Verlag am Galgenberg, Hamburg
1991
224
10,00 €
Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa. Eine Skizze des Übergangs von Michail Gorbatschows Perestroika auf Boris Jelzin Privatisierung.
Das Buch bietet Hintergrundinformationen und Analysen zu dem Putsch vom 19. August 1991, zur Geschichte und dem Wesen der Perestroika, den nationalen Energien des Vielvölkerstaates, zu Antisemitismus und sozialer Verelendung der an die Stadtränder gedrängten Landbevölkerung.
Der Autor Kai Ehlers, der sein Manuskript gerade zum Zeitpunkt des Putsches abgeschlossen hatte, führt durch das Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa.
Ein Buch, das Wissen vermittelt und Möglichkeiten bietet, die Veränderungen in der Sowjetunion besser zu
Vorwort:
Aus aktuellem Anlaß:
Ein gescheiterter Putsch ist noch keine Demokratie.
Am Montag, dem 19.8.91, nur eine Woche nach der fertigstellung des Manuskriptes zu diesem Buch, erklärte ein „Notstandskomitee zur Rettung des Vaterlandes“ den Ausnahmezustand für die UdSSR. Präsident Gorbatschov wurde in seinem Urlaubsort auf der Krim festgesetzt. Die Welt hielt den Atem an. Viele zeigten sich überrascht. Alle westlichen Hilfsprogramme wurden eingefroren.
Nur zwei Tage später war der Putsch gescheitert, waren die Putschisten verhaftet. Einer von ihnen, Innenminister Pugo, beging Selbstmord. Seine Frau wurde nach ebenfalls versuchtem Selbstmord in eine Klinik eingeliefert. Das läßt ahnen, daß nicht nur ein Putsch, sondern mit ihm zugleich Weltbilder zusammengebrochen sind. Nach Litauen erklärten nun auch Letland und Estland ihre Souveränität. Die sovjetischen Gegner der Putschisten, unter ihnen bemerkenswert viele junge Leute, jubelten. Der Präsident der russischen Republik, Boris Jelzin, der den Widerstand geleitet hatte, wurde zum Helden der Nation. Ein von den Ereignissen sichtlich gezeichneter Gorbatschov wurde nach Moskau zurückgeholt, um seine Ämter wieder anzutreten. Nur zwei Tage später war auch das schon wieder Geschichte.
Auch im Westen kannte der Jubel kaum Grenzen. Die Hilfsprogramme liefen wieder an. US-Präsident George Bush erklärte, die USA werde nun zu direkter Finanzhilfe übergehen. Fast gleichlautend ließen die westlichenDiplomaten vernehmen, nun sei auch die Zeit gekommen, die baltischen Staaten diplomatisch anzuerkennen. Man glaubt offenbar, einen wesentlichen Schritt weitergekommen zu sein, was die friedliche Eroberung des ehemals sovjetischen Raums anbetrifft.
Wenn auch mancher demagogische Mißton im Jubel über den „Sieg der Demokratie“ mitschwang, insbesondere in den westlichen Medien, so ist die Freude, insonderheit in der UdSSR, zunächst doch berechtigt. Das Scheitern des Putsches ist ein großer Erfolg für die sovjetischen Völker, insbesondere allerdings für das russische, das mit seinem Präsidenten Jelzin die Spitze des Widerstands gegen die Junta bildete. Zum zweiten Mal in diesem Jahr konnte das sovjetische Volk seine Kraft erfahren. Schon im Frühjahr zwangen Millionen Demonstranten und streikende Bergleute nach den schockartigen Preiserhöhungen vom 1. April ’91 die damaligen Kontrahenten Jelzin, Gorbatschov und weitere Republikführer zu Verhandlungen über einen neuen Unionsvertrag und Zugeständnissen an die Streikenden. In der Wahl Boris Jelzins fand dieses neue Selbstbewußtsein seinen deutlichsten Ausdruck. Mit der Vertreibung der Junta hat die sovjetische Bevölkerung jetzt nicht nur für ihr Land einen Sieg errungen, sondern Hoffnungen und Kräfte für friedliche und demokratische Lösungen der heutigen Weltprobleme insgesamt gestärkt. Das trägt bereits Züge eines Modells: Demokratisierung, statt imperialer Agression. Die Erfahrung dieses Sieges wird das in den letzten Jahren zerrüttete Selbstbewußtsein der sovjetischen Menschen wieder aufbauen. Darauf darf mit recht mehr als ein Wodka gehoben werden!
Aber ein gescheiterter Putsch macht noch keine Demokratie. Offenbleiben muß, ob die Front gegen die Putschisten eher demokratisch oder eher nationalistisch motiviert war. Darüberhinaus sind die Läden leer. Die Ernte muß eingeholt werden. Niemand weiß wie. Wie schon letztes Jahr besteht die Gefahr, daß sie auf den Feldern oder in den Speichern verfault, weil kein Städter die verhaßte Arbeit in den organisierten Erntebrigaden mehr leisten will, weil selbst das, was geerntet wird, angesichts unterwentwickelter Infrastruktur, also schlechter Straßen, zu weniger Transportmittel, eines zerfallenden Verteilungssystems und anderem mehr, nicht an die Verbraucher kommt. Ein Mangelwinter ungeahnten Ausmaßes bedroht die 265 Millionen Menschen des kranken Imperiums, das ein Sechstel des Globus umfaßt. Die Inflation beträgt zur Zeit 90%. Eine absolute Verelendung breiter Teile der Bevölkerung steht bevor. Insbesondere unter den Massen der vor der Landarmut geflohenen, kaum ausgebildeten, durch Perestroika zudem in die Arbeitslosigkeit gedrückten Stadtrandbewohner, der in der UdSSR so genannten „Lumpen“, wächst mit dem Elend der Haß auf das neue System, auf den Kapitalismus, den Westen und seine Marktdemokratie, die nur neue Priviligien für die alten Leute, neue Namen für die alten Verhältnisse bringt. An diesen Problemen hat weder der Putschversuch selbst, noch sein schneller Zusammenbruch irgendetwas geändert. An diesen Problemen gemessen, wurden bisher nur Bühnendekorationen verschoben. Das Stück, das gespielt wird, ist immer noch dasselbe. Es heißt: Ersetzung eines bankrotten Systems der sozialen Garantien durch den „wilden Kapitalismus“.
Es scheint, als seien die Putschisten nicht zum äußersten entschlossen gewesen. Einige Merkwürdigkeiten dieses Putsches fallen ins Auge, so vor allem anderen die Versicherung des „Notstandskomitees“, den Perestroikakurs fortsetzen und lediglich „politischen Abenteurern“ das Handwerk legen zu wollen. Die Einschränkung der demokratischen Freiheiten und die Verhaftung von „Extremisten“, auf der Linken, versteht sich, war denn auch eine der wenigen tatsächlich sofort durchgeführten Maßnahmen. Unter „linke“ sind dabei systemoppositionelle, sozialistisch oder radikaldemokratisch orientierte Kräfte zu verstehen. Im übrigen bemühten sich die Putschisten, das Volk mit wirtschaftlichen Versprechung zu beruhigen. Ihr eigentliches Ziel verrieten sie mit der Erklärung, ihr Putsch diene der „Sicherung der Eigentumsentwicklung“ und der „Verhinderung eines massenhaften Ausbruchs spontanen Unmuts“. Darin wurde ihre Intention deutlich, ein Regime nach dem Vorbild des chilenischen Diktators Pinochet zu installieren, das den Kurs einer autoritären Moderniesierung ermöglicht.
Was immer die geheimen Fäden gewesen sein mögen, an denen für das Zustandekommen dieses Putsches gezogen wurde, so ist doch eines klar: Das „Notstandskomitee“ klagte nur ein, was Gorbatschov, Jelzin und acht weitere Republikchefs Ende April im Rahmen der „Neun plus Eins“-Vereinbarungen ausgehandelt hatten. Von Überraschung sollte jedenfalls niemand reden.
Seit mehr als einem Jahr, genaugenommen seit dem Antritt der „neuen Macht“ nach den unionsweiten Wahlen im Frühjahr/Sommer 1991, mehrten sich unübersehbar die Anzeichen für eine solche Wendung der Perestroika, und zwar unter Gorbatschovs Zutun. Die demokratisch gewählten neuen Machtorgane sahen sich der realen Sabotage durch die alte Staatsbürokratie, die ministeriellen Monopole und die mafiotischen Clanstrukturen auf allen Ebenen gegenüber. Auf der anderen Seite drängte die Bevölkerung auf schnelle Erfolge. In der Praxis folgte dem Machtantritt der neuen Abgeordneten eine tiefe Dessillusionierung der demokratischen Bewegung, sowohl bei den Aktivisten wie auch bei den Wählern. In der Bevölkerung begann sie ihren anfänglichen Kredit zu verlieren. Das böse Wort von der parlamentarischen Schwatzbude machte die Runde. Perestroika, die groß angekündigte Modernisierung, erschien nach den demokratischen Anläufen der Anfangsjahre als bloße Erneuerung, als Positionswechsel der alten Macht, der die Grundlagen der Gesellschaft noch in keiner Weise berührte. So konnte man es angesichts der offensichtlichen Hilflosigkeit der „neuen Macht“ nach den Wahlen von 1990 den ersten Bilanzen enttäuschter Parteigänger Gorbatschovs ebenso wie den Analysen linker Kritiker entnehmen.
Überall an den Spitzen der Joint ventures, der neuen ökonomischen und sonstigen gesellschaftlichen Organisationen von Einfluß erschienen die Mitglieder der alten Nomenklatura zusammen mit einzelnen Perestroikagewinnlern als neue Chefs, während die von Gorbatschov zur Initiative aufgerufenen mittelständischen Schichten der Betriebsdirektoren, der Kooperativen, der Genossenschaften und der privaten Bauern in der Entfaltung ihrer Initiativen behindert wurden, um die Entstehung einer neuen unternehmerischen Schicht, die eine Konkurrenz für die Nomenklatura sein könnte, zu unterbinden. Ganz zu schweigen von der Masse der arbeitenden Bevölkerung, die durch Perestroika in wenige besser verdienende Nutznießer und eine zunehmend verarmende, ja der absoluten Verelendung entgegentreibende Mehrheit gespalten wurde.
Mit der sozialen Differenzierung ging die nationale und regionale Hand in Hand. Dabei ist es müßig zu fragen, was Henne und was Ei in diesem Prozess ist. Die nicht nur siebzigjährige, sondern tausendjährige Geschichte des russisch-sovjetischen Imperiums hat nationale und soziale Fragen untrennbar miteinander verknüpft. Der Wunsch nach Loslösung von der Union seitens solcher Republiken wie den baltischen, der armenischen oder der grusinischen, aber auch die Autonomiewünsche innerhalb der RFSSR sind natürlich Ausdruck einer die religiösen und kulturellen Unterschiede gewaltsam nivellierenden imperialen Politik der Vergangenheit. Zugleich schlagen sich darin die Ungleichzeitigkeiten der ökonomischen Entwicklung dieses vielgliedrigen euroasiatischen Raumes nieder, die auch durch die allgemeine Zwangsindustrialisierung unter Stalin nicht aufgehoben wurde. Beispielsweise besinnen sich die baltischen Staaten nicht nur auf ihre nationale Tradition, sondern auch auf ihren in Relation zu den südlichen Republiken größeren nationalen Reichtum, den sie nicht weiter zu ihren Lasten auf die Union verteilt sehen wollen. Vergleichbares gilt auch für die Beziehungen innerhalb der RFSSR. Ökonomische und politische Probleme der Perestroika waren so von Anfang an auf widersprüchlichste Weise untrennbar miteinander verwoben.
Im Sommer letzten Jahres war der Positionswechsel der alten Macht von den früheren auf die neuen Kommandostellen nach gut fünf Jahren Perestroika soweit abgeschlossen, daß die erneuerten alten Herren sich sicher genug fühlten, die zweite Runde der Modernisierung, den Angriff auf die sozialen Grundlagen und Grundrechte der arbeitenden Bevölkerung, einzuleiten. In dieser Frage waren sich zu diesem Zeitpunkt alle Vertreter der herrschenden Kräfte von Boris Jelzin über den damals noch amtierenden Ryschkov, Gorbatschov bis hin zu der Mehrzahl derer, die ihren Präsidenten jetzt entmachtet haben, einig. Uneinigkeit bestand lediglich darüber, wie schnell dies zu geschehen habe und wie weit die Verantwortung dafür angesichts der unberechnenbaren nationalen Dynamik zu dezentralisieren sei. So kam die Verabschiedung des von Jelzin und seinem damaligen Mitstreiter Schatalin vorgelegten „Programm der 500 Tage“, das eine radikale Privatisierung und die Aufkündigung der sozialen Garantien, insbesondere in Form von Freigabe der staatlich subventionierten und gebundenen Preise in einer Schocktherapie nach polnischen Vorbild vorsah, auf Betreiben Gorbatschovs nicht zustande. Aber dies bedeutete nur, daß die darin vorgeschlagenen Maßnahmen im Verlauf des Winters bis zum Frühjahr ’91 nach der Salamitaktik, also Schritt für Schritt und ohne Kontrollmöglichkeit durch das Parlament durchgesetzt wurden. Zum „diki Kapitalism“, dem wilden Kapitalismus, den die Bevölkerung im Herbst ’90 fürchtete, war so – wie man noch wenige Tage vor dem Putsch hören konnte – die „wilde Privatisierung“ hinzugekommen.
Im Moskau des späten Sommers 1990 konnte man allenthalben hören, daß die zweite Phase der Perestroika nicht anders als mit „silnaja ruka“, der starken Faust, erfolgen könne. Das Zentrum zerfalle. In den Republiken setze sich der Zerfall fort. Perestroika habe bereits ins Chaos geführt und drohe in der Anarchie zu enden. Die „neue demokratische Macht“ erschöpfe sich im Geschwätz. Tatsächliche Änderungen fänden nicht statt. Gorbatschov sei machtlos. Die Konservativen hätten kein Konzept. Die Zeit sei reif für Männer wie Pinochet, Bismarck oder den zaristischen Minister Stolypin. Gorbatschov selbst häufte im Verlauf des Herbstes und Winters Sondervollmacht auf Sondervollmacht. Jelzin, damals in der Rolle des Konkurrenten von Gorbatschov, begann einen ähnlichen Weg in der RFSSR, Bürgermeister Sobtschak ihn in Leningrad, Popov in Moskau zu beschreiten.
Nach den trotz allen taktischen Hin-und-Hers dann doch schockartig durchgepeitschen Preiserhöhungen im März ’91 und den Toten in Wilna erreichte die Unruhe in der Bevölkerung mit Demonstrationen, mit den Bergarbeiterstreiks und mit nationalen Protesten erstmalig seit Beginn der Perestroika den Charakter einer Volksbewegung, die über die bis dahin entwickelten Aktivitäten und Proteste der Intelligentsia hinaus ging. Eine Verbindung zwischen demokratischer Bewegung und Arbeiter- sowie Volksbewegung zeichnete sich ab. Dies war Anlaß genug für Gorbatschov, Jelzin und die Führer von weiteren acht Republiken, ihre Rivalitäten zugunsten einer gemeinsamen Befriedungspolitik gegenüber den Massenunruhen aufzugeben und sich in dem sogenannten „Nein plus eins“-Kompromiß für einen neuen Unionsvertrag Ende April ’91 zusammenzuschließen, der die sozialen und die nationalen Probleme wieder regierbar machen sollte.
Es ist Gorbatschov und Jelzin und den mit ihnen sympathisierenden Medien gelungen, den Kompromiß, besonders ihre von daher datierende Zusammenarbeit und die Aussicht auf die schnelle Verabschiedung eines neuen Unionsvertrages, als neue Etappe der Demokratisierung in der UdSSR erscheinen zu lassen. Dem kann zustimmen, wer den Zuwachs an Demokratie an der gelungenen Befriedung von Massenunruhen mißt.
Zum besseren Verständnis des gegenwärtigen Putschversuches muß aber daran erinnert werden, daß dieser Kompromiß als „Gemeinsame Erklärung über unverzügliche Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage im Lande und zur Überwindung der Krise“ das Licht der Welt erblickte. Unter diese Maßnahmen fielen neben der sofortigen Beendigung der Streiks durch Unterstellung der Kohlegruben unter die Verwaltungshoheit der RFSSR die zukünftige Einführung eines „besonderen Regimes der Arbeit“, eine Ausweitung zukünftiger Streikverbots auf praktisch alle Industriebetriebe, sowie die Verkündung des „Endes der Gesetzlosigkeit und des Schlendrians in der Wirtschaft und Verwaltung“. Für die Zukunft wurden Proteste zur Durchsetzung politischer Ziele als nicht legitim erklärt. Die Medien wurden erneut der Zensur unterstellt. Ein Notstandskomitee, dem unter anderen Ministerpräsident Pavlov und Innenminister Pugo angehörten, wurde gegründet, das die Durchführung der Maßnahmen überwachen sollte.
Zwei Wochen später verkündete Ministerpräsident Pavlov ein Anti-Krisen-Notstandsprogramm im Sinne dieser Vereinbarungen. Nach weiteren vier Wochen beanspruchte er Sondervollmachten zur Durchsetzung von Notverordnungen im Rahmen des Programms. Einen Tag danach warfen Verteidigungsminister Jasov, KGB-Chef Krutschkov und Innenminister Pugo dem Präsidenten Gorbatschov namens der erzkonservativen „Sojus“-Fraktion des oberstens Sovjets wegen seines Vorpreschens in Sachen Unionsvertrag Verfassungsbruch vor und pochten auf die Einhaltung der vereinbarten Notstandsbeschlüsse. Demokratische Abgeordnete des obersten Sovjet kritisierten zu dem Zeitpunkt öffentlich die „koordinierte Kampagne“ zum Sturz Gorbatschovs. Gorbatschov selbst wiegelte ab. Pavlovs Verlangen liege ganz und gar auf der Linie der „Gemeinsamen Erklärung“.
Seine Reise zum Londoner Gipfel der sogenannten „G-7“-Staaten unternahm Gorbatschov mit einem einträchtig zwischen ihm und seinem Innenminister ausgehandelten Anti-Krisen-Programm. Erst als Gorbatschov aus London mit leeren Händen zurückkam, weil die „G-7“-Staaten die von ihm angebotenen Maßnahmen für nicht ausreichend erklärten, wurden die Mahnungen zur Einhaltung des Notstandsbeschlüsse vom April drängender. Gorbatschovs Politik der Balance gegen diesen Druck nicht mehr zu halten. Pavlovs letzte Warnung stammt vom 13.8. Er kündigte an, Löhne und Gehälter einzufrieren und warnte zugleich vor einem Machtvakuum, wenn der Zentralregierung durch den Unionsvertrag der Einfluß auf die Wirtschaftpolitik entzogen werde. Jelzin verschärfte die Lage durch seinen Erlaß zum Verbot der Strukturen der KPdSU in den Betrieben. Wenige Tage später verkündete die Junta diese Warnungen als ihr politisches Programm.
Bei genauer Betrachtung ist das Programm der Putschisten nichts anderes als die Verwirklichung des vor wenigen Monaten im „Neun plus eins“-Kompromiß ausgehandelten Notstandsprogramms. Das mag die merkwürdige Unentschlossenheit der Putschisten erklären. Sie waren sich offenbar im Klaren darüber, daß sie nicht die geringste Alternative zum herrschenden Perestroikakurs anzubieten hatten – wenn sie nicht die Schwelle zur Anwendung von Gewalt überschreiten wollten, was sie bisher zusammen mit Gorbatschov, Jelzin und anderen Republikführern trotz aller Notstandsbeschlüsse und Androhung von Repression gegen „Extremisten“ vermieden haben. Aber was hätten sie denn mit Gewalt erzwingen können, außer einer katastrophalen Beschleunigung des Zerfalls der Union, Sanktionen des Westens und ihres eigenen Untergangs? Das scheint angesichts des massiven Widerstands von Seiten der Bevölkerung, der Republiken, aber auch des westlichen Auslands selbst diesen Betonköpfen eingeleuchtet zu haben.
So wenig der Putsch überraschen konnte, so wenig Garantie ist seine schnelle Beendigung für eine weitere friedliche und demokratische Entwicklung in der UdSSR. Nehmen wir Boris Jelzin, der jetzt Herz und Motor des Widerstands zugleich ist. Nehmen wir seinen kürzlich verabschiedeten Erlaß zum Verbot der kommunistischen Parteistrukturen in den Betrieben, von dem manche sogar glauben, er sei der Anlaß für den Amoklauf des „Notstandskomitees“ gewesen. In der politischen Wirklichkeit richtet sich der Erlaß keineswegs nur gegen die alten Strukturen. Er richtet sich, insofern er generell auf ein Verbot kommunistischer Politik in den Betrieben zielt, zugleich gegen die soeben entstehende Opposition der Gewerkschaften und der Arbeiterschaft, die sich in zwar in der Auseindersetzung, aber zum Teil auch aus diesen alten Strukturen heraus entwickelt. In derselben Zeitung, der Moskauer „njesavissima Gasjeta“, vorübergehend durch die Putschisten am Erscheinen gehindert, in der Boris Jelzin vor dem Putschversuch noch sein Eintreten für ein schnelles Verabschieden des neuen Unionsvertrages gegen linke Kritiker verteidigte, wurde in den letzten Monaten unverhüllt der chilenische Weg der autoritären Modernisierung als Lösung der Krise propagiert.
Das Verbot der kommunistischen Partei und die öffentlich vollzogene Demütigung Gorbatschovs, nachdem er sich auch nach dem Putsch noch zur Reformierbarkeit der Partei bekannt hatte, läßt wenig Zweifel an dem Regierungsstil, den Jelzin einzuschlagen gedenkt. Der Auftritt im russischen Sovjet, bei dem er einen verwirrten Gorbatschov vor laufenden Kameras zwang, den Beschluß zum Verbot der KPdSU im obersten russischen Sovjet selbst vorzulesen, erinnert eher an die bekannten Rituale, mit denen ein Despot den anderen ablöst, als an den Antritt eines demokratischen Siegers. Es ist sind selbstverständlich die Folgen der eigenen Taten, die jetzt mit Macht über die kommunistische Partei hereinbrechen. Als Parteisekretär, der selbst nach dem Putsch, die Partei für reformierbar hält, ist Gorbatschov mit verantwortlich. Aber Gorbatschov ist auch das Symbol des demokratischen Aufbruchs. Das gibt dieser Geste Jelzins eine fatale Bedeutung. Sie könnte eine Hexenjagd auf Kommunisten ermutigen, unter deren Vorzeichen all diejenigen verfolgt werden, die nicht einverstanden sind mit dem Kurs der schnellen Kapitalisierung.
Der gescheiterte Putsch wird das Tempo der Kapitalisierung zudem erheblich beschleunigen. Die vorher als autoritär diskreditierte „neuen Macht“ hat durch den Putsch einen befristeten Blankoscheck für ihre Politik erhalten. Selbst die verhaßten Erntezwangseinsätze können nach dem Putsch als kleineres Übel erscheinen. Die neue Entwicklung setzt selbstverständlich auch neue Kräfte frei. Aber in demselben Maße, in dem Jelzin die Kapitalisierung beschleunigt, verschärft er die politischen Konflikte, die jetzt zum Amoklauf der Gorbatschov-Mannschaft geführt haben. Dieselben Leute, die ihm heute zujubeln, werden ihm morgen im Streik, übermorgen in der Forderung nach der Autonomie dieser oder jener Republik entgegenstehen.
Was schließlich erwächst aus der Allianz Jelzins mit den russischen Nationalisten, die jetzt zum Sturz der Putschisten führte? Jelzin hat die rot-weiß-blaue Fahne des vorrevolutionären zaristischen Rußland am Tage des Sieges über die Putschisten zur Fahne der russischen Republik erklärt. Auf der patriotischen Welle für die nationale Widergeburt Rußlands konnte Jelzin den Widerstand gegen den sovjetischen Patriotismus der Putschisten organisieren. Selbst Altstalinisten wie der von seinen patriotischen Auftritten bei Gründung der russischen KPdSU berüchtigte General Makaschov und die von ihm repräsentierten „Pamjat“-Gruppierungen standen in den beiden Tagen des Putsches an Jelzins Seite.
Aber dieselbe Kraft, die heute zum Sieg der Liberalen und Demokraten unter Jelzin führte, kann sich morgen gegen Autonomiebestrebungen innerhalb der RFSSR richten, wenn die Tartarische Republik, die moldavische, wenn die Ukraine oder wenn das westliche Sibirien von der russischen Republik die Unabhängigkeit einfordert, die man jetzt gemeinsam für die russische Republik gegen die Union durchgesetzt hat.
Der Putschversuch vom 19.8.91 hat den Modernisierern eine Atempause verschafft. Die Männer, die das „Notstandskomitees“ bildeten, werden aber, fürchte ich, nicht die letzten sein, die versuchen diesen Weg zu beschreiten. Das Buch, auch wenn es vor dem Putsch recherchiert wurde, liefert Informationen, Einblicke, Hintergründe, warum das so ist.
Kai Ehlers, 25.8.91
Eintritt in das Labyrinth
Wer vor Deklarierung der Perestroika in die Sovjetunion fuhr, sah sich mit Parolen konfrontiert, die den Menschen die Planbarkeit der Geschichte verkündeten. Wer heute ins Labyrinth der Perestroika reist, begegnet dem Wort „Putj“, Weg, Methode, die Art, etwas anzufassen, im Alltag auch Vorteil, Nutzen oder gar Sinn. Einer Person zu sagen, sie tue etwas „bes puti“, heißt, ihr zu sagen, daß ihr Tun sinnlos, vergebens, umsonst sei. Allenfalls „nikto nje snajet“, das weiß niemand, und „nitschevo“, was soll’s, können es in den heutigen Gesprächen zur Lage noch mit dem neuen Wort aufnehmen.
Aus der Illusion des monolithischen staatssozialistischen Weltbildes treten die widersprüchlichen Bestandteile der Realität inzwischen Stück für Stück hervor. Gorbatschov hat das Prinzip von Versuch und Irrtum in der sovjetischen Politik wieder hoffähig gemacht. Jetzt konkurrieren die verschiedenen Wege: Der sozialistische Weg ist diskreditiert. Nichtsdestoweniger wird er eifrig propagiert. Gorbatschovs Weg des „Neuen Denkens“ ist an die Grenzen der innenpolitischen und außenpolitischen Realität gestoßen. Inzwischen steht Jelzins Name für den Weg der schnellen Kapitalisierung, des Liberalismus. Andere, die auch Jelzins Beschleunigungskurs schon jetzt für gescheitert halten, zumindest dessen Scheitern erwarten, wenn er seine Versprechungen wahr machen muß, suchen nach Wegen zwischen Sozialismus, Perestroika und Kapitalismus.
Am Ende aller dieser Wege steht die Hoffnung auf Wiedergeburt der mit dem Zusammenbruch des sovjetischen Imperiums verlorengegangenen Identität. Das gilt für Russen nicht anders als für andere Völker der UdSSR, für Städter wie für die Landbevölkerung, für Arbeiter wie für Intellektuelle. Es gilt für Jelzin nicht anders als für Solschenizyn. Es gilt für die extreme Linke ebenso wie für die extreme Rechte.
Gorbatschov hielt es für notwendig, in seiner Osloer Nobelpreisrede von Juni 1991 daraufhinzuweisen, daß zwar niemand in der Lage sei zu beschreiben, was Perestroika schließlich bewirke. Aber sie werde sicherlich nicht nur eine Kopie von irgendetwas herstellen. Die Sovjetunion werde ihre Identität bewahren! Vor allem sei es „unmöglich, sich der tausendjährigen Vergangenheit des Landes zu entledigen“.
Aber so geschlossen das vorherige Weltbild war, so offen ist heute die Frage, was wiedergeboren werden soll, wichtiger noch, was tatsächlich wiedergeboren wird. Der Leninismus? Der Stalinismus? Die unvollendete bürgerliche Revolution von 1917? Was heißt Wiedergeburt der Nationen, insbesondere Rußlands, gar des Zarismus? Was bedeutet Wiedergeburt der Bauernschaft, der Städte, der Kultur, der Kirche, der Moral, der Person? Erwartet uns die Wiederbelebung, vielleicht die Weiterentwicklung der Ideale der französichen Revolution, ein Anstoß zur Erneuerung der Würde des Menschen, wie viele es hoffen? Oder droht eine nationalistische, chauvinistische, rassistische Rückbesinnung auf vorindustrielle Verhältnisse und daraus resultierend Diktatur, Bürgerkrieg, ein sovjetischer Nationalsozialismus, vielleicht sogar Weltkrieg, wie es manche befürchten?
Drei Monate lang bin ich dieser Frage im Herbst 1990 in Gesprächen mit Menschen unterschiedlichster sozialer Schichten, politischer Gruppen, Alters und Geschlechtes in Leningrad, Tallin, Tscheboksary an der Volga, Moskau in kleineren Orten in der Provinz nachgegangen, nachdem ich schon im Vorjahr Recherchen zu diesem Thema in Leningrad angestellt hatte. Über diese Gespräche berichtet dieses Buch. Es kann nur eine Annäherung sein, eine Anregung, sich selbst auf den Weg zu den Menschen zu begeben, die die Krise des Sozialismus heute ebenso exemplarisch zu bewältigen haben, wie sie vorher versuchten, den Sozialismus exemplarisch aufzubauen. Im Zentrum dieses Labyrinths können wir auch unsern eigenen Fragen begegnen.
Nach dem Unionskompromiß und der Wahl Jelzins zum Präsidenten Rußlands im Juni 91 sind diese Fragen drängender als zuvor. Denn was geschieht, wenn Jelzin seine Versprechungen einlösen muß? Welche Orientierung werden die Menschen der UdSSR akzeptieren, wenn nach der Illusion des Sozialismus, dann nach der seiner demokratischen Erneuerung schließlich auch die eines liberalen Kapitalismus platzen sollte?
Kai Ehlers, 1.8.91