Russland – Ende der Ohnmacht?

„Russlands außenpolitische Strategie besteht nach wie vor aus einer einzigen Idee: dem Panzer“. So war es in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 15.08.2008 zu lesen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ erschien eine Woche später unter dem Titelbild eines sowjetischen Panzers, der 1968 zur Niederschlagung der Proteste in Prag einfährt. Darunter der Kommentar „Déjà vue. Budapest 1956? Grosny 1999? Gori 2008?“ Im „Spiegel“ konnte man die gleichen Bilder sehen. In dieser Berichterstattung geht es nicht darum, was in der Nacht vom 7. auf den 8. August in Zchinwali geschah, das Massaker des Georgischen Militärs an der zivilen Bevölkerung einer schlafenden Stadt und die Folgen dieser Ereignisse. Hier geht es nur noch um die Frage, wie Russland darauf reagierte und welche, angeblich aggressiven Ziele es mit seinem Eingreifen verfolgte. Zeit also sich dieses Aspektes genauer anzunehmen.
„Der Plan war, die Schuld auf Russland zu schieben“, erklärte Michail Gorbatschow in einem Interview mit CCN am 18.8.2008. Die USA habe Georgien seit Jahren aufgerüstet. Aber statt eine „Militarisierung der Welt“ zu betreiben, sei es notwendig die „neuen Realitäten wahrzunehmen“, die eine Kooperation Russlands und den USA erforderten. „Die Vereinigten Staaten sollten nicht glauben, dass jedes Problem militärisch gelöst werden könne.“
Mit dieser Position folgt Gorbatschow, heute als Privatmann, der Grundlinie russischer Außenpolitik, die sich – bei allen Wandlungen und scharfen Widersprüchen im Detail wie im tschetschenischen Krieg – von seiner Zeit als letzter Parteisekretär der Sowjetunion bis zu Medwjedew durchzieht. Die Unterschiede liegen dabei weniger im Wollen, als im Können.
Gorbatschows neue Militärdoktrin propagierte ein kooperatives, multipolares Weltbild und damit verbunden eine weltweite Entmilitarisierung und Abrüstung. Das geschah in Abwendung von der Konfrontationslogik des Kalten Krieges und in Anlehnung an chinesische Vorstellungen.
Im Klima des „Neuen Denkens“ waren Gorbatschow und sein Außenminister Schewardnaze, wie die Historikerin Susan Eisenhower berichtet, sogar gutgläubig genug, den Westmächten ihr mündlich gegebenes Versprechen abzunehmen, die NATO nicht über die deutsch-deutsche Grenze nach Osten auszuweiten zu wollen, wenn Russland sich aus Ost-Deutschland zurückzöge.
Schon Boris Jelzin jedoch sah sich mit dem Beginn der Ost-Erweiterung der NATO konfrontiert; sein Außenminister Kosyrew versuchte dem mit dem Eintritt Russlands in den NATO-Russland-Rat zu begegnen. Erfolglos, Ergebnis war eine zunehmende Westabhängigkeit Russlands. Nach dem Eingreifen der NATO in Jugoslawien intensivierte Jelzin daher Russlands Beziehungen zu China. Kosyrews Nachfolger Primakow verstärkte die Öffnung Russlands nach Süden und Osten. Das hieß: Rückgewinnung russischen Einflusses im Nahen Osten, Dreierallianz mit Indien und China, Union mit Weißrussland.
Mit dem Antritt Putins kehrte Russland voll und ganz zum Konzept der Multipolarität der 90er Jahre zurück, als Putin erklärte, er wolle ein staatlich erstarktes Russland wieder zum Integrationsknoten in Eurasien machen, ohne sich dabei von Europa oder den USA abwenden zu wollen. Ausdruck dieser Politik war die Verabschiedung einer neuen Militärdoktrin 2002, die Russland als Militärmacht neu definierte, die Festigung der Beziehungen zur GUS, die weitere Intensivierung der Beziehungen zu China, die aktive Teilnahme in der Entwicklung der 2003 gegründeten „Schanghai Organisation für Zusammenarbeit“ (SOZ), der Ausbau des BRIC-Bündnisses (Brasilien, Russland, Indien, China). Gleichzeitig kooperierte Russland weiter mit der EU und den USA, wurde Mitglied der G7, die mit Russland zur G8 wurden, und betrieb Vorbereitungen für den Eintritt in die WTO. Leider gehörte auch die Niederschlagung des tschetschenischen Aufstandes dazu, bei dem Russland sich ausländisches Eingreifen als „Einmischung in seine innere Angelegenheiten“ verbat.
Die Ausweitung der NATO wie auch der EU, die nach der Einbeziehung Ost-Europas auch vor der Ukraine und den Staaten des Kaukasus nicht Halt machte, sowie die US-Aktivitäten zur Stationierung von Raketenabfangstationen in Polen und Tschechien veranlassten Wladimir Putin im Februar 2007 nach Abschluss der offenen Kriegshandlungen in Tschetschenien schließlich zu einem neuen Schritt. Auf der jährlichen Sicherheitstagung der NATO in München kritisierte er die Einkreisung Russlands durch NATO und US-Politik und die von den USA betriebene Militarisierung der internationalen Beziehungen und trug Russlands Vorstellungen einer kooperativen internationalen Ordnung als Alternative vor.
Die USA sowie die NATO-Staaten gaben sich schockiert, versuchten Putin als Aggressor, gar als Faschisten zu isolieren. Aus der SOZ, aus dem BRIC-Bündnis, aus dem arabischen Raum kam Beifall, selbst aus der EU kam verhaltene Zustimmung. Die Frage stellte sich nur, ob Russland die neue Rolle, die Putin reklamierte, auch tatsächlich ausfüllen könne.
Eine aktuelle Antwort darauf gab der russische Außenminister Lawrow, als er am 23. Januar 2008 im Pressezentrum des russischen Außenministeriums der internationalen Öffentlichkeit die neue außenpolitische Strategie Russlands vorstellte, die den „Forderungen der gegenwärtigen Etappe der Weltentwicklung“ entspreche. Das „Wesen dieser Etappe“, so Lawrow, sei „die sich objektiv entwickelnde Multipolarität“ und die „objektiv steigende Rolle der multilateralen Diplomatie.“ Davon, setzte er ausdrücklich hinzu, müsse er wohl niemanden erst überzeugen. Auf dieser Grundlage verfolge Russland eine Politik „des Pragmatismus, der Multivektoralität, der Bereitschaft mit allen zusammenzuarbeiten, die es wollen, und unsere nationalen Interessen fest, aber ohne Konfrontation zu verfolgen“. Russland trete für die „Festigung der kollektiven Rechtsgrundlagen in internationalen Angelegenheiten“ ein. Das entspreche auch den Anforderungen der Globalisierung.
Leider gebe es auch Rückgriffe auf Blockpolitik, auf ideologisiertes Herangehen, gebe es Versuche einer Region Konfrontationen aufzuzwingen und die Weltpolitik zu remilitarisieren – das alles gebe es. Er, Lawrow, sei jedoch tief überzeugt davon, dass dies der Grundentwicklung der internationalen Beziehungen zuwiderlaufe. Das Streben nach kollektivem Vorgehen, nach der Stütze auf das Völkerrecht liege den gegenwärtigen Aufgaben und Interessen der ganzen Menschheit näher. Russland, erklärte er, habe keinerlei feindliche Absichten gegenüber irgendeinem Land. „Wenn aber die Partner ein gemeinsames Vorgehen ablehnen, „so Lawrow, „dann werden wir natürlich eigene Entscheidungen treffen müssen, und dabei werden wir vor allen Dingen von unseren nationalen Interessen ausgehen und auch“, fügte er noch einmal sehr deutlich hinzu, „vom Völkerrecht.“
Dies alles mochte noch nach Wiederholung bekannter Absichten klingen, zumal mögliche Lehren aus dem tschetschenischen Krieg nicht erwähnt wurden. Ein neuer Ton war dennoch zu hören, als Lawrow seiner Erklärung hinzufügte, nach der Stabilisierung des Landes in den letzten acht Jahren unter Wladimir Putin, „haben wir jetzt erstmals in der Geschichte die Möglichkeit und die finanziellen Ressourcen, all diese Aufgaben parallel zu lösen und uns dabei auf den neuen Stand Russlands zu stützen, das die steigende Verantwortung in internationalen Angelegenheiten tragen kann.“
Mit dieser Erklärung war Russlands Anspruch angemeldet, die Wahrnehmung eigener Interessen mit seiner neuen Rolle als Impulsgeber einer multipolaren Ordnung effektiv anzutreten. Russlands Pluralität, seine Orientierung auf die innere Modernisierung, sein Wiedereintritt in seine Rolle als Großmacht Eurasiens, die nicht mehr integriert wird, sondern selbst integriert, bilden die Basis dieser Politik. Das gilt ebenso für Russlands Außenpolitik, die den Impuls internationaler Pluralität stärkt und auf geltendes Völkerrecht orientiert. Es gilt auch für Russlands neue Rolle auf dem globalen Finanzmarkt, für seine Beitrittsabsichten zur WTO, deren Regeln es im kooperativen Sinne zugleich verändern will.
Die Vorgänge im Kaukasus sind somit auch aus russischer Sicht das Signal für den Eintritt in eine neue Phase der internationalen Beziehungen. So nicht weiter, Herr Bush! Könnte man sie übersetzen. Hier beginnt Russland! Hier beginnt die Notwendigkeit von Absprachen, statt der weiteren Militarisierung internationaler Beziehungen. Hinter sein aktuelles Eingreifen im Kaukasus wird Russland nicht zurück gehen. Vor Veteranen erklärte der russische Präsident Medwjedew, jeder weitere „Versuch einer Brandstiftung“ werde von Russland in gleicher Weise beantwortet werden. In Zukunft, heißt das, werden die USA, wird die EU mit Russland als offensivem Vertreter einer anderen als der amerikanischen Weltordnung rechnen müssen und – das ist als vielleicht sogar als kleine Hoffnung hinzuzufügen – auch können.
Zugleich wird die Schwäche der USA wie auch der EU deutlich, die zwar Georgien aufrüsten konnten, einen offenen Krieg mit Russland jedoch unter keinen Umständen riskieren können und wollen – solange rationales Abwägen von Gewinn und Verlust das politische Handeln bestimmt. Zu erwarten sind allerdings weitere Nadelstiche im engeren und im weiteren Integrationsraum Russlands, um es zu einer aggressiven Wahrnehmung seiner Interessen zu provozieren wie zuvor in Tschetschenien und so seine Rolle als neuer Impulsgeber einer multipolaren Alternative zu desavouieren. Wie Russland mit dieser Herausforderung umzugehen imstande sein wird, wird sich zeigen.

Kai Ehlers
www.Kai-ehlers.de

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