Von der Pyramide über das Labyrinth
Wieviel Chaos braucht der Mensch, um Mensch zu werden?
Frederike Dall Armi, Bewegungs- Sprach- und Musiktherapeutin und
Kai Ehlers, Publizist und Transformationsforscher.
In einer Zeit, in der überkommene Vorstellungen vom Leben radikal in Frage gestellt werden und eine Vielzahl neuer „Modelle“ auf den Menschen einstürzt, wird es zur existenziellen Frage, den eigenen Ort in der Gesellschaft, in der Welt, im Gesamtgeschehen des Universums zu finden. Es geht um persönliche Identität in einer Zeit der Entgrenzung. Es geht um das Recht des einzelnen Menschen und einzelner Gemeinschaften auf ein Leben nach eigener Vorstellung und um die Möglichkeit es zu verwirklichen.
Es geht um die Erhaltung und die Förderung geistiger und physicher Gesundheit des einzelnen Menschen so wie der Gemeinschaft aller Menschen in einer ökologisch gefährdeten Umwelt. Die pyramidale Ordnung der Welt, die seit den Tagen der Pharaonen Schritt für Schritt Oberhand über andere Lebensvorstellungen gewonnen hat, ist heute in die Krise gekommen; Erinnerungen an andere Auffassungen vom Leben steigen aus dem Vergessen der Geschichte und aus dem Unterbewusstsein des einzelnen Menschen auf – labyrinthische.
Das Labyrinth war eine Figur der matriarchalen Gesellschaften, die an der Wiege der Menschheitsgeschichte standen. Pyramide und Labyrinth bilden polare Archetypen menschlicher Entwicklung ebenso wie der uns heute umgebenden Welt. Sie lassen sich in Begriffen wie patriarchal und matriarchal, Statik und Bewegung, hierarchisch und anarchisch und vielen ähnlichen Gegensatzpaaren darstellen. Jenseits von Pyramide und Labyrinth aber, die – bei allen Unterschieden – beide darauf zielen, dem Chaos seine Bedrohlichkeit zu nehmen, ist der moderne Mensch auf dem Weg, die schöpferische Kraft des Chaos zu erkennen und für sich zu nutzen.
„Wieviel Chaos braucht der Mensch, um gesund zu sein?“ fragt der neuzeitliche Arzt, der sich heute von Einseitigkeiten der westlichen Apparatemedizin emanzipieren möchte. Das Studium der Archetypen von Pyramide und Labyrinth, das Aufspüren ihrer Polarität, das Erleben der in ihnen wirkenden Kräfte an der eigenen Person, der spielerische Übergang von einer Figur auf die andere und schließlich das Erlebnis, wie Chaos immer wieder in Ordnung und Ordnung immer wieder in Chaos übergeht, macht die Gesetze der Natur, des Lebens und die Entwicklungslinien menschlicher Kultur erfahrbar, ohne dabei ein neues „Modell“, eine alles erklärende „Methode“ sein zu müssen.
Der spielerische Wechsel vom Pyramidalen zum Labyrinthischen, vom Labyrinthischen zur freien Improvisation bildet die Fähigkeit intuitiven Erkennens heraus und öffnet die Quellen der Fantasie. Das ist die Basis für eine freie und selbstbestimmte Entwicklung und die Voraussetzung dafür, Probleme, Krankheiten und Krisen als Chance für einen neuen Anfang zu begreifen.