Rußland vor dem Referendum

Die Krise der ehemaligen Sowjetunion treibt einem neuen Höhepunkt entgegen. Nachdem vor knapp anderthalb Jahren Michail Gorbatschow abtreten mußte, sieht sich nun sein damaliger Herausforderer Boris Jelzin in Bedrängnis. Am 25. April soll ein Referendum darüber entscheiden, ob er Präsident bleiben oder ob er vorzeitig aus dem Amt scheiden muß. Sein Vertreter Alexander Ruzkoi, zur Zeit für die Landwirtschaft verantwortlich, hält sich bereits zur Verfügung. Die nationalistische und neostalinistische Rechte drängt auf Bildung einer Regierung der „nationalen Einheit“.
Ist das Referendum eine Entscheidung zwischen Fortsetzung der Perestroika und ihrem Abbruch, zwischen Demokratie und Rückkehr zur kommunistischen Diktatur, wie man es von Boris Jelzins Parteigängern im Lande selbst, aber auch von westlichen Politikern und aus westlichen Medien hört?

Über die Hintergründe des Referendums berichtet: Kai Ehlers

Erzähler:: Die Situation ist kompliziert: Mit der Zerschlagung             der KPdSU ist die alte Staatsspitze liquidiert, eine neue soll erst entstehen. Der Kongreß der Volksdeputierten, im März 1990 noch als Organ einer Republik der Sowjetunion gewählt, wurde zur höchsten Institution des neuen russischen Staates. Die 1086 Delegierten, zwischen den Sitzungsperioden vertreten durch 252 Abgeordnete des ständigen obersten Sowjets, sind noch nach sowjetischen Wahlrecht gewählt. Sie kommen zu zwei Dritteln aus Betrieben, Institutionen und gesellschaftliche Gruppen. Ein weiteres Drittel wurde über Unterschriftenlisten der damaligen „Bewegung demokratisches Rußland“ gewählt.  In dieser Zusammensetzung repräsentiert der Kongreß die reale soziale Situation das Landes, wie sie vor der Auflösung der Union bestand.
In seiner ersten Sitzungsperiode im Mai 1991 wählte der Kongreß Boris Jelzin zum russischen Präsidenten. Am 16. 6. proklamierte er die Souveränität Rußlands. Als er nach dem 23. August den Präsidenten zum Aufbau einer neuen Verwaltungsstruktur ermächtigte, gab er damit grünes Licht für die Abschaffung seiner eigenen sozialen und politische Basis. Faktisch sind aber nur parallele Strukturen entstanden. Die Verabschiedung der neuen Verfassung, welche die Kompetenzen neu regelt, gewann damit von Tag zu Tag
mehr an Bedeutung.

Erzähler:Drei Projekte für eine neue Verfassung waren Anfang             des Jahres in der Diskussion: Das des Kongresses, das des Präsidenten und ein Kompromißvorschlag. Im November war davon nur noch das des Präsidenten übriggeblieben. Oleg Woronin Geschichtsdozent, Mitglied der neugegründeten reformlinken „Partei der Arbeit“ in Irkutsk erklärte:

take 1: O-Ton Oleg Woronin, Irkutsk:
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dann unterlegen.

Übersetzer:   „Also nur ein Projekt! Aber – um dieses Projekt wird             es einen brutalen Kampf in den höheren Organen der Macht geben. Die Sache ist so…“

Regie: O-Ton abgeblendet weiter laufen lassen.

Erzähler:     Insgesamt, so Woronin weiter, liege das             Projekt auf der Linie, die Sondervollmachten des Präsidenten verfassungsmäßig festzuschreiben, den Volkskongreß dagegen abzuschaffen und durch ein kleines Berufsparlament zu ersetzen. Auch die örtlichen Sowjets wolle man verkleinern und die Gouverneure stattdessen direkt dem Präsidenten unterstellen. Von Diktatur zu reden, sei sicher trotzdem nicht richtig, da dem Verfassungsgericht große Vollmachten zuerkannt würden. Aber das Projekt komme natürlich nicht durch. Abgesehen von allem anderen würde der Kongreß niemals seiner eigenen Abschaffung zustimmen.

take 2: O-Ton Oleg Woronin, Forts.:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzer:   „Alle, die ganze Opposition, aber nicht nur die             Opposition, auch die Zentristen, alle würden dagegen stimmen. Das heißt, der Präsident habe nur einen Ausweg: Das Ganze aus dem Kongreß herauszunehmen und in ein Referendum zu verlagern. Aber ich fürchte, daß der Präsident in der gegebenen wirtschaftlichen Lage eine negative Antwort erhält. Das ist der Zusammenbruch. Das ist für ihn das Ende.“

Erzähler:     Pünktlich zum Ablauf der Fristen für die             Sondervollmachten des Präsidenten am Jahresende war es soweit: Das Tauziehen begann. Nach langem Hin und her, in dem sich Kongreß und Präsident wechselseitig beschuldigten, die Demokratie zu verraten, einigte man sich auf ein Referendum am 25. April. Es soll die Voraussetzungen für die weitere Klärung der Verfassungsfragen liefern. Vier Fragen soll die Bevölkerung beantworten:

Zitator:      Frage eins: Vertrauen Sie ihrem Präsidenten?
Frage zwei: Sind Sie mit der von der Regierung seit August 1991 betriebenen Wirtschaftspolitik einverstanden?
Frage drei: Sind Sie für vorgezogene Präsidentenwahlen?
Und Frage vier: Sind Sie für vorgezogene Kongreßwahlen?
Die Fragen gelten als entschieden, wenn mindestens 50 Prozent der 106 Millionen Wahlberechtigten mit „Ja“, bzw. „Nein“ gestimmt haben.

Erzähler:     Was aus der Entfernung wie eine Entscheidung             zwischen Fortsetzung der Reform oder Rückkehr zum alten System, wird von Kritikern im Land, die sich weder dem einen noch dem anderen Lager zurechnen, ganz anders erlebt.
Boris Kagarlitzky ist ein auch im Westen bekannter Reformlinker. Er neigt eher zu düsteren Analysen. Seine Telefonauskunft zur aktuellen Entwicklung klingt dagegen geradezu zuversichtlich:

take 3: O-Ton Telefongespräch Boris Kagarlitzky:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dem Übersetzer unterlegen.

Übersetzer: „(…)Ehrlich gesagt, ich hoffe sehr, daß es eine             Mehrheit für die sofortige Neuwahl von Parlament und Präsident gibt, also für die gleichzeitige Wahl des einen und der anderen.“

Erzähler:Rund um diese Position habe sich eine große             Koalition aller politischen Kräfte einschließlich der Gewerkschaften gebildet, berichtet Kagarlitzky. Nur die Jelzinisten, die nationalistische und neo-stalinistische Rechte sowie die Deputierten seien dagegen, die einen gegen Neuwahl des Prässidenten, die anderen gegen Neuwahl des Kongresses.
Auf Deutsch fährt er fort.

take4: O-Ton Kagarlitzky, Forts.:

Regie: O-Ton bis zum Ende laufen lassen.

„Meiner Meinung nach ist das eine Möglichkeit, diese politische Krise, diese Sackgasse zu ändern. Heute ist die Macht meiner Ansicht nach volksfeindlich, menschenfeindlich, aber die Opposition ist nicht viel besser. Und weder die Macht noch die Opposition sind wirklich von den Menschen unterstützt. Daher kommt die einzigartige Möglichkeit, diese Situation zu ändern. Daher ist das meiner Meinung nach sehr positiv, was kommt.“

Erzähler:    Das Referendum, so Kagarlitzky, sei die             unvermeidliche Konsequenz aus der gescheiterten Politik Boris Jelzins:

Take 5: O-Ton Kagarlitzky, Forts.:

Regie: O-Ton stehen bis zum Ende lassen

„Jelzin hat seine soziale Basis verloren, seine soziale Unterstützung. Das war ja ein großer Block für diese Marktreformen und dann haben die Marktreformen die sozialen Schichten differenziert und so die soziale Basis desintegriert. Und auch einige, sozusagen bürgerliche Schichten oder quasi-bürgerliche Schichten sind oppositionell geworden, oder auch Technokraten sind oppositionell geworden, weil bei den neo-liberalen Reformen geschieht nichts, technisch passsiert nichts. (…) Daher sind viele soziale Gruppen und Schichten, die `91 oder `90 für Jelzin waren, jetzt oppositionell geworden.“

Erzähler: Andere teilen Kagarlitzkys Hoffnungen in die große             Koalition nicht. So Vadim Damier, ein junger Historiker, aktiver Grüner, Basispolitiker, Anarchist, den ich in seiner Moskauer Wohnung erreiche. Er setzt seine Hoffnung auf Boykott. In der Antwort, worum es gehe, wird er dagegen sogar noch etwas deutlicher:

take 6: O-Ton Vadim Damier, Moskau:

Regie: O-Ton bis zuende  abfahren.

„Um die Macht, erstens. Zweitens wahrscheinlich um die Neuverteilung des Eigentums, obwohl man darüber nicht offen spricht. Das heißt, es ist ganz klar, daß zwei verschiedene Konzepte der Privatisierung existieren und zwar seitens der Regierung einerseits und der Direktoren andererseits.“

Erzähler      Auf der Seite der Regierung stehe vor allem             Vermittler- und Mafia-Kapital, also unproduktive Gelder, während die Direktoren das produktive Industriekapital repräsentierten. Die Direktoren fürchteten, daß der internationale Währungsfond von Jelzin jetzt weitere Subventionskürzung fordere. Das würde für die Direktoren praktisch den Verlust der Betriebe bedeuten. Bei der Privatisierung zeige sich der Gegensatz ebenso: Die regierenden Kräfte seien für das Modell der Volks-Aktien. Praktisch stärke auch das die Mafia, weil ein Großteil der Aktien in ihre Hände gerate. Die Direktoren forderten dagegen die Übergabe des Kontrollpakets in die Hände des Betriebskollektivs, der Belegschaft. Praktisch heiße das allerdings, daß die Aktienmehrheit unter die Kontrolle der Direktoren komme, weil die Aktien innerhalb der Belegschaft ungerecht verteilt würden.

Erzähler      Ist dieser Konflikt zwischen Regierung und             Direktoren gleichbedeutend mit der vielbeschworenen Alternative zwischen Demokraten und Kommunisten?
„Lüge!“ wettert Boris Kagarlitzky. Mit 200.000 Mitgliedern sei die wiedergegründete KPdSU sehr schwach. Nicht sie, sondern seine eigenen ehemaligen Bündnisgenossen müsse Jelzin heute fürchten: seinen Vizepräsidenten Ruzkoi, seine ehmalige rechte Hand Chasbulatow, den Kongreß selber, der ihn erst zum Präsidenten erhoben und ihm dann Sondervollmacht nach Sondervollmacht eingeräumt habe.
Vadim Damiers fügt hinzu:

take7: O-Ton Vadim Damier, Forts.:
Regie: O-Ton bis zuende auslaufen lassen.

„Nein, Quatsch, Quatsch, es ist Quatsch. Eigentlich sind die Kommunisten überall, in allen Gruppen. Sie sind im nationalistischen Lager, in den Zentristen und überall, nicht offen natürlich, auch im Jelzin-Kommando – Jelzin selbst, ja?! Wer ist er?“

Erzähler:     Viktor Komarow ist noch spät abends im Büro der             oppositionellen Gewerkschaftszeitung „Solidarnost“ zu erreichen. Er beklagt eine bewußte Verzerrung der Ereignisse:

take 8:O-Ton Viktor Komarow:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, dem Übersetzer unterlegen.

Übersetzer:   „Ich glaube, daß diese Polarisierung künstlich             gemacht ist. Die konstruktiven Vorschläge kommen alle von der zentristischen Opposition, verstärkt durch die Linke. Die Extreme könnten dabei sogar wegbrechen.“ (…) Die Sache ist nur die, daß davon zur Zeit sehr wenig bekannt ist. (…)“

Erzähler:     In der Öffentlichkeit, so Viktor weiter, werde davon             leider wenig bekannt. Von den Massenmedien würden nur die Extreme geschürt, sodaß es so aussehe, also ob sich nur Jelzinisten und Neo-Stalinisten gegenüberstünden.
„Reformen mit dem Gesicht zum Menschen“, fordert Gewerkschafter Komarow. Das sei die Alternative des zentristischen Blocks. Boris Kagarlitzky wird deutlicher:

take 9: O-Ton Boris Kagarlitzky, Forts.:

Regie: O-Ton auslaufen lassen

„Mehr Staatseigentum, mehr Keyneseanismus, mehr Vergesellschaftung und Regulation, aber natürlich die legislative Garantie für Privateigentum, vielleicht, ich habe das nicht gern, aber einige legislative Garantien für ausländische Unternehmer, aber mit dem Staat als wichtigstem okonomischem Agenten, der mehr re-etablieren kann und den Staatssektor der Wirtschaft reorganisiert usw. “

Erzähler:     Das klingt nach Rückkehr zum Staatsdirigismus. Aber             tatsächlich geht es nicht um die Alternative: Abbruch oder Fortsetzung der Reformen. Zurück will niemand, außer den extremen Rechten: Ihr orthodox kommunistischer Teil bis zu Stalin, ihr patriotischer bis zum Zarismus. Der Mehrheit dagegen geht es nicht um die Liquidierung, sondern um die Steuerung der Reformen, vor allem auch ihrer sozialen Auswirkungen. Einen endgültigen Zusammenbruch mit unabsehbaren politischen Folgen wollen sie abwenden.
Diese Einsicht ist tatsächlich neu. Der Aufstieg Boris Jelzins war noch mit anderen Vorstellungen verbunden.

take 10: O-Ton Demo, August ’91:

Regie Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden und unterlegt weiter laufen lassen. Mit Text beenden.

ErzählerMoskau, Juni 1991. Unterstützung für den             Herausforderer Boris Jelzin. Rücktritt, Rücktritt, Rücktritt, rufen die Menschen. Michail Gorbatschow und sein Wirtschaftsminister Ryschkow sollen gehen. Mit einem 500-Tage-Programm will Jelzin die martwirtschaftliche Öffnung das Landes verwirklichen und die Krise beenden.
Einen Monat später ist Michail Gorbatschow abgesetzt. Die Kommunistische Partei ist zerschlagen, die Sowjetunion aufgelöst, die „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“, G.U.S., an ihre Stelle getreten. Boris Jelzin ist Präsident der russischen Föderation. Der Oberste Sowjet gibt ihm Sondervollmachten bis Ende Dezember 1992. Bis dahin sollen die wichtigsten Schritte des 500-Tage-Programms durchgeführt und eine neue Verfassung verabschiedet, mindestens aber vorgelegt sein, die den gesetzlosen Zustand nach der Auflösung der Sowjetunion beendet. Noch im November erfolgt die erste Freigabe der Preise. Im Mai eröffnet die von Jelzin eingesetzte Regierung Jegor Gaidars die offizielle Kampagne zur Privatisierung. Ein System von Administratoren, die unmittelbar dem Präsidenten verantwortlich sind, soll vorläufig für deren Durchsetzung sorgen.
Aber schon im Frühjahr 1991 warnen selbst ausgemachte Befürworter marktwirtschaftlicher Reformen vor der Gefahr eines wilden Kapitalismus als Ergebnis überhasteter und schlecht durchgeführter Maßnahmen der neuen Regierung. So Oxana Dimitriewa, Doktorin der Ökonomie am Finanzwissenschaftlichen Institut in St. Petersburg. 1989 wurde sie ausgezeichnet für ein Projekt zur marktwirtschaftlichen Entwicklung der Stadt, damals noch Leningrad. Später war sie als selbstständige Unternehmensberaterin tagtäglich mit Problemen der Privatisierung befaßt.

take 11: O-TonOxana Dimitriewa:
Regie: T-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegt weiterlaufen lassen.

Übersetzerin: „Nun, die Regierung überlebt, natürlich. Aber es             ist eine selbstmörderische Politik für das Land. Tatsächlich vernichteten sie die Mittelklasse. Über Nacht vernichteten sie sie und trieben das Volk unter die Armutsgrenze. Jetzt sehen sie, daß die `Lumpen‘ gegen sie aufstehen, also einfach die Menschen, die nicht qualifiziert sind, solche die kommunistische Überzeugungen haben usw. So versuchen sie das Land davon zu überzeugen, daß die einzige Opposition gegen sie die Leute seien, die Porträts von Stalin und Breschnew tragen.  (…)
Aber wer sind denn die „Lumpen“, wer sind die Leute unter der Armutsgrenze? Professoren! Sie leben weit unter der Armutsgrenze, weit drunter. Ärzte, Lehrer, Ingenieure, die ganzen hochqualifizierten Leute, Leute aus dem Bereich des technischen Fortschritts. Sie alle liegen unter der Armutsgrenze. Außerdem alle Produzenten, tatsächlich alle wichtigen Unternehmen. Die Regierung tut so, als handele es sich nur um die Direktoren. Aber ich denke, das stimmt nicht, denn inzwischen fällt das Interesse von Direktoren und Beschäftigten der Betriebe zusammen.“

Erzähler: Das Privatisierungsgesetz werde nicht             funktionieren, prognostizierte Frau Dimitriewa schon damals. Eine neue Konfliktlinie zwischen Regierung und Bevölkerung zeichne sich stattdessen ab:

take12: O-TonOxana Dimitriewa, Forts.:

Tegie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen.

Übersetzerin „Das hat schon begonnen. Gestern oder vorgestern             konnte man es im Fernsehen sehen. Da wurde ein Treffen mit dem Vorsitzenden der baltischen Schiffahrtsgesellschaft gezeigt, die eine sehr mächtige Gesellschaft im Lande ist. Sie hatten Valuta. Sie hatten sehr hohe Löhne. Sie stellten den Präsidenten der Agrogrombank. Das waren also einfach die Mitglieder der alten ökonomischen Elite. Sie erklärten, daß sie sich an die Regierung mit einer Art Ultimatum gewendet hätten. Die Leute werden auf ihrer Seite stehen. Früher haben sie die Demokraten gewählt, weil sie neue Leute in der Regierung sehen wollten. Aber inzwischen haben sie begriffen, daß ihre Interessen nicht von diesen neuen Leuten vertreten werden, die nichts waren, aber die neu gewonnene Macht nun benutzen, um sich selbst zu bereichern, statt etwas für das Land zu tun. Vertreten werden sie von ihren Direktoren, die ihre eigene Arbeit wirklich repräsentieren.“

take13: O-TonDemonstration, 11.November 1992:

Regie: O-Ton einen Moment frei stehen lassen, dann abblenden und unterlegen.

Erzähler: Moskau, ein Jahr danach, im November 1992: Die             Opposition hat sich formiert. Gut 50.000 Menschen, kommunistische und patriotische Gruppen, ziehen trotz heftiger Gegenpropaganda zum Jahrestag der Revolution am 11. November mit der Parole „Halt stand großes Rußland“ in die Innenstadt. „Jelzin ist ein Verbrecher“ rufen sie. Kritiken wie „Mafianisierung“, „Korruption“, „nomenklaturische Privatisierung“ sind zu Schlagworten der Rechten geworden. „Schluß mit dem Ausverkauf“, „Schluß mit der Entwürdigung des russischen Volkes“, „Für eine Regierung der nationalen Stabilität“ lauten die Forderungen.

Die Rechten stehen nicht allein. Nur einen Monat zuvor hatte die „Föderation der unabhängigen Gewerkschaften Rußlands“ landesweit erstmals zum Widerstand gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung aufgerufen.

Zitator:“Verehrte Mitbürger!
Sie sehen, wie das Lebensniveau mit jedem Tag fällt, rasant steigen die Preise, die Produktion steht still. Im großen Maßstab wächst die Korruption und die Willkür, blüht das Verbrechen.
Die Zeit ist gekommen, sich zu wehren. Gegen Elend, Arbeitslosigkeit und ein zerstörtes Leben können Sie sich und Ihre Familien nur durch ihren eigenen aktiven Einsatz verteidigen.
Wenn Ihnen das Schicksal Rußlands nicht gleichgültig ist, wenn Sie Ihre Familie wertschätzen, wenn Sie die Hoffnung nicht verloren haben, ein Leben nach menschlichen Normen zu führen, dann bekunden Sie Ihre Solidarität mit den Arbeitenden. Kommen Sie zum Meeting am 24. Oktober um dort `Nein‘ zu sagen gegen das weitere Absinken in Armut, um von den Machthabern zu fordern, die Reformen mit dem Gesicht zum arbeitenden Menschen zu wenden.“
Erzähler:    Beim wöchentlichen Koordinationstreffen der             Gewerkschaftsvorsitzenden der St. Petersburger Großbetriebe erklärt einer aus der Runde:
take 14: O-TonGewerkschafts-Versammlung:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegen, mit Text enden lassen.

Übersetzer:   „Das Wichtigste ist, daß die, – nun, sagen wir –             brutale Gängelung immer noch besteht: Der bürokratische Apparat, der mit dem alten Regime zusammenarbeitet. Es gibt ja keinen Markt! Das ist diese Einseitigkeit. Perestroika hat den Staat noch monopolistischer werden lassen. Die Monopole wurden noch schlimmer, noch mafiotischer, kann man sagen.“

take 15: O-Ton Gewerkschaft, Forts. Frauenstimme:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, unterlegen

Übersetzerin: „Das Alte gibt es schon nicht mehr, das neue noch             nicht.“

Erzähler:Dies, fügen andere Kollegen hinzu, gelte nicht nur             für die Produktion, sondern auch für die soziale Infrastruktur, die bisher von den Betriebskollektiven getragen worden sei: Kindergärten, Ferienheime, Datschensiedlungen, Wohnungsbau, Rentenfonds, Kulturhaus. Nichts aus dem sozialen Bereich, was nicht vom Betriebskollektiv getragen worden sei. Dies alles zerfalle jetzt.

Jenseits der großen Zentren konnte man schon im Sommer 1992 von Jelzins eigener Mannschaft hören, was das vor Ort bedeutet:
Wladimir Bachom, ehemaliger Kolchosdirektor, ist heute Administrator des Bezirks Bolotnoje, ein junger, dynamischer Mann. Sechzehn Sowchosen, das sind ca. fünzig Dörfer, sowie das Bezirkszentrum mit ca. 20.000 Menschen, zusammen vielleicht 30.000 Menschen, stehen unter seiner Verwaltung. Selbstverständlich führe er die Anweisungen zur Privatisierung aus Moskau durch, erklärt er, aber es gebe große Schwierigkeiten .

take 16: O-Ton Wladmir Bachom, Bezirkadmistrator:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, mit Text beenden.

Übersetzer:   „Die erste Schwierigkeit besteht darin, daß der             Staat, nennen wir es so, also wir als Vertreter der staatlichen Macht, die Privatbauern nicht mit dem Nötigen versorgen können, das heißt mit technischer Ausrüstung, mit sozialer Infrastruktur. Es gibt keine Wege, keine Wasserversorgung, keine Weiterverarbeitung, keine Möglichkeit, die Waren auf den Weg zu bringen. Das sind so die Schwierigkeiten mit den Bauern.
Allgemein gibt es noch den rein psychologischen Faktor, auch eine großes Problem: Nicht Alle in den Sowchosen und Kolchosen haben eine normale Beziehung zu privaten Bauern. Die Hälfte unserer inzwischen zweihundert Bauern arbeitet gut. Die andere Hälfte, muß man allerdings sagen, die hat Kredit genommen, sich etwas angeschafft. Ansonsten haben sie keine Ahnung, produzieren nichts. Das gibt natürlich Probleme. “

Erzähler:   Zu offenen Konflikten, bei denen jemand             geschadet worden sei, sei es noch nicht gekommen. Aber Bachom ist gegen jede weitere Forcierung der Privatisierung:

take 17: O-Ton Admistrator, Bolotnoje, Forts.:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abbblenden, dann unterlegen.

Übersetzer:  „Ich bin dagegen, daß heute Sowchosen und Kolchosen             liquidiert werden. – Ich spreche für verschiedene Formen des Eigentums, aber angesichts des Zustands, in dem sich bei uns heute die private Bauernwirtschaft befindet (…) muß natürlich jeder die Kolchosen und Sowchosen kräftigen und unterstützen.
Und was die soziale Infrastruktur angeht, haben Sie vollkommen recht: Das muß der Staat natürlich auf die Schultern nehmen. Das gilt allgemein. Der Bezirk mit seinem Budjet, also wir, sollten ja Mittel erhalten, Steuern usw. usw., Budgetgelder, Sie verstehen. Aber heute sind die privaten Bauern für die Zeit von fünf Jahren alle von den Steuern befreit. Das heißt, von daher kommt keine Unterstützung. Und wir vom Bezirk können nichts geben. Nötig wären Gelder aus dem staatlichen Budget. Subventionen. – Nun, bei uns geht das noch: Wir haben die Kindergärten jetzt in unsere Obhut genommen, auch die Schulen haben wir praktisch alle übernommen. Aber allgemein kann man heute die Tendenz feststellen: In den Bezirken gibt es kein Geld. In den Kolchosen und Sowchosen hat man aufgehört, Geld in diesen Bereich zu stecken. Das bedeutet: Das Leben der Bevölkerung erstarrt.“

Erzähler:Alexander Petrow ist im August 1991 Verwalter in             einem Dorf an der mittleren Wolga geworden. Er übernahm die Verantwortung für die Aufteilung von 363 Hektar der örtlichen Sowchose. Heute zweifelt er an seinen früheren Überzeugungen.

take 18: O-Ton Alexander Petrow:
Regie: O-Ton sehr kurz stehen lassen, abblenden, unterlegt laufen lassen.

Übersetzer:   „In unserer Geschichte war es häufig so: Das eine             zerstört man, aber Neues baut man nicht auf. Ich denke heute auch so: Wofür muß man dieses mächtige Sowchosen-System zerstören? (…) Jetzt geht alles sehr schlecht. Kolchosen und Sowchosen schlachten bereits ihr Vieh. Warum? Weil es keinen Nutzen bringt, Fleisch und Milch zu produzieren. Ich lebe selbst auf dem Dorf. Ich verstehe heute einfach die Politik dieser Reform nicht mehr, ehrlich gesagt.“

Erzähler:     Vincenti Tengerekow ist stellvertretender             Vorsitzender des „Agroprom“, auf deutsch des „landwirtschaftlich-industriellen Verwaltungskomplexes“ der Republik Altai. Bei ihm wird erkennbar, wie verschlungen die Widerspruchslinien im Lande verlaufen. Er zeigte mir verschiedene Orte, wo die „Agroprom“ weisungsgemäß die Privatisierung eingeleitet hat. Auf der Rückfahrt zog er Bilanz:

take 19: O-Ton Tengerekow Vincenti, Altai:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dann unterlegt laufen lassen. Mit Text beenden.

Übersetzer:   „Wir haben schon viele Reformen erlebt. Das ging             immer auf Kosten der Bevölkerung, immer auf die Knochen der Bauern. Das gilt auch für die Reform, die Ruzkoi jetzt durchführt. Die Bauern sind ohne Schutz.“

Erzähler:      Der Bauer, so fährt er fort, könne nicht streiken             wie beispielsweise die Minenarbeiter. Aber die Preise für Industrieprodukte, für Autos, für Maschinen, für Mähdrescher und anderes sei gestiegen. Daraus ergebe sich ein gestörtes Gleichgewicht. Ruzkoi müsse die Landwirtschaft subventionieren. Überall auf der Welt werde sie subventioniert. Jelzin habe erklärt, das solle lokal geschehen, aber lokal geschehe nichts. Wenn aber keine Unterstützung komme, könne der Bauer nichts kaufen: Keine Land-Maschinen, kein Inventar, keine Düngemittel. Ohne das sei keine landwirtschaftliche Produktion möglich.

take20: O-Ton Vincenti, Forts.:

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dann unterlegen. Mit Text beenden.

Übersetzer:   „Die Kolchosen und Sowchosen waren so ein             Schutz. Die Leiter haben sich miteinander getroffen, sie kannten sich, sie konnten als eine Front auftreten. Die kleinen Unternehmen, die jetzt entstanden sind, kommen nicht zusammen. Sie kennen sich nicht. Sie können nicht in einer Front auftreten.“

Erzähler:     Aber Vincentis Hoffnung liegt nicht in der Rückkehr             zu alten Führunsmethoden. Vizepräsident Ruzkoi ist für ihn nichts weiter als ein Soldat, der die Landwirtschaft mit den ihm vertrauten Methoden kommandieren wolle, statt sie zu entwickeln.

take21: O-Ton Vincenti, Forts.:
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, dann unterlegen. Mit Text beenden.

Übersetzer:    „Die landwirtschafts-Gewerkschaft nützt auch nur             ihren Führern und klüngelt mit der Macht zusammen. Was die Vertreter des obersten Sowjet oder der Regierung sagen, das ist für sie Gesetz. Nötig wäre eine unabhängige Gewerkschaft.“

Erzähler:     Und nicht nur das: Gebraucht werde eine echte             Demonopolisierung, fährt er fort, in der die Arbeit vor Ort und nicht in Moskau organisiert werde. Die Ausrufung des Altai zu einer souveränen Republik im Juni 1991 ist für Vincenti Tengerekow ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Mit dem Referendum sollen alle diese Widersprüche jetzt neu gebündelt werden. Die positivste Variante dessen, was geschehen könnte, übermittelte Oleg
Woronin, ebenfalls aktuell per Telefon, aus Irkutsk:

take 22: O-Ton Oleg Woronin, Telefon:

Regie: O-Ton kurz stehenlassen, dann abblenden, unterlegen.

Übersetzer:“Die Reformen gehen nicht vom Fleck. Einzig in der             Privatisierung passiert überhaupt noch etwas. Deshalb scheint es mir jetzt einfach notwendig, daß sie schneller vorangebracht werden. Das kann aber nur eine normale Macht und nicht das, was uns da aus der Vergangenheit zurückgeblieben ist.“

Erzähler: Ob die Bevölkerung diesen Auftrag, eine „normale             Macht“ zu bilden, am kommenden Sonntag formuliert, bleibt abzuwarten. Was dann geschieht, ist offen. Denn was unter den Bedingungen der russischen Krise unter einer „normalen Macht“ zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.

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