„Das Dilemma des Antifaschismus“ – eine Skizze über die ehemalige UdSSR. von Kai Ehlers, Schulfunksendung 2/93

Take 1: O-Ton Demonstration in Moskau
Regie:              O-Ton hart anfahren, kurze Zeit stehen lassen, dann runterfahren, Kommentar darüber ziehen, unterlegen, nach Belieben auslaufen lassen.
gesamt:  4,50

Erzähler:           Moskau, 7.11.1992: Kranzniederlegung am Denkmal Georgi Dimitrows bei der Demonstration zum Jahrestag der Oktober-Revolution in Moskau. Vom Lautsprecherwagen dröhnen die Lieder des traditionellen Antantifaschismus: „bella ciao“, das Lied der italienischen Partisanen und „Die Moorsoldaten“, das Lied der deutschen KZ-Häftlinge.
Geehrt wird, wie der Redner verkündet, „der große Sohn des Bulgarischen Volkes, der Gründer des Antifaschismus“.

Kommentator:        Georgi Dimitrow trug seine Analyse des Faschismus erstmals auf dem siebten Kongreß der Kommunistischen Internationale 1935 vor. Er erklärte Faschismus als die Herrschaft der agressivsten Teile des Finanzkapitals und propagierte die antifaschistische Einheitsfront von Kommunisten, Sozialdemokraten und Bürgerlichen gegen den Faschismus. Seine Theorie wurde zur Grundlage und Richtschnur für die kommunistische Faschismusinterpretation und die historische Forschung in den sozialistischen Ländern. Sie bestimmte auch die Geschichte des deutschen Antifaschismus.

Erzähler:           Träger der Demonstration ist die „Front der                     nationalen Rettung“. Das ist ein Bündnis aus patriotischen, neo-stalinistischen und kommunistischen Gruppen. Unter der Leitparole „Steh auf großes Land!“ wird die Zeit des „großen vaterländischen Krieges“ beschworen, als der Antifaschismus die Klammer war, mit der Stalin das Vielvölkerreich gegen Nazi-Deutschland mobilisieren konnte. Unter der Losung „Verteidigung des Vaterlands des Sozialismus“ wurde Antifaschismus zum Synonym für Prosowjetismus – und dies nicht nur in der Sowjetunion.
Diese Definition galt – übrigens ebenfalls nicht nur dort – noch bis in die Ära der beginnenden Perestroika 1985/86 als offizielle Doktrin. Mit dem Zerbrechen der Union im August ’92 verwandelte sich der frühere offizielle Antifaschismus in eine Ideologie der Rückwendung. Er wurde wurde zum Kampfbegriff für alle diejenigen, die sich gegen die Öffnung nach Westen und den Zerfall des Imperiums wenden, gleich, ob des russischen oder des sowjetischen. Als Faschisten werden die beschimpft, die man für den Zerfall verantwortlich macht: Michail Gorbatschow, Boris Jelzin und ihre westorientierten Parteigänger.

take 2:  O-Ton „Meeting“

Regie:              O-Ton hoch anfahren, Moment stehen lassen,                     dann unterlegen und den Kommentar drüberfahren.

Übersetzer:           „Wir haben hier offenen Verrat“ antwortet diese Frau auf die Frage, warum sie unter einer Parole „Kampf dem Faschismus“ demonstriere, „die Aufgabe des Landes an den Westen.“ Unter dem Diktat des Westens hätten Boris Jelzin, Michail Gorbatschow und ihre Leute das Land auseinandergenommen. „Auseinandergeklaut“, ergänzt der Mann.

Erzähler:   Die Würde des russischen Volkes wollen sie wiederherstellen. Die Sache Stalins fortsetzen.

gesamt: 0,45

take 3 Forts. Meeting

Regie:               Ton hoch zum Stichwort „Schto, we Kremlje…“, kurz anfahren, dann unterlegen.

Übersetzer:          „Was im Kreml? Natürlich ist das                    Faschismus“, sagt dieser Mann, „richtiger Faschismus! Die Verrückten läßt man auf ihren Wunsch aus dem Irrenhaus los. Gangster und Verbrecher spazieren auf den Straßen und bringen das Volk um. Ist das etwa kein Faschismus, wenn man mich dafür, daß ich Russe bin und das auch offen sage, beschuldigt ein Faschist und Chauvinist zu sein!? Das gibt es doch in keinem Land. Das ist Faschismus. Die Alternative muß militärisch sein – eine christlich-orthodoxe Diktatur.“                                                                     gesamt: 0,30

Erklärung:          Solche Sätze fallen schon seit längerem bei Straßenversammlungen von Gruppen, die                    inzwischen zur „Nationalen Rettungsfront“ gehören. In diesem Fall handelte es sich um ein „Miting“, wie die Russen sagen, der „kommunistischen Arbeiterpartei“. Führer der „Rettungsfront“ wie etwa Alexander Prochanow, Herausgeber der Wochenzeitung „Djen“, der Tag, scheuen sich andererseits nicht, den Begriff des Faschismus neu zu interpretieren und in dieser Form für sich in Anspruch zu nehmen:

take 4     O-Ton Alexander Prochanow

Regie:              O-Ton hoch anfahren, dann unterlegen.

Übersetzer          „Die Ideologie, die die auseinanderfallende russische Gesellschaft vereinen kann, enthält zwei Komponenten. Das ist die Komponente der sozialen Gerechtigkeit – das ist die sozalistische Komponente – und die nationale                     Gerechtigkeit, also die nationale Komponente. Das ist also eine zukünftige nationalsozialistische Ideologie oder sozialnationalistische, wie beliebt. Im Kern wird das möglicherweise Faschismus – ohne rassistische Aspekte, natürlich. Innerhalb dieser Ideologie kann es verschiedene Formen der politischen Kultur geben.“
gesamt: 0,36

Erzähler             Im Gegenzug zu dieser, wie es im Lande genannt wird „braun-roten“ Bewegung, deren Führer sich offen zur Widerherstellung des Imperiums bekennen, entstanden seit 88/89 Gruppen in mehreren Städten der Union, die sich selbst antifaschistisch nannten. Das war 1988 die „Soziologische Assoziation“ in Leningrad. Im Februar 1989 gründete sich in Moskau ein „antifaschistisches Zentrum“. In einigen Städten mit starker „braun-roter“                     Aktivität entstanden Ableger. Im Sommer 1992                     brachte die Leningrader, inzwischen St.                     Petersburger Gruppe, eine erstes Journal                     „Barriere“ heraus. Die Moskauer planen eine                     antifaschistische Wochenzeitung.
Praktisch entstanden diese Gruppen als Selbsthilfe jüdischer Intellektueller gegen den organisierten Antisemitismus, der als eins der unerfreulichen Beiprodukte von Perestroika, vor allem in den „Pamjat“-Gruppierungen aufblühte.                         Auch theoretisch definierten diese Gruppen sich im Gegenentwurf zum traditionellen Antifaschismus. So Jewgeni Proschtschetschin, Kopf des Moskauer „antifaschistischen Zentrums“. In einem Heizungskeller der Moskauer Innenstadt, wo er als Dissident eine Arbeit gefunden hatte, erklärte er mir im Sommer 1990:

take 5 O-Ton Jefgeni Proschtschtschin

Regie: O-Ton anfahren, dann unterlegen.

Übersetzer:         Unter Faschismus verstehen wir jede beliebige Form totalitärer, antidemokratischer Diktatur, das heißt: Hitler, Mussolini, Mao-Tse-Tung, Pol Pot, Stalin, Kim il Sung, von denen, die noch leben, sind für uns gleichermaßen Faschisten. Wir geben immer gleich die Definition.
Das antifaschistische Zentrum ist vollberechtigtes Mitglied der „demokratischen Bewegung Rußlands.“ Wir nehmen an Wahlvorbeitungs- und Wahlkampagnen teil, Protesmärschen, Demonstrationen, Versammlungen. Aber wir haben noch eine besondere Aufgabe: Die besondere Aufgabe, über die allgemein demokratische hinaus, ist der ideologische Widerstand gegen die rechte Gefahr, beziehungsweise rechte Organisationen. Unter rechten Organisationen verstehen wir ohne Ausnahme alle Gruppen, die sich „Pamjat“ nennen. Davon gibt es viele. Sie mögen sich gegenseitig befeinden. Aber für einen demokratischen Menschen ist der Unterschied zwischen ihnen nicht von Bedeutung. Es ist der Unterschied zwischen stalinschem und hitlerschem Konzentrationslager. Mehr nicht.“
gesamt: 1,35

Kommentator:Der neue Antifaschismus ist allerdings bisher nicht mehr als ein Spiegelbild des alten: Statt pro-sowjetisch definiert er sich anti-sowjetisch. Als Unterscheidungsmerkmal bleibt bisher nur die Haltung zur sog. jüdischen Frage: In den Reihen der traditionellen Antifaschisten hat Judenfeindlichkeit, als Anti-Zionismus verbrämt, ihren festen Platz. Auch dies steht im Erbe der offiziellen früheren sowjetischen Politik. Die neuen Antifa-Gruppen dagegen werden in ihrer Mehrheit von russischen Juden getragen, aus deren Sicht die die neue antisemitische Welle in ihrem Land eine ernsthafte Bedrohung des Weltfriedens ist.

Erzähler:           Im Ergebnis ist die Bezeichnung „Faschist“ zu einem Schimpfwort verkommen, mit dem sich die Parteien gegenseitiog als „volksfeindlich“ zu diffamieren versuchen. Sich als Faschist oder „Antifaschist“ zu bezeichnen oder von anderen so genannt zu werden, sagt nichts mehr über den gesellschaftlichen Standort aus, den eine Person oder Organisation bezieht.
Was bleibt, ist Verwirrung. Was bleibt, ist die Gefahr, daß die Krise auf Kosten der schwächeren sozialen Schichten gelöst und das Imperium mit Gewalt gegenüber kleineren Völkern wiederhergestellt wird. Widerstand dagegen muß sich entwickeln. Aber wenn er sich „antifaschistisch“ nennt, wird er den Inhalt von „Faschismus“ und „Antifaschismus“ neu bestimmen müssen.
*
Bei der St. Petersburger „soziologischen Assoziation“ gibt es erste Ansätze. Dort versucht man der Frage wissenschaftlich nachzugehen. Auf die Frage nach möglichen Zielen eines postsowjetischen Faschismus antwortete mir Valentina Usonowa mir im Winter `92:

take 6: O-Ton Valentina Usonowa

Regie:     O-Ton voll anfahren, dann zurücknehmen und unterlegen

Übersetzer:  „Die eingängige Losung, der Weg, wie der Faschismus sich entwickeln kann, verstehst Du besteht darin, dieses Land wieder an die Arbeit zu kriegen“.
gesamt: 0,08

Regie:  O-Ton unterlegt, darüber Kommentar.

Erzähler:  Valentina definierte auch eindeutig, aus welcher Richtung sie die Gefahr sieht:

Regie:       „Im Prinzip von den Zentralmächten, selbstverständlich. Sie ist nicht bereit, mit den Regionen in eine gleichberechtigte horizontale Beziehung einzutreten. Sie fährt fort zu diktieren. Natürlich ist das nicht mehr lange ertragbar und dann geht es bald los mit der Vernichtung.“                                                                     gesamt: 0,20

Erzähler:   Damit sind die Grenzen bereits gesetzt: Dieser „Antifaschismus“, wenn man es denn so nennen will, wird folgerichtig anti-imperial, antinational, aber  f ü r  den Aufbau selbstbestimmter föderaler wirtschaftlicher, kultureller und staatlicher Einheiten sein.

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