In St. Petersburg hält man Moskau für ein zu groß geratenes Dorf. Michail Gorbatschow, dessen Heimatort Stawropol schon zum Süden der ehemaligen Union zählte, musste sich vorrechnen lassen, wie viele grammatische Fehler und „nicht-russische“ Redewendungen er sich während seiner Reden zuschulden kommen ließ. Die Kaukasier gelten als „Tschornie“, Schwarze, inzwischen auch schlicht als Mafiosi. Von allen übrigen Völkern, den Wolga-Anrainern nicht anders als den Asiaten und den sibirischen Ureinwohnern, erfährt man in St. Petersburg vor allem eins – dass sie „nje kulturni ludi“, Leute ohne Kultur seien.
Moskau unterscheidet sich von St. Petersburg dadurch, dass man die Stadt an der Newa für ein Kunstprodukt hält, das in dem Sumpf, aus dem Peter I. es vor zweihundert Jahren stampfen ließ, am besten wieder versänke. Ihre Bewohner gelten den Moskowitern als Kulturchauvinisten, die sich auf ihre Westnähe allzu viel einbilden.
Nowosibirsk, nach Moskau und St. Petersburg die drittgrößte Stadt der russischen Föderation und die größte der sibirischen Russen, hat sich als einzige Stadt neben ihren Vorbildern im europäischen Russland eine Metro bauen lassen, die ihren Anspruch, ebenfalls unter die Zentren gerechnet zu werden, unübersehbar dokumentiert. Im übrigen geben sich die Sibiriaken russischer als die europäischen Russen. Ohne sie, so das Selbstverständnis der Sibiriaken, wäre Sibirien noch heute nichts anderes als eine von Reiternomaden durchzogene Steppe und einsamen Eskimos besiedelte und Schneewüste .
Dies alles scheint nicht mehr als gewöhnlicher Lokalpatriotismus zu sein, wie man ihn an jeder Ecke der Geschichte dutzendweise zu sehen gewohnt ist, lediglich ein wenig auf die Dimensionen des russischen Raumes hochgerechnet. Da kann es geschehen, dass schon der Lokalpatriotismus chauvinistische Züge gewinnt. Auch dies wäre nichts Außergewöhnliches. Was also zeichnet den russischen Chauvinismus so aus, dass man sich besonders mit ihm beschäftigen müsste?
Die aktuellste Antwort darauf fand ich bei Alexander Prochanow, dem Herausgeber der Zeitung „Djen“, Organ der „duchowni opposizii“, der höheren Opposition, wie sie sich selbst nennt. Er ist zugleich der ideologische Kopf der „Nationalen Rettungsfront“, der Sammlungsbewegung der neuen russischen Rechten. Mit 150.000 Auflage gibt „Djen“ den Kadern dieser Bewegung, vor allem in den Zentren, aber auch in größeren Städten der übrigen russischen Föderation die wöchentlichen Stichworte. „Ich sage Ihnen“, erklärte er mir in seiner Moskauer Redaktion unumwunden, „ich bin ein traditioneller russischer Imperialist. Für mich ist Russland im Ideal ein eurasischer Staat, in dem die Regulierung und Gleichgewichtsform einer Vielzahl von Völkern verwirklicht wird. Das zentrale Volk, der Regulator, ist das russische Volk, denn es ist das größte und das kommunikativste. Und sie leben überall. Die heutige russische Föderation ist ein Stumpf, eine Sinnlosigkeit, nonsens. Es kann kein Russland geben, in dem dreißig Millionen Russen jenseits seiner Grenzen leben.“ Das soll heißen: Wo im euroasiatischen Raum Russen leben, da ist auch russisches Herrschaftsgebiet.
Vier Elemente fallen am russischen Chauvinismus auf:
Erstens: Seine materielle Basis liegt in der Besonderheit des Raums zwischen Europa und Asien: Die Weite, die Grenzenlosigkeit, der unermessliche Reichtum des Raumes ließ das „Prinzip Landnahme“ zum vorherrschenden Entwicklungsprinzip werden. Wo sonst auf der Welt hätte sich der Typ des Bauernnomaden so entwickelt und so lange gehalten wie hier? Für ihn wurde nicht Kultivierung und Intensivierung des Bodens und die Herausbildung verfeinerter Vorratswirtschaft, sondern das Weiterziehen in neue Landstriche, die ewige Kolonisierung Grundlage seiner Entwicklung. Die Notwendigkeit, in der unermesslichen und feindlichen Weite einen Stütz- und Orientierungspunkt zu schaffen, ließen andererseits erst die Kiewer Rus, später Moskowien, dann Russland entstehen. Die Sowjetunion setzte das Erbe unter anderen ideologischen Vorzeichen fort; durchgehende Linie blieb: Die extreme Grenzen- und Maßlosigkeit bringt als ihre Gegenbewegung den ebenso extremen Zentralismus hervor.
Davon untrennbar ist der zweite Aspekt, der historische: Prochanow begründet seinen Anspruch auf Führerschaft durch die Russen nicht rassistisch, sondern territorial, glatterdings imperial. Er steht mit dieser Begründung nicht allein: In Nowosibirsk antwortete mir der stellvertretende Ottomane der dortigen Kosaken, die ja immerhin das Imperium in den Grenzen von 1914 verteidigen wollen, auf meine provozierende Frage, ob ich denn auch Kosake werden könne, wenn das Kriterium der Mitgliedschaft nicht Blutszugehörigkeit sei: Ja, das könne ich, wenn ich mich nur bereiterkläre, das Imperium gemäß ihrer Statuten zu verteidigen. Die Mitgliedschaft sei keine biologische, sondern eine geistige Frage, eine des Bewusstsein, der Entscheidung für eine Gemeinschaft.
Die Gründe für diese Haltung liegen tief: Schon die Kiewer Rus, also das erste russische Reich, begründete sich nicht aus der Blutszugehörigkeit, sondern aus der militärischen Gefolgschaft. Rus war identisch mit Herrschaft, nicht etwa mit ethnischer Zugehörigkeit zu den Slaven. Nicht von ungefähr leitet die älteste russische Chronik die erste Staatsgründung nicht aus Blutsrecht her, sondern aus Herrschafts- und Schutzakten fremder Militärgenossenschaften, nämlich der im neunten Jahrhundert aus Schweden kommenden Varäger, auf deutsch auch Wikinger. Auch unter den Moskowitern war das Herrschaftsprinzip innerhalb der eroberten Territorien danach nicht rassische Ab- und Aussonderung, sondern Assimilation, und zwar nicht nur einfache, sondern kollektive, also Eingliederung ganzer Ethnien oder Glaubensverbände – wenn sie die sie Herrschaft anzuerkennen bereit waren. Darin folgte die moskowitische Eroberungspolitik ganz dem Vorbild ihrer mongolischen Gegner. Nicht einmal die Anerkennung des Christentums war notwendig.
Was heißt drittens „duchowni opposizii“? Ein Blick auf die von Prochanow mit herausgegebene neue Theoriezeitschrift der Rechten, „Elemente“, gibt Auskunft: Dort ist auf dem Umschlag der zweiten Ausgabe eine Karte Euro-Asiens zu sehen. In ihrem Mittelpunkt am Ort Moskaus das „dritte Rom“, Ausdruck des spät-byzantinischen russischen Missionsanspruchs gegenüber der übrigen „nicht gäubigen“ oder „falschgläubigen“ Welt.
Dies alles bedeutet: Russisch, das ist keine biologische, russisch, das ist eine Herrschaftskategorie, Herrschaft durch Glaube, Gefolgschaft, Unterordnung. Der „höhere Patriot“ ist der von der kulturellen und geistigen Mission des Moskauer Imperiums als notwendiger Ordnungsfaktor im euro-asiatischen Raum durchdrungene Mensch. Das Kriterium ist Herrschaftsfähigkeit, nicht slawisches, arisches oder sonst wie sauberes Blut. Bezeichnend für diese Tatsache ist, dass die russische Sprache kein Wort kennt, das unserem Begriff des Staates entspricht. Im Russischen gibt es nur „Gossudarstwo“ – Herrschaft.
Dies alles galt schon vor der Revolution von 1917. Und damit komme ich zum vierten Element: Ergebnis der Revolution war eine nochmalige Übersteigerung der russischen in die sowjetische Mission: Führer der Weltrevolution, Schaffung des „homo sowjetikus“, der Glaube, an der Spitze der Menschheitsentwicklung zu stehen. Von der Höhe dieser Illusion sieht die russische Bevölkerung sich nun auf einen der letzten Plätze verwiesen. Für die russischen Chauvinisten ist das Öl auf ihr Feuer. Umso schärfer steht heute die Frage, ob aus dem Zusammenbruch der russisch-sowjetischen Herrschaft ethnische Zerwürfnisse und damit begründet eine Erneuerung des alten Herrschaftsanspruchs erwächst. Dies kann nur Krieg bedeuten. Oder werden die Völker in der Lage sein, neue Regulations-Mechanismen zu entwickeln, die es ihnen erlauben, ihre Konflikte auf friedliche und kooperative Weise direkt miteinander und nicht über „das Zentrum“ vermittelt zu lösen?
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