Vorspann:In Rußland läuft nicht mehr alles so, wie die Befürworter einer schnellen Reform und ihre westlichen Berater sich das 1991 gedacht haben. Das gilt vor allem für die Landreform. Neuester Ausdruck ist ein „Ukas 96“ des Ministerpräsidenten Tschernomyrdin vom März dieses Jahres. Formal handelt es sich bei dieser neuen Verordnung nur um ein Durchführungsgesetz zur Privatisierung auf dem Lande. Faktisch allerdings schreibt die Verordnung fest, daß Mitglieder der in Aktiengesellschaften umgewandelten Kollektivbetriebe nur dann von ihrem Recht auf private Nutzung ihres „Pais“, das heißt ihres Anteils am gemeinschaftlichen Vermögen und Land, Gebrauch machen dürfen, wenn sämtliche übrigen Aktionäre dazu ihre Zustimmung geben. Sind damit die Reformen gestoppt? Kai Ehlers versucht dieser Frage nachzugehen.
O-Ton 1: Akkordeon auf dem Roten Platz
Regie: Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegt halten
Erzähler:Oktober 1992. Tag der Revolution. Die Opposition sammelt sich zum Marsch auf den Roten Platz. Die Auseinandersetzung um die „Schocktherapie“ der Regierung Jegor Gaidars hat den ersten Höhepunkt erreicht. Man agitiert gegen wilde Privatisierung, gegen die Preisfreigabe, gegen den Zerfall der Union und gegen Jelzins westliche Ratgeber. Im Mittelpunkt steht die nach wie vor ungelöste Bodenfrage:
O-Ton 2: Agitator auf dem Roten Platz (… „pri sowjetski wlast)
Regie: Verblenden, langsam kommen lassen, nach dem Stichwort „Präsidjent“ noch kurz stehen lassen, dann allmählich abblenden
Übersetzer: „Ein Präsident, der Land kaufbar macht, verletzt die Verfassung. Kauf und Verkauf von Land ist ein Verbrechen.“
Erzähler:Gegner und Befürworter der Privatisierung von Grund und Boden stehen sich in diesem Sommer `92 hart gegenüber: Im Regierungsprogramm wird erklärt, daß die erste Etappe der Privatisierung bis Anfang 1993 abgeschlossen sein soll. Diverse Dekrete Präsident Jelzins zur Bodenreform sorgen für entsprechenden Druck, nachdem frühere Erlasse aus der Zeit Gorbatschows steckengeblieben sind. Die Kollektiv-Betriebe sollen entstaatlicht und in Aktiengesellschaften umgewandelt werden. Jeder Anteilseigner soll berechtigt sein, sich seine Anteile direkt aushändigen oder in entsprechendem Geldwert auszahlen zu lassen. Grundstücke für private Nebenwirtschaften, Kleingärten und Wohnungsbau auf dem Lande sollen kostenlos zur Verfügung gestellt werden.
Bis zum Ende des Jahres erwartet die Regierung die Gründung von rund 400 000 privaten Höfen. Mit 16 Millionen Hektar sollen sie rund 7% der insgesamt 220 Millionen landwirtschaftlicher Nutzfläche bewirtschaften und so die Landwirtschaft modernisieren. Der Anteil der privaten Nebenwirtschaften sprang schon von 1991 auf 1992 mit 40 Prozent geradezu explosionsartig in die Höhe.
Gemeinschaftsaufgaben wie Schaffung von Wohnraum, wie Straßenbau, wie das Energie-, Wasser und Gasversorgungssystem sowie das Fenrsprechnetz, für deren Pflege früher die Sowchosen und Kolchosen zuständig waren, sollen an die „neue Macht“übergeben werden, also an die dem Präsidenten direkt unterstehenden Administratoren der Dörfer, Bezirke und Verwaltungseinheiten .
Eine grundsätzliche Entscheidung zur Frage des Privateigentums an Land, also eine Veränderung der Verfassung, steht noch aus. Den schnell erlassenen Dekreten fehlen ausgearbeitete Durchführungsgesetze. Trotzdem geht die Mehrzahl der kollektiven Betriebe im Laufe des Jahres 1992 daran, sich als Aktiengesellschaft umregistrieren zu lassen, allerdings ohne recht zu verstehen und ohne innere Beteiligung. Typisch für diese Haltung ist Fjodor Soloteika. Er ist Vorsitzender der Agrarverwaltung von Bolotnoje. Das ist ein sibirischer Landkreis nördlich von Nowosibirsk. Damit ist er verantwortlich für die Privatisierung von mehr als 150 Betrieben:
O-Ton 3: Fjodor Soloteika in Bolotnoje (… Ja tschitaju)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer: „Ich denke, es wäre nötig gewesen, die Leute besser vorzubereiten. Offen gesagt, wir haben jetzt zwar schon zwei AGs eingerichtet, aber viel haben wir da nicht erreicht. Die Leute verstehen das nicht richtig. Ihre Beziehung zur Arbeit ist wie früher. Der Arbeiter sieht nicht, daß das jetzt sein Anteil ist. Er sieht nicht, daß er jetzt Herr ist auf dem Land. Meiner Meinung nach geht das alles zu schnell. Aber was soll man sagen? Anordnung ist Anordnung, die muß man befolgen.“
Erzähler:Was Soloteika vermißt, sind Einzelanweisungen, die nicht nur postulieren, daß das Gemeinschaftsvermögen aufgeteilt wird, sondern auch wie! Wie sollen die Maschinen aufgeteilt werden? Wie sollen Korn, Milch, Fleisch weiterverarbeitet werden, wenn die bisherige kollektive Organisation aufgelöst wird? Fjodor Soloteika zuckt mit den Schultern. Im Konkreten läuft alles wie früher, heißt das, nur schlechter.
„Morskoje“ ist ein weiteres Beispiel. Es ist eine stadtnahe Sowchose am Rande von Nowosibirsk. Über der Eingangstür ihres Verwaltungsgebäudes prangt nach wie vor in dicken roten Lettern, wenn auch ein wenig verschlissen die Parole: „Das Leben – ein ökonomisches Experiment!“. Unter diesem Motto hat man auch die Privatisierung begonnen:
O-Ton 4: In der Sowchose Morskoje (Experiment, Experiment …)
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer:“Ein Experiment, sonst nichts. Jede neue Form der Bewirtschaftung ist für uns ein Experiment. Das schließt das Erproben neuer Gesellschaftsformen mit ein, egal welche. Jetzt probieren wir es eben so. Wir haben hier 19 Höfe. Damit liegen wir an der Spitze.“
Erzähler: Als der junge Direktor erzählt, wer die Höfe gegründet hat, wird ein weiteres Problem sichtbar, das der sozialen Differenzierung nämlich: Der frühere Direktor ging allen anderen voran. Er privatisierte als Erster. Es folgten fünf leitende Angestellte, unter ihnen der Hauptbuchhalter. Die restlichen Höfe werden von qualifizierten Facharbeiter geführt. Dazu kommen noch drei oder vier Städter mit Geld. Von ihnen weiß man nicht, was sie mit dem Boden machen wollen. Bisher liegt er brach. Die Rest-Sowchose, nach wie vor für die Versorgung von gut 1500 Menschen verantwortlich, mußte sich mit Leuten aus der zweiten Reihe regenerieren. Der jetzige Direktor ist schon der dritte innerhalb eines halben Jahres.
Der Herbst werde zeigen, meint er, ob das neue Experiment etwas bringe. Und wenn nicht? Dann werde man es beenden, antwortet er ruhig.
O-Ton 5: Privatbauer (…Hunde, „prochaditje“
Regie: Langsam kommen lassen, lurz stehen lassen, abblenden
Erzähler; Die Gorbatskis gehören zu denen, die es gewagt haben. Der Traktor vor der Tür und der Hund im Hof weisen den Weg zum Privatbauern. Im übrigen unterscheidet sich das Gehöft nicht von den umstehenden Blockbauten. Bauer Gorbatski ist stolz auf seine Leistung. Auf die Frage, ob er sich als Bauer fühle, wehrt er jedoch ab:
O-Ton 6: Privatbauer, Forts. (…Da, Fermer, Lachen)
Regie: Bis zum Lachen stehen lassen, dann abblenden
Übersetzer: „Naja, Bauer! Bis zum Bauern ist noch weit. Bauer bist Du dann, wenn alles irgendwie zusammenläuft. Jetzt quälen wir uns erst einmal ab.“
Erzähler: Er klagt über Probleme mit dem Saattrockner. An den kommt er erst heran, wenn das Sowchos-Getreide schon durch ist. So droht ihm sein Korn zu verfaulen. Ähnliche Probleme gibt es mit der Verarbeitung der Rüben, dem Transport seiner Milch. Für alles muß er die Sowchosleitung fragen. Sie behindert ihn nicht, unterstützt ihn aber auch nicht. So sind er und die anderen Privaten immer die Letzten. Für den Erwerb seines kleinen Traktor mußte er bis nach Moskau reisen. Die versprochenen Kredite bleiben aus oder sind nur mit großem Aufwand zu beantragen. Die Nachbarn sind mißtrauisch. Hilfe gibt es nur noch gegen „Butilkis“, Fläschchen, also gegen Wodka oder andere Naturalien. Geld will keiner mehr haben.
Seine Frau versucht den schroffen Eindruck etwas zu mildern:
O-Ton 7: Bäuerin (…Kagda lutsche, interesneje stal….)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzerin:“Aber irgendwie wurde das Leben natürlich trotzdem interessanter. Im moralischen vor allem: Niemand steht über dir, du entscheidest selbst, was morgen ist. Du weißt, was du von deiner Arbeit hast, Du arbeitest für Deinen eigenen Gewinn. Das ist doch schon eine ziemliche Freiheit. Wir hoffen natürlich, daß auch das andere besser wird.“
Erzähler:In der Gemüsebrigade draußen auf dem Feld herrscht eine andere Stimmung: Die Auflösung der Sowchose habe nur Nachteile gebracht, hört man hier: sinkende Löhne, schlechtere Versorgung, Zerfall der sozialen Einrichtungen.
Ob die Privatisierung für sie interessant sei?
O-Ton 8: Gemüsebrigade (… Njet, nje interesno)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
Erzähler: „Nein, nicht interessant“, sagt die Frau. „Wer hat, der kriegt“, grummelt der Mann. „Typ unseres Direktors“, erklärt die Frau weiter. Aber sie, was habe sie schon? Nichts! Die paar Rubel, die sie bekomme, reichten doch nicht, sich so einen Hof zu leisten. Ja, wenn sie Geld hätte, wäre das interessant! Aber so? Mit dem Geld, das sie bekomme, könne sie ja nicht einnmal in die Stadt fahren.
Erzähler: Was sagen die Mähdrescherfahrer? Immerhin gehören sie zu den besserbezahlten Spezialisten:
O-Ton 9: Mähdrescherfahrer (…Haha, …)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer: „Ach, alles Quatsch! Gaukelei! Wie lange haben sie uns den Sozialismus versprochen! Kommunismus sogar! Und jetzt sollen wir Privateigentümer werden. Sofort! Aber nichts ist passsiert, nie! Nur Betrug am Volk, immer wieder. Das ist es.“
Erzähler: Ja, wenn die Regierung helfen würde. Ja, wenn es klare Gesetze gäbe. Wenn man sicher sein könne, daß nicht morgen wieder alles umgedreht werde. Aber man sehe doch, wie die Privaten sich abschinden müßten.
O-Ton 10: Mähdrescher zwei (…eto )
Regie:Kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer: „Das ist wieder so ein Experiment mit dem Volk. Es dreht sich alles im Kreis. Betrüger. Chruschtschow, Andropow, Gorbatschow und jetzt wieder. Wie es bei uns heißt: „Der Fisch stinkt vom Kopf.“
Erzähler: An anderen Orten ist es nicht anders: Die Mehrheit der auf dem Land Beschäftigten kann mit der von oben verordneten Privatisierung nichts verbinden. Sie fürchten um den sozialen Schutz, die das Kollektiv ihnen gibt. Aber selbst unter den Parteigängern Jelzins überwiegen die kritischen Stimmen.
So Adminstrator Scherer, Bürgermeister von Lebjaschewo. Wie alle in diesem Früherbst trifft man ihn in seinem privaten Kartoffelfeld an. Als Vertreter der „neuen Macht“ ist er im Dorf für die Durchführung der Privatisierung verantwortlich. Er weiß also, wovon er spricht:
O-Ton 11: Admionistrator Scherer (… setschas katastrophitschnaja)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer:“Wir haben eine katastrophale Situation. Die Sowchosen zerfallen, die Privaten bringen nichts. Die Infrastruktur zerfällt. Die Wege verrotten. Niemand will mehr arbeiten, alle wollen irgendetwas erhalten. So kann man keine Reform machen: Verordnen, aber dann die Mittel nicht geben! Dekrete erlassen, ohne zu sagen, wie sie umgesetzt werden sollen. – Aber so war es immer in Rußland. Es wird abgerissen, bevor aufgebaut wird. Und jetzt steht wieder die typische russische Frage: Was tun? Wenn nicht bald etwas geschieht, wird es das Ende der Reform sein. Niedergang. Hunger.“
Erzähler In der Weiterverarbeitung ist es nicht besser. Besonders deutlich wird das in entlegeneren Gebieten. Edmund Voll, ein Deutsch-Russe, ist Direktor des „Butter-Käse-Kombinats“ in Gorno-Altai. Die Republik liegt an der Südflanke Sibiriens im Dreieck zwischen Kasachstan, Mongolei und Sibirien. Der von Edmund Voll geleitete Betrieb hat das Monopol für Milchverarbeitung in einem Einzugsbereich, der halb so groß ist wie Deutschland. Gorno-Altai ist zudem noch durch Gebirge in schwer zugängliche Täler zerklüftet. Auf die Frage, wie es bei ihnen mit der Privatisierung stehe, antwortet er:
O-Ton 12:Edmund Voll (…Chotsche jest)
Regie: Stehen lassen bis zu seiner eigenen deutschen Übersetzeung. Danach abblenden
Originaltext „Wollen schon, aber können nicht.“
Erzähler: Das Problem liegt in der Monopolstruktur. Sie hat dazu geführt, das es in den Dörfern praktisch keine Möglichkeiten der Weiterverarbeitung gibt. Es existieren nicht einmal ausreichende Kühlmöglichkeiten. Soweit es die Milchwirtschaft betrifft, wurde die gesamte Infrastruktur des Gebietes, einschließlich der Transportwege und -Mittel, früher vom Kombinat unterhalten. Eine Privatisierung würde praktisch bedeuten, daß die Milch entweder in den Dörfern bleibt und dort verkommt oder über Zwischenhändler abgeschlagen werden muß. Die aber drücken die Preise den Bauern gegenüber, dem Kombinat gegenüber treiben sie sie hoch. Die fertigen Produkte, früher zu festen Kontingenten nach Moskau oder in andere Zentren abgesetzt, müssen dann noch einmal durch die Mühle des Zwischenhandels. Dazu kommen die steigenden Transportkosten. Dies alles läßt die Endprodukte so teuer werden, daß sie nicht mehr konkurrenzfähig sind. Importbutter ist billiger.
Einen Ausweg sieht Edmund Voll nur in der Schaffung kleiner Einheiten der Weiterverarbeitung: Molkereien, Käsereien nach deutschem oder schweizer Muster. Nötig ist seiner Ansicht nach auch die Entwicklung eines eigenen Binnenmarktes in der region und die Aufnahme eines eigenen Handels mit den Nachbarn. Aber wie? Für das eine fehle das Geld, für das andere die politische Mögichkeiten. Nach wie vor laufe doch alles noch über Moskau und auch im Westen habe er keine konkrete Unterstützung für seine Vorstellungen gefunden. Also werde man wohl weiter machen müssen wie bisher. Der kleine Mann hebt hilflos die Hände.
Bei Vincenti Tengerekow bekommt die Kritik allgemeinere Züge. Tengerekow ist stellvertretender Direktor des agrar-industriellen Komplexex in Gorno-Altai. Auch er ist im Prinzip für die Reform der Landwirtschaft. Auch er ist für die Steigerung ihrer Produktivität. Die aktuelle Agrarpolitik der Regierung jedoch hält er für kurzsichtig und inkompetent: Der amtierende Sonderbeauftragte für Landwirtschaft, Alexander Ruzkoi, zu dem Zeitpunkt noch Partner Boris Jelzins, entlockt ihm nur noch Sarkasmus:
O-Ton 13: Vincenti Tengerekow, Agro-Zentrum Altai (…tosche samije)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer: „Jetzt wieder mit Ruzkoi. Ein General! Ein General kümmert sich jetzt um die Landwirtschaft! Früher, bei Gorbatschow waren es Geografielehrer, die sich mit Landwirtschaft befaßten, jetzt ist es ein Militär! Der schickte einfach ein Telegramm: `Bis zum 1. Oktober sind Kolchosen und Sowchosen umzunenennen!‘ Und so spult sich das dann ab: Man bildet kleine Betriebe, AGs, private Bauernstellen.“
Erzähler: Aber was fehle, so Vincenti, sei eine Selbstorganisation der Betriebe von unten auf Basis einer breiten Demonopolisierung. Die bloße Auflösung der alten Strukturen könne das nicht ersetzen. Das sei blanke Anarchie, von der allein die Mafia profitiere.
Tengerekows Erwartungen in den Erfolg der Reformen sind düster:
O-Ton 14: Vincenti (…Mi)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer: „Wir haben schon viele Reformen überlebt. Sie gingen allerdings immer auf Knochen der Bauern. So auch diesesmal. Auch diese Reform, die der Soldat jetzt durchführt, lastet schwer auf den Bauern: Die Bauern sind ohne Schutz. Andere können streiken – der Bauer kann das nicht. Die Industrie kriegt ihre Preise – der Bauer kriegt sie nicht. Das ergibt eine Disbalance. Man braucht aber eine Balance der Preise zwischen Industrie- und landwirtschaftlichen Produkten. Das ist nur mit Subventionen erreichbar – wie überall auf der Welt, wenn man die Bauern nicht zum Aufruhr treiben will. Stattdessen werden jetzt noch Steuern erhoben und die Zinsen für die Kredite erhöht. Das kann nicht gutgehen.“
Erzähler:In Moskau bemühte sich derweil eine Komission des obersten Sowjet darum, die vereinzelten kritischen Stimmen zu einer Alternative gegenüber der herrschenden Agrarpolitik zusammenzuführen. Vertreter unterschiedlichster Organisationen stimmten darin überein, daß Privatisierung allein nicht eine tiefgreifende Agrarreform ersetzen könne, sondern daß Kriterien und Wege für eine effektive und zugleich gerechte Neuverteilung des Landes gefunden werden müßten. „Land nur an die, die darauf arbeiten“ hieß die Formel, auf die man sich in gemeinsamen Kommuniques einigen konnte. Völlige Ratlosigkeit aber zeigte sich an der Frage, wie diese Neuverteilung konkret organisiert, wie und von wem sie kontrolliert und wie sie schließlich gegen Mißbrauch von Spekulanten gesichert werden könne.
O-Ton 15:Vor dem Haus der Sowjets in Nowosibirsk (…Uwaschaemi Deputati)
Regie: O-Ton langsam kommen lassen, abblenden, unterlegt halten
Erzähler: Ein Jahr danach. Vor dem Haus der Sowjets in Nowosibirsk. Rechte agitieren gegen die Agrarpolitik der Regierung. Aus einzelnen kritischen Stimmen des Vorjahres ist eine Bewegung geworden, auf die die offizielle Politik eingehen muß, wenn sie den Rechten nicht das Feld überlassen will. Mit einer Sitzung zur Agrarfrage soll die politische Saison eröffnet werden. Die Befürchtungen vom Vorjahr haben sich bewahrheitet: Zwar wuchs der Anteil privater Produktion im Verhältnis zur kollektiven. Die angepeilte Marge von 400 000 Bauernwirtschaften konnte jedoch nicht erreicht werden. Und statt zu steigen wie versprochen, fiel die Agrarproduktion 1992 bei privaten und kollektiven Betrieben insgesamt um 9 Prozent.
In der Kartoffelernte lagen die Privaten mit 1 Prozent sogar ganz unten. Eine Steigerung der Kartoffelernte gab es dafür auf den Hofland- und Gartenparzellen: Deren Anteil an den Flächen für Kartoffelanbau stieg von 1990 auf 1992 um gut die Hälfte. 77 Prozent aller Anbauflächen für Kartoffeln waren 1992 Garten- und Hofland. Darauf wurden über 80% aller Kartoffeln geerntet. Das zeigt deutlicher als jede andere Zahl: Die Bevölkerung ist zur Eigenversorgung auf Subsistenzbasis übergegangen. Das ist eine Struktur, wie sie bis dahin vor allem aus Ländern der früher sogenannten dritten Welt bekannt war.
O-Ton 16:Im Foyer (Foyergemurmel, „u nas…“)
Regie: Ton lansam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden
Erzähler: Auch drinnen hält man mit seiner Meinung nicht zurück: „Besser leben“ antworten zwei städtische Abgeordnete auf die Frage, worum es für sie gehe. Für die Dörfler dagegen gehe es um alles. Wenn ihnen jetzt nicht geholfen werde, werde es eine Katastrophe geben: Hunger, Bauernaufstände, auch eine neue Revolution sei möglich. Zentrale Subventionen will man sehen, um die Preisschere auszugleichen. Den Spekulanten im Zwischenhandel soll das Handwerk gelegt werden. Ein eigener Zugriff auf das örtliche Budget wird gefordert, um die Kosten der Reformen vor Ort bestreiten zu können, außerdem eine einmalige Unterstützung, um die bevorstehende Ernte einzuholen.
Die Vertreter der Regierung greifen alle Forderungen auf – und wenden sie gegen Moskau. Damit ist der Agrarkonflikt, der sich bisher zwischen westorientierter Reform-Bürokratie und den konservativeren Kreisen des obersten Sowjet bewegt hatte, zum Konflikt zwischen Moskau und seinen Republiken angewachsen.
0-Ton 17: Werkhalle Sowchose „Sibir“ (…Türenkalppen, Annäherung, Hämmern, ..och, charoschewa)
Regie: Ton langsam kommen lassen, unterlegen, beim Stichwort „oh, charoschewa“ hochziehen, bis zum Ende stehen lassen.
Erzähler: Für die Probleme in der „glubinkje“, im tiefen Land, wie es in Rußland heißt, ist dies keine Lösung. Es verschärft die Lage eher noch. Ein neuerlicher Besuch im Bezirk Bolotnoje läßt keinen Zwiefel mehr offen. In der ehemaligen Sowchose „Sibir“ weit im Norden, jetzt auch eine „AG“, wo das Ackerland für hunderte von Kilometern in die sibirische Taiga übergeht, ist der Verfall nicht mehr zu übersehen: Schutt und Schrott, wohin das Auge schaut. Die Stimmung ist nicht mehr zu unterbieten. Auf die Frage, was sich mit der Privatisierung geändert hat und was sie mit ihrem Anteil jetzt anfangen wollen, antworten die Arbeiter in der Maschinenhalle:
Übersetzer: „Oje, nichts Gutes, wirklich! Im ganzen Land Verfall. Die Landwirtschaft hat niemand mehr auf dem Zettel. Unter solchen Umständen kannst Du überhaupt gar nichts kaufen. Das ist alles nur eine Geste, sonst nichts.“
Erzähler:Im Kontor treffe ich fünf Frauen an, die dort, wie sie sagen, nur noch den Mangel verwalten. Über die Versammlung im obersten Sowjet in Nowosibirsk wissen sie bescheid. Das ist ganz in ihrem Sinne:
O-Ton 18: Kontor Sibir (…koneschna eto problem)
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer: „Natürlich, das ist ja ein Problem aller Kolchosen, aller Aktiengesellschaften, sogar auch der Bauern. Es ist das Problem aller auf dem Land Arbeitenden, nämlich: was wird aus dem Land?“
Erzähler: Praktisch alle Produkte, erzählt eine Frau, müssen inzwischen unter dem Gestehungspreis verkauft werden. Dazu kommt noch die Inflation. Unter diesen Umständen sind Brenstoffe für die Erntemaschinen, für Lastwagen, Heizung und dergl. nur noch zu bezahlen, wenn keine Löhne mehr ausgezahlt werden. Selbst dann reicht es nicht mehr. Praktisch ist das der Bankrott. Ohne Gelder von oben wird sich in diesem Jahr nichts mehr bewegen. Die Ernte droht auf den Feldern zu verfaulen. Nur die privaten Grundstücke werden noch bestellt. De facto ist die Sowchose auf Selbsterhaltung heruntergekommen:
O-Ton-19: Kontor Sibir, zwei (..schiwiom na tsch)
Übersetzerin: „Wir leben von dem, was uns die Nebenwirtschaft ermöglicht. Wir haben eigene Milch, eigenes Brot, eigenes Fleisch. Aber generell gesagt: Wir leben nicht, wir vegetieren. Sogar unser Brot backen wir neuerdings selbst.“
Erzähler: Hierin sehen die Frauen das schlimmste Zeichen der Krise. Verständlich, zeigt sich im Ausbleiben der bisher immer noch subventionierten, früher fast kostenlosen Brotlieferungen aus der Stadt doch unmißverständlich, daß der Versorgungsstaat nicht mehr funktioniert. Wo man sich früher durch eine Solidargemeinschaft geschützt sah, ist nun jeder auf sich selbst angewiesen. Kein Wunder, daß die Frauen ihren Glauben an den Sinn der Reformen verloren haben. Sie wollen zurück:
O-Ton 20: Frauen im Kontor, zwei (…abratno)
Regie: Ton kurz stehen lassen, abblenden
Erzähler: „Zurück zu den Zeiten“, sagt eine der Frauen, „als unsere Arbeit noch 150 Rubel wert war.“ „Zurück zum Kollektiv“, ergänzt eine andere, „denn allein wirst Du nichts.“ Die das sagt, ist nicht etwa eine konservative Matrone. Es ist die jüngste und chiqueste der ganzen Runde.
Über die Art der Veränderung bei den Privatbauern läßt Wassiljew Pitschennikow keinen Zweifel. Petschennikow. Er ist Pensionär. Nach 45 Jahren Arbeit in der Sowchose, davon mehr als der Hälfte als Brigadeführer, hat er zusammen mit seinen Söhnen einen Hof aufgemacht. Aber der Enthusiasmus der ersten Tage ist verflogen. Bitter klagt er, daß alle versprochenen Hilfen ausgeblieben seien. Die Kredite seien nicht zu bezahlen. Maschinen müsse er bei der Sowchose leihen. Sein Fazit ist knapp:
O-Ton 21:Bauer Piztschennikow (Wir leben nicht besser…)
Übersetzer: „Wir leben nicht besser, wir arbeiten nur mehr.“
Erzähler:Von fünf Uhr morgens bis in die Nacht seien sie auf den Beinen. Trotzdem reiche es nicht und es sei nicht sicher, ob sie es durchhalten könnten.
Dringend bittet er seinen westlichen Besucher, in Deutschland Sponsoren zu suchen, die an der Unterstützung eines sibirischen Privatbauern interessiert seien. Nur mit westlicher Hilfe könne das Privatbauerntum überleben. Und nur, wenn sie persönlich übergeben werde. Alles, was über Moskau laufe, erreiche ohnehin nie sein Ziel. Die naheliegende Frage, warum er unter solchen Umständen nicht aufgebe, beantwortet in mit dem Hinweis auf seine Söhne und seinen Enkel. Die sollen es einmal besser haben! Aber wollen die das? Zögernd antwortet er, wobei der breite Konjunktiv seine Unsicherheit deutlicher macht als er selbst es wahrhaben will:
O-Ton 22: Bauer Pitschenkikow, zwei (… No, oni.bili)
Übersetzer: „Sie wären einverstanden, wenn es eindeutige Gesetze gäbe. Aber die gibt es nicht. Ich verliere ja nichts als Pensionär, aber wenn meinem Sohn alles wieder weggenommen würde, wie es schon so oft geschehen ist. Das wäre schrecklich.“
Erzähler: Dann aber läßt er seiner Kritik freien Lauf:
O-Ton 23: Bauer Pitschennikow, Ende (…U nas)
Regie: Ganz stehen lassen
Übersetzer:“Bei uns ist es ja so: Heute hü und morgen hott. Heute kommt dieses Gesetz, morgen ein anderes. Verstehen Sie? Keine Beständigkeit der Gesetze!“
Erzähler: Die Unbeständigkeit der Reformen macht auch den örtlichen Verwaltungsorganen zu schaffen. Der Definition nach sind sie Stützen der neuen Macht. Aber hier hat man schon längst vor dem Chaos kapituliert und ist zu alten Methoden zurückgekehrt.
So in Nowobibejewo, einer Waldarbeitersiedlung mit ca. 7.000 Seelen gleich neben der ehemaligen Sowchose „Sibir“. Dort ist der Inhaber der „Macht“, ein junger Mann von vielleicht 30 Jahren, zugleich Vorsitzender des örtlichen Sowjet. Nicht eins der vielen Dekrete werde in den Dörfern umgesetzt, erklärt er. Entschuldigend weist er auf zwei gut ellenbogenhohe Stapel von Papieren auf seinem Schreibtisch: Rechts die Dekrete Jelzins, links die des obersten Sowjet:
O-Ton 24: Nowobibejewo, örtl. Macht (…Nje tolko)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer: „Nicht nur, daß man sie nicht umsetzen kann – man schafft es ja nicht einmal sie alle zu lesen.“
Erzähler: Selbst wenn er es schaffe würde, erzählt der junge Mann weiter, dann fehle das Geld. Sei ausnahmsweise aber einmal Geld vorhanden, dann erwiesen sich die Verordnungen entweder als praktisch undurchführbar oder sie höben sich gegenseitig auf. Das Schlimmste aber sei, daß er keinerlei Kontrolle über die Finanzen habe:
O-Ton 25: örtliche Macht, zwei (…jesli)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer: „Soweit es die Kontrolle der Gelder betrifft, die von oben kommen, geschieht die ohnehin in einer Art und Weise, daß von dem Geld, das verteilt werden soll, überhaupt nichts mehr unten ankommt.“
Erzähler: Aber auch die Profite, die im Dorf gemacht werden, entziehen sich der Kontrolle der neuen Macht. In Nowobibejewo gilt das vor allem für die Frage, wieviel Holz im Wald geschlagen und verkauft wird. Früher wurde das genau überwacht, jetzt herrscht Raubbau. Die Gewinne werden privatisiert, die sozialen Aufgaben schiebt man der Verwaltung zu. Die Hauptforderung des jungen Administrators ist daher: Mehr Rechte für die Organe vor Ort! Dazu nennt er nmoch: Zugriff auf das örtliche Dudget! Kontrolle der wilden Privatisierung durch klare Entscheidungen von oben. Finanzielle Unterstützung für übergreifende Aufgaben. Andernfalls, so der junge Mann, werde alles im Chaos ersticken.
Von „Oben“ ist allerdings nichts zu erwarten: Zwar hat Präsident Jelzin zu den vielen bereits besteheneden noch eine neue Behörde geschaffen, die nur die Aufgabe hat, die Umsetzung präsidialer Dekrete zu kontrollieren. In ihrer Nowosibirsker Zentrale ist von Frau Nikolajewna, Mitarbeiterin der Behörde und zugleich Abgeordnete des Gebietssowjets, aber nur das Eingeständnis hören:
O-Ton 26:Im Kontroll-Apparat des Präsidenten (… sakoni jest)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzerin:“Im Prinzip haben wir doch gute Gesetze. Eine andere Sache ist natürlich, daß niemand gleich jedesmal, gleich in jede Stadt angelaufen kommt und die Umsetzung überprüft. In diesem weiten Land! Sie verstehen? Das ist einfach nicht möglich, sogar hier am Ort nicht. Die Aufgabe ist einfach uneingrenzbar. Das alles bedeutet: Die Leute, die bisher an der Macht waren, sind es auch heute. Das ist vor allem anderen ein Clan: Man hat sich gegenseitig in die Positionen gebracht und hilft sich auch jetzt weiter – die einfachen Arbeiter oder auch das Dorf bleiben da außenvor. Die müssen allein zurechtkommen.“
O-Ton 27:Versammlung zur Selbstverwaltung (Uwaschaemi tawarischi…
Erzähler: Ein Jahr später, Herbst 1994. Wieder im Haus des Sowjets in Nowosibirsk. Der Konflikt zwischen den zwei Mächten ist entschieden. In Moskau wurde gekämpft. Der Präsident hat sich mit Gewalt gegen den obersten Sowjet durchgesetzt. Es gibt eine neue Verfassung, die das Recht auf Privateigentum an Grund und Boden garantiert. Für die Dörfer hat sich jedoch wenig geändert. Nach der landesweiten Liquidierung der alten Sowjetstrukturen ist die Lage dort eher noch verworrener geworden. Niemand weiß mehr, welche Kompetenzen wo gelten. Die offiziellen Stellen reagieren mit einer Kampagne für die Entwicklung einer örtlichen Selbstverwaltung. Aber schon die Art der Vorbereitung durch den neuen jelzintreuen Sowjet läßt ahnen, daß es hier wieder nur um einen Versuch geht, Unzufriedenheit von oben zu kanalisieren. Die meisten Delegierten bekommen den Entwurf erst bei ihrer Ankunft zu Gesicht, ganz zu schweigen von dessen Umfang, der eine praktische Anwendung unmöglich erscheinen läßt. Gleich heutze aber sollen Beschlüsse gefaßt werden. Die Debatte in Arbeitsgruppen zeigt: Fantasievolle Vorstellungen gibt es genug – aber es fehlen die Personen und es fehlen die Mittel zur Realisierung. Selbst bei Gutwilligen ist die Unzufriedenheit spürbar:
Ton 28: Im Foyer (Foyer…
Regie: Kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzerin: „Die Schwierigkeit ist: Nach dem Ukas des Präsidenten, also der Auflösung des obersten Sowjet im Oktober 1993, haben viele Spezialisten die Verwaltung verlassen. Das bedeutet: Diejenigen, die die sich auskennen, sind gegangen. Und dann die Finanzen! Wie es bei uns heißt: `Wo kein Geld ist, ist auch kein Weg.‘ Die Gesetze sind gut, aber die konkrete Hilfe ist gleich Null. Das wird schwierig. – Aber natürlich möchte man hoffen. Ohne Hoffnung kann der Mensch ja nicht leben.“
Erzähler: Im gewerkschaftlichen Bauernverband macht man sich weniger Illusionen. Zu weit, erklärt Sekretär Wladimir Lewaschow in Nowosibirsk, klaffe die Differenzierung zwischen Industrie und Wirtschaft bereits auseinander; zu weit sei die Zerstörung der Sowchosen und Kolchosen bereits vorangeschritten, während die pivaten Bauern sich soeben gerade selbst erhalten könnten.
O-Ton 29: Gewerkschaft, Bauernverband (…Da, primerna…)
Übersetzer: „Ungefähr 20 Prozent der früheren Sowchosen und Kolchosen – jetzt Aktiengesellschaften – arbeiten heute normal, ohne Probleme, haben eine stabile Arbeit. Unter `normal` verstehe ich, daß sie zwar auch subventioniert werden müssen, aber doch irgendwie fühlen, daß sie mit Marktwirtschaft durchkommen werden. Der Rest, 80 Prozent, ist in der Krise. Wohin sie sie morgen gehen, ob sie aufgeteilt werden, ob sie überhaupt nicht interessant sind für eine Privatisierung, ob sie einfach bankrott gehen oder wie immer, das weiß Gott allein.“
Erzähler: Die offiziellen Zahlen, mit denen das Jahr 94 abgeschlossen wurden, übertrefen die düsteren Prognosen noch: Die Mehrheit der Sowchosen war am Jahresende zahlungsunfähig. Viele privaten Bauern gaben auf. Ihre Zahl ging gegen 200.000 zurück. Die Agrarproduktion insgesamt sank 1994 um 7 Prozent unter das ohnehin schon schlechte Ergebnis des Vorjahres. Die Getreidernte fiel um rund 10 Prozent. Damit ist sie seit 1992 um rund 25 Prozent, das ist ein Viertel gesunken. Für 1995 liegt die Prognose bei einem Rückgang der der landwirtschaftlichen Gesamtproduktion um weitere 6 Prozent.
Erzähler:Um diese Entwicklung in den Griff zu kriegen, bedarf es nach Ansicht der Bauergewerkschaft mehr als populistischer Maßnahmen nach Art des Selbstverwaltungsprojekt. So oder so werde sich so etwas wie eine gemischte Marktwirtschaft herstellen. Das hält auch Wladimir Lewaschow für unvermeidlich. Dies aber könne nur geschehen, wenn der Staat den Bauern, auch denen, die ihre Arbeit durch Schließung von Sowchosen verlören, das Überleben ermögliche und die wilde Privatisierung einer Kontrolle unterwerfe. Gennadij Schadrin, seinem Selbstverständnis nach ökologischer Patriot, Radiojournalist und wie Lewaschow Mitglied der Bauernpartei, bringt diese Vorstellungen auf den Punkt:
O-Ton 30:Gennadij Schadrin (… w nache)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden
Übersetzer: „In unserer Verfassung ist das Recht auf Eigentum an Grund und Boden inzwischen verankert. Das ist also kein Problem mehr. Was es nicht gibt, ist ein Recht auf Eigentum auf Land in großen Maßstab. Und ich bin ein Gegner davon. Die ganze Geschichte des russischen Landes und der bäuerlichen Mentalität spricht für gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, für kollektive Formen. Das kommt aus der besonderen Geschichte der russischen Bauerngemeinschaft. Aber das schließt ja nichts aus: In unserer Verfassung ist die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen und aller Formen der Wirtschaft von Grund und Boden festgeschrieben. Man muß also niemanden zu etwas zwingen. Laß die unterschiedlichen Formen doch konkurrieren, laß sie kooperieren – zum Wohle aller!“
Erzähler:Wenn solche Vorstellungen werden heute von tonangebenden Mitgliedern der Bauernpartei vertreten werden, so läßt das hoffen, daß das „Dekret 96“ keineswegs das Ende der Reform bedeuten muß. Es könnte sich auch als der lange überfällige Hebel erweisen, der den Übergang von der bisherigen staatlichen Kommandowirtschaft zu gemischten Formen der Wirtschaft sozial kontrollierbar macht, statt die vorhandenen Strukturen einfach zu zerschlagen. Das könnte zu einer Entwicklung führen, in der das Wort „Reform“ nicht einfach gleichbedeutend mit individueller Bereicherung ist.
Hinterlasse jetzt einen Kommentar