“ nennt:

O-Ton 18:     Sidnikowa, Forts.                 (1,16)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:    „Ich frage neulich auf dem Weg nach Haus einen Journalisten einer hier bei uns ziemlich bekannten Zeitung: Nun, haben Sie schon ihre Vorwahlkampagne geplant? Er antwortet: Wozu soll ich? Es gibt keine Notwendigkeit, wir sind eine unabhängige Zeitung. Ich sage, aber entschuldigen Sie, wenn Sie professionelle Journalisten sein wollen, dann können Sie nicht sagen, daß die wichtigste Frage des Landes für Sie ohne Bedeutung ist. Er antwortet mir: Na klar werden wir Stellung beziehen. Wer uns bezahlt, dem werden wir die Seiten geöffnet: wieviel er bezahlt, soviel Platz geben wir ihm.- Sehen Sie, da haben Sie es. Das ist typisch!“
(…wot ana typitschnaja)

Erzähler:    Zur Bekräftigung blättert Frau Sidnikowa eine Broschüre auf, die die Moskauer „Stiftung zum Schutz von Glasnost“ 1993 zusammen mit dem dortigen Goetheinstitut herausgegeben hat. Darin sind die gesetzlichen Bedingungen dokumentiert, unter denen Medien in Deutschland arbeiten. So, sagt Frau Sidnikowa, solle es sein. Aber das sei natürlich Zukunftsmusik… Die Wirklichkeit beschreibt derweil noch der Kommentar, den Oleg Panfilow von der „Stiftung zum Schutz der Glasnost“ in Moskau gab, als ich ihm dort meine in der Provinz gewonnen Eindrücke vortrug:

O-Ton 20:     Oleg Panfilow         (1,04)
Regie: kurz anspielen, abblenden, unterlegen, am Ende hochtiehen

Übersetzer:    „Ja, du kannst Artikel schreiben. Die Frage ist nur, wer sie druckt: Die Zeitungen in der Provinz sind praktisch staatliche Organe. Sie werden von der Administration der Stadt oder von der des Verwaltungsbezirks herausgegen. Private Zeitungen gibt es wenig. Wenn private Zeitungen irgendeine Kritik über die Administration schreiben, dann braucht man dort bloß zum Telefonhörer zu greifen, den Direktor der Druckerei anrufen und ihm sagen: „Mein Lieber, weißt Du eigentlich, das bei uns die Preise gestiegen sind und daß der Druck Deiner Zeitung morgen dreimal so teuer sein wird?“ Der sagt: „Verstanden!“ und schon wird dein Artikel nicht mehr gedruckt. Oder der Direktor ruft selbst den Redakteur an und erklärt ihm, daß das Papier morgen dreimal so teuer sein wird. Der Redakteur kapiert auch sofort und druckt natürlich nicht, was den Chefs nicht gefällt.
(…natschalswo)

O-Ton 21:     Redaktion „Kanasch“, leises Radio     (0,24)
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegt halten

Erzähler:    Weder von Frau Sidnikowa, noch von Oleg Panfilow erwähnt, verdient eine andere Art der Presse noch eine besondere Beachtung: die der ethnischen Minderheiten. In Uljanowsk, der Geburtsstadt Lenins, sitzen wir dem Redakteur einer solchen Zeitung, einem schmächrigen jungen Mann, jetzt gegenüber:

O-Ton 22:     Redakteur der Zeitung „Kanasch“     (0,59)
Regie: verblenden¬¬¬, Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach dem Erzähler hochziehen

Übersetzer:    „Wir befinden uns hier in der Redaktion von `Kanasch. Seit 1989 erscheint die Zeitung in tschuwaschischer Sprache. Als „Kanasch“ gegründet wurde, hatte sie eine Auflage von 15.000.“

Erzähler:    Heute ist die Auflage von „Kanasch“ auf 1500 gefallen. Das ganze Blatt besteht nur noch aus vier Seiten, von Aufmachung und Druckqualität einem „Samisdat“, den Untergrundblättchen der Breschnewära, ähnlicher als einer Zeitung. Die Redaktion nutzt zwei Räume im  „Haus der Freundschaft“. Daneben haben noch eine tatarische, eine deutsche, eine azerbeidschanische und eine jüdische Gemeinschaft hier Unterschlupf gefunden. Es ist sehr eng. Es fehlen die Mittel, gutes Papier, die Druckerschwärze zu bezahlen. Gründliche Recherchen kommen kaum noch zustande: Es fehlt das Geld, um das Benzin für eine Fahrt aufs Land zu bezahlen. Das Honorar des Redakteurs liegt unter dem Existenzminimum. Die Eltern helfen, gesteht er verlegen. Er arbeite nur noch aus Enthusiasmus, aber selbst damit seien die Arbeitsbedingungen nicht mehr lange zu ertragen:

O-Ton 23:    Redakteur „Kanasch“     (0,35)
Regie: verblenden, O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt halten, nach Übersetzer hochziehen

Übersetzer:    „Nehmen wir meine Arbeit: Ich bin ja Korrespondent. Ich ich fotografiere auch: Da fehlt die Chemie, das Papier ist äußerst teuer. Früher konnte man sich frei damit befassen. Da konnte man alles in den Geschäften kaufen zu billigen Preisen. Jetzt kaufst du das nicht, es ist sehr teuer. Wir haben bis heute kein Laboratorium. Ich mache die Entwicklung zuhause. Da gibt mir mal der eine was, mal finde ich hier was. Nur so geht es noch.“
(…stöhnen)

Erzähler:     Bei den Tataren eine Tür weiter ist es nicht anders. Die azerbeidschanische und die jüdische Gemeinde haben gar keine Zeitung. Die deutsche Minderheit bringt es mit ihren „Nachrichten“ immerhin noch auf 6000 Exemplare die Woche. Aber ohne sich selber Mut zuzusprechen geht es hier auch nicht:

O-Ton 24:     Familie Eugen Miller                    (1,02)
Regie: Ton ganz laufen lassen.

O-Ton Miller:  „Ich will die Realität immer so sehen, wie sie ist. Unsere zeitung kommt regelmäßig heraus, nur weil wir da alles rein geben…

Frager:    persönlicher Einsatz mit der ganzen Familie..

O-Ton Miller:  ..sonst wäre es schon längst aus damit. In diesem Jahr in Saratow ist die Zeitung schon einige Monate nicht herausgekommen, in Astrachan gestorben, „Neues Leben“ zusammengeschrumpft. Aber wir haben es sehr schwer. Wir tun alles Mögliche. Wir verkaufen jetzt unsere Bücher, die ich geschrieben habe. Dazu hat uns der VDA ein bißchen geholfen. das verkaufen wir und bezahlen den Menschen, die bei uns arbeiten, davon. Das Ministerium für Nationalität usw. verspricht mehr Geld, aber schon acht Monate, jetzt im September sollen wir das Geld bekommen.“

Erzähler:     Auch die ethnische Presse stirbt, wenn sie nicht wie in einigen der ethnisch geprägten Republiken Rußlands unter die Fittiche örtlicher Bürokraten schlüpfen kann oder wie die deutsche Minderheit vom „Verein der Auslandsdeutschen“ unterstützt wird. Von Selbstbestimmung kann unter solchen Bedingungen auch für die Presse der Minderheiten keine Rede sein. Das Zeitungssterben ist allgemein.
Gewinner dieser Entwicklung ist das Fernsehen:

O-Ton 25:     lokales TV     (0,35)
Regie: Ton stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzerin:    „Nun, von uns hängt viel ab! Zeitungen sind Defizit – aber Radio und TV hören und sehen beinahe alle. Wenn es im TV eine gute psychologische Gruppe gibt, eine Gruppe, die Feingefühl dafür hat, was unsere Zuschauer beunruhigt, dann kann dieses TV oder Radio sehr wirksam sein.“

Erzähler:     Ludmilla Simonow ist Redakteurin in einem russischsprachigen Lokalsender an der mittleren Wolga. Sie fühlt sich sicher: einen Fernseher, sagt sie, mindestens einen für schwarz-weiß Empfang aus der Sowjetzeit habe doch praktisch jeder. Doch auch Frau Simonows Freiheit hat Grenzen. Die Grenze heißt: Moskau:

O-Ton 26:     lokales TV, Fortsetzung     (0,59)
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:   „Ich weiß es natürlich nicht genau; das handeln die oben miteinander aus, aber: man hat uns unseren eigenen Kanal versprochen. Für den gibt es jetzt kein Geld. Das Geld reicht nicht einmal, um uns richtig zu bezahlen. Wir haben ein äußerst geringes Gehalt. Das Geld dafür kommt aus Moskau. Alle regionalen und nationalen Studios galten ja früher als Filialen des Moskauer TV, früher, lange lange her. Aber es scheint, daß noch einiges davon erhalten geblieben ist. Zum Beispiel die Technik bringt man uns über Moskau. Die Finanzen kommen über Moskau. Die Örtlichen unterstützen uns sehr wenig.“
(…pomogajut)

Erzähler:     Von Moskau kommt auch die Qotierung. Quotierung bedeutet: Das Programm wird aus Moskau vorgegeben: Soundsoviel habt ihr für zentrale Sendungen, soundsoviel für lokale, soundsoviel – zwei Stunden – dürft ihr für eure nichtrussischsprachigen Programme benutzen. Vom Moskauer Geld hängt alles ab:

O-Ton 27:     lokales TV, Forts.     (0,53)
Regie: O-Ton kurz stehen lasdsen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzerin hochziehen

Übersetzerin:     „Ja, wenn das Geld nicht kommt, ist es aus. Kürzlich war es so, daß sie nur 20% brachten. Da war noch ein bißchen Geld aus kommerziellen Quellen, aber das war es aus. In dieser Weise sind wir von Moskau abhängig. Aber das ist vermutlich noch die bessere Lösung. Unsere haben ja nichts. Lehrer, Ärzte und andere Staatsangestellte leben außerdem noch schlechter als wir. Hier geht es noch einigermaßen – auf dem Niveau von Bettlern, natürlich, aber was schon! Wir verhungern noch nicht!“
(… Lachen)

Erzähler:     Die ökonomische Unterordnung läuft auch hier, stärker noch als im Bereich der Presse, auf eine neue Zentralisierung hinaus. Zwei staatliche und ein unabhängiger Kanal bilden die Spitze des TV-Imperiums in Moskau. Ihre Sendungen werden selbst in der G.U.S. noch empfangen. So ist die Vielfalt, die mit Perestroika entstand, von einer neuerlichen Monopolisierung der Information schon aus rein strukturellen Gründen bedroht, noch bevor der politische Hammer seitens der Regierung überhaupt erhoben werden müßte.
Scharfe Kritik an dieser Entwicklung kommt von der „Union der Journalistverbände der G.U.S.. In ihr haben sich vornehmlich die russischen Journalisten der ehemaligen Sowjetrepubliken zusammengeschlossen. Die Union klagt über den Verlust eines „einheitlichen Informationsraums“. In Moskau erläutert ihr Sekretär Wladimir Suchamilow, was man darunter versteht:

O-Ton 28:     „Union der Verbände der G.U.S.    (0,34)
Regie: kurz stehen lassen, ablneden, unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzer:     „Das ist ein Weg mit Verkehr in zwei Richtungen. Es ist ja irgendwie paradox, aber in der sowjetischen Zeit waren die Informationskanäle auf gegenseitige Begegnung ausgerichtet. Jetzt geht der Informationsfluß nur aus Moskau in die früheren Republiken. Alle unsere Pläne zielen darauf, diese früheren Informationskanäle wiederherzustellen.“
(…na etot schot)

Erzähler:     In eine andere Richtung weisen die Worte, die Gisbert Mrozek am Schluß der hamburger Veranstaltung an seine Moskauer Kollegen richtete:

O-Ton 29:    Gisbert Mrozek                        (1,23)
Regie: O-Ton ganz abfahren

O-Ton Mrozek:    „Eure Stiftung heißt „Stiftung zur Verteidigung der Glasnost“. Wir, die Freunde von Natascha, schlagen vor, noch eine Stiftung zu gründen, eine „Stiftung zur Förderung des Journalismus“, die das macht, was ihr nicht macht, nicht machen könnt, weil eure Aufgaben viele sind, und schwer.
Eine Stiftung zur Förderung des Journalismus in Rußland, eine Stiftung, die getragen wird von russischen und europäischen Journalisten, ein Gemeinschaftsunternehmen, keine humanitäre Hilfe, um das bißchen, was es an Pressefreiheit in Rußland gibt, zu stabilisieren und weiterzuentwickeln.
Eine Stiftung, die z.B. Austausch organisiert zwischen deutschen und russischen Redaktionen. Für deutsche Kollegen ist es auch, glaube ich, sehr wichtig, auch für die Fortbildung, auch die berufliche, sich mal in Rußland in einer russischen Redaktion, nach Möglichkeit in der Provinz, den Ausnahmezustand, den alltäglichen anzusehen.“

Erzähler:    Mit dem Aufbau solcher Partnerschaften ist die Vielfalt der Medien und der aufrechte Gang in Rußland sicher besser zu verteidigen als durch die Wiederherstellung des einheitlichen Informationsraums aus der sowjetischen Zeit.

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