In Russland wird gekämpft. So viel ist sicher. Aber worum? Und wer kämpft gegen wen? Wer diese Frage aus den Ereignissen auf der Moskauer Bühne beantworten will, kann mit Recht verzweifeln.
Jetzt hat der Kongress der Volksdeputierten die Durchführung des Referendums beschlossen, um das Boris Jelzin seit Wochen kämpft, dies nun aber unter Bedingungen, die der Präsident wiederum auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen lassen will. Beide Parteien werfen sich gegenseitig weiterhin die Verletzung dieser überholten Verfassung und die Aufstachelung zum Bürgerkrieg vor. Morgen sind wieder neue taktische Windungen zu erwarten.
Wenn zudem die Meßlatte westlicher Demokratien angelegt wird, dann können Urteile wie das der „Frankfurter Allgemeinen“ nicht mehr verwundern, die anmerkt, nun sei Russland endgültig auf das Niveau einer Bananenrepublik abgesunken, die aber doch eine atomare Großmacht mit militärischem Zerstörungspotential bleibe. Andere Kommentatoren kapitulieren schlicht vor dem angeblich undurchdringlichen Chaos. Russenangst hält wieder Einzug in westliche Redaktionsstuben.
Heilige Einfalt! Oder böse Demagogie? Wann in der Geschichte wären Machtkämpfe in Moskau nach westlichen Regeln, gar nach den Regeln der heutigen formalen Demokratie abgelaufen? Hat denn irgendjemand ernsthaft geglaubt, die Verabschiedung einer Privatisierungspolitik nach IWF-Vorstellungen, die Ersetzung der Einparteien-Führung durch eine neben den bisherigen Strukturen stehende Administrationslinie und die Umtaufung von Sowjets in Parlamente habe aus der Sowjetunion einen Staat gemacht, der sich nun aus einem industriellen Trümmerfeld wieder in eine Fortschrittsoase verwandeln würde, nur diesmal nach westlichen Modellen?
Dieses Land ist durch und durch – und nicht erst durch die 70 Jahre Kommandowirtschaft unter bolschewistischer Führung – anders strukturiert als seine gegenwärtigen Vorbilder Europa und Amerika. Sein Kollektivismus ist ein struktureller: Das beginnt bei der Clan- und Dorfgemeinschaft, das endet bei der Tatsache des Vielvölkerimperiums, in dem die Vielfalt der Kommunen und Völker in der Weite des Raumes über mehr als tausend Jahre Geschichte durch straffste Zentralisierung und monokulturelle Arbeitsteilung von oben zu regulieren versucht wurde. Dies ist weder durch neue Kommandostrukturen, noch durch Kabinettstricks ersetzbar. Hier müssen Mischformen zwischen dem gewachsenen Kollektivismus und der Verwirklichung individueller Selbstbestimmung von unten gesucht werden. Dabei geht es um Generationen.
So ist es auch nicht nur die Frage eines neuen Wahlgesetzes, wie die Liberalen meinen, mit dem statt nach Betriebskollektiven, gesellschaftlichen Gruppen und Unterschrifteninitiativen nun nach einem formal-demokratischen Wahlrecht gewählt wird. Selbst wenn jetzt auf die Schnelle ein neues Wahlgesetz nach westlichem Muster verabschiedet würde, so fehlt doch das zu diesem Gerippe gehörende Fleisch! Schließlich sind diese kollektiven Mechanismen auch nicht einfach eine ideologische Erfindung der Bolschewiki. Sie haben sie lediglich verstaatlicht und ideologisch dogmatisiert. Das ist schlimm genug, weil es zu Gleichmacherei und Entrechtung der Menschen, ja, sogar zu einer Enteignung von ihren ursprünglichen Formen der Demokratie geführt hat; aber so ist es und nicht anders und nur vor diesem Hintergrund werden die Kämpfe in Moskau begreiflich, mehr noch, die dahinterliegenden Interessen erkennbar.
Schon im Frühjahr 1992 entwarf Boris Kagarlitzki, ein auch im Westen bekannter Reformsozialist, mir ein bedrückendes Szenario: Boris Jelzins „Schockprogramm“, insbesondere die Strategie der Privatisierung, die das Jelzin-Kommando in Verfolgung der IWF-Richtlinien umsetzen wolle, werde sich sehr schnell als nicht durchführbar erweisen. Gegen Ende des Jahres `92, spätestens zum 1. Januar 93, wenn seine Sondervollmachten endeten, mit denen er im August ’91 als Sieger aus dem Machtkampf mit Michail Gorbatschow hervorging, werde die Krise keineswegs, wie versprochen, überwunden, sondern im Gegenteil Jelzin am Ende sein. Die Direktoren der industriellen und landwirtschaftlichen Staatsbetriebe, gestützt auf die von ihnen vertretenen Arbeitskollektive, würden eine Änderung der Politik von ihm erzwingen. Er werde Gaidar fallen lassen müssen. Wenig später werde er selbst gehen und den Platz für Alexander Ruzkoi freimachen oder selbst auf dessen politische Position rücken müssen. Aber auch das werde nur ein Zwischenspiel sein. Am Ende werde so etwas stehen wie der Kriegskommunismus nach der Revolution von 1917, eine nationale Stabilitätsdiktatur, die die Privatisierung der Staatsbetriebe stoppen und im übrigen zur rigiden staatlichen Lenkung der Wirtschaft übergehen werde. Ob dem später eine Demokratisierung folgen könne wie in Chile, sei offen.
Die jetzigen Ereignisse in Moskau erscheinen vor dem Hintergrund dieses und ähnlicher Szenarien, wie eine Aufführung nach Drehbuch. Dass manch einer der Spieler hin und wieder seinen Taxt vergessen zu haben scheint und ein paar Passagen improvisieren muss, ändert an diesem Gang des Stückes nur wenig. Eine Änderung könnte nur von denen erzwungen werden, die man jetzt in der Rolle des Publikums zu halten versucht.
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