Referent: Kai Ehlers
Impulse für solidarisches Wirtschaften aus der DDR und Russland?
Der Workshop sollte die Erfahrungen aus der Privatisierung der kollektiven Wirtschaftsstrukturen Russlands und der DDR thematisieren und der Frage nachgehen, was daraus für die Entwicklung solidarischer Wirtschafs- und Lebensformen folgt, was davon zu verwerfen, was daraus zu lernen sein könnte. Dabei war von der Tatsache auszugehen, dass die nach-sowjetische Umwandlung nicht so stattgefunden hat, wie von den Befürwortern der Privatisierung vorausgesagt. Stattdessen zerstörte die Privatisierung die bestehende Arbeits- und Lebensorganisation, insbesondere die Strukturen der Fürsorge und der sozialen Sicherung, in einem solchen Maße, dass die große Mehrheit der Bevölkerung in existenzielle Unsicherheit geriet. Zwischen 20 und 30% der Bevölkerung rutschte unter das Existenzminimum. Trotz dieser Krise brach keine allgemeine Hungerkatastrophe aus. Warum nicht? Das ist eine der interessantesten Fragen, die man an die nachsowjetische Transformation stellen kann. Die Antwort ist verblüffend einfach: Weil die Bevölkerung auf gewachsene Strukturen der informellen Wirtschaft und der Selbstversorgung zurückgreifen konnte.
Mehr noch, statt der von den Reformern gewollten Kapitalisierung des Lebens entstanden wirtschaftliche Mischformen, die nicht mehr sowjet-sozialistisch, aber auch nicht privatkapitalistisch sind. In ihr gehen die traditionelle russische Bauerngemeinschaft, Óbschtschina, die Kollektivwirtschaft sowjetischen Typs und die heutige Marktorientierung eine hochinteressante Verbindung ein. Weit entfernt davon sich vollkommen aufzulösen, wird hier so etwas wie eine Alternative zu dem bisherigen Entweder-Oder von Kapitalismus ODER Sozialismus sichtbar.
Kern dessen ist eine Symbiose zwischen Lohnarbeit und der in Russland sogenannten familiäre Zusatzwirtschaft, die durch ein um die Betriebe herum organisiertes System der Vergütung miteinander verbunden sind. Dieses System ist nicht erst durch die Bolschewiki eingeführt worden, wie immer wieder fälschlich angenommen wird, insonderheit etwa durch die Zwangskollektivierung Stalins, es ist vielmehr in der langen Geschichte Russlands entstanden, in deren Verlauf sich das bäuerliche Gemeineigentum, die Allmende, im Gegensatz zum Westen nicht aufgelöst hat, sondern zum Grundmuster des Lebens wurde. Unter Stalin wurde der russische Kollektivismus nicht erfunden, sondern verstaatlicht. Die Bevölkerung wurde gewissermaßen von ihren eigenen Traditionen enteignet; ihre eigenen Basisstrukturen traten ihr als fremde Macht, als Zwangskollektiv, entgegen. Diese Entwicklung führte in die stalinsche Repression und letztlich Stagnation – mit der Auflösung der Union wurde sie gesprengt. Was blieb, und trotz aller aktuellen Versuche der Monetarisierung bisher nicht gesprengt werden konnte, ist die Grundstruktur von Lohnarbeit, Vergütung und Zusatzwirtschaft. In diesem Modell greifen die drei Elemente greifen so ineinander, das ein das andere stützte. Konkret: Lohn wurde nach Leistung gezahlt, ergänzt durch Möglichkeiten des Zusatzverdienstes. Arbeit wurde jedoch nicht nur in Geld entlohnt, sondern zu einem großen Teil auch über Verrechnungen aus dem Betriebs-Lohnfond, aus dem die Grundlebensbedürfnisse der Betriebsmitglieder, ihre Familien und sowie der gesamte kommunale Lebensbedarf getragen wurden. Das begann bei Wohn- und Lebensraum, umfasste Kindergarten, Schule, Bildung, medizinische Leistungen etc. pp. bis hin zur Gräberpflege. Man war rundherum in eine Grundversorgung eingebettet.
Zum Lohn und zur kollektiven Grundversorgung kommt die familiäre Zusatzversorgung. Auf dem Lande besteht sie aus Haus, Garten, Kleintierhaltung – wobei zu den Kleintieren inzwischen durchaus Schweine, Kühe, Ziegen, selbstverständlich Hühner, Enten Gänse etc. gehören. Für die Städter besteht sie aus Datscha plus Garten. Hofgarten und Datscha decken den privaten Grundbedarf. Zu Sowjetzeiten gehörte die Nutzung eines Hofes ebenso wie die Nutzung eines Datscha-Geländes zu den geldlosen Vergütungen.
In der Kombination von familiärer Zusatzwirtschaft und Versorgung mit Lebensgrundbedarf durch die betriebliche Vergütung entsteht faktisch ein geldfreier Raum, ein sozialer Puffer: Schon die betriebliche Versorgung fungiert als Ausgleich, insofern je nach Produktions- oder gesamtwirtschaftlicher Lage mehr oder weniger in die Grundversorgung der Betriebsmitglieder und der Kommune investiert werden kann. Entscheidend ist jedoch die familiäre Zusatzwirtschaft, deren Produkte gar nicht erst in die Kreislauf der Volkswirtschaft, die vielmehr einen varaiablen Bereich bilden, auf den mehr oder auch weniger zurückgegriffen werden kann. Konjunkturelle Schwankungen und – wie sich gerade jetzt wieder gezeigt hat – selbst krisenhafte Desorganisation der Versorgung kann so aufgefangen werden.
Heute sind die Betriebe weitgehend privatisiert, das heißt in Aktiengesellschaften mit Mehrheitsverhältnissen verwandelt worden. Die Vergütungsstruktur soll abgelöst werden durch einen nach westlichem Muster auf Lohn- und Einkommensteuer basierenden Geld-Ware-Geld-Kreislauf, in dem die betriebsorientierte geldlose Grundversorgung wie auch die außerhalb des Geldverkehrs liegende familiäre Selbstversorgung durch eine allgemeine staatliche organisierte, durch Geld in gang gehaltene Fremdversorgung ersetzt werden soll. Auch Hof und Hofgärten, Datscha und Garten wurden entweder privatisiert oder es soll Miete für die Grundversorgung mit Wohnraum, Gas, Wasser etc. verlangt werden. An die Stelle der familiären Zusatzwirtschaft soll der Supermarkt treten. Die Entwicklung ist jedoch nicht ausgekämpft: Per Gesetz ist die Privatisierung zwar vollzogen, der Betrieb ist eine Aktiengesellschaft geworden, statt Vergütung wird Lohn gezahlt, Wohnungen, Höfe, und Datschen und die zum Leben notwendige Infrastruktur sollen bezahlt werden; in vielen Fällen aber bestehen die alten Verhältnisse fort, bilden sich undefinierte Zwischenlagen, Übergangssituationen.
Nach zwanzig Jahren beginnen aus diesen Zwischenlagen, Provisorien und Übergängen jedoch Elemente hervorzutreten, die sich als dauerhaft erweisen könnten; das sind eben jene, welche die geschilderten traditionellen russischen wie sowjetischen Strukturen mit denen der Marktorientierung verbinden.
Aktiengesellschaft „Irmen“ –
Entwicklungswege jenseits des Entweder-Oder?
Ein Beispiel dafür ist die Aktionärsgemeinschaft „Irmen“. Irmen liegt anderthalb Autostunden von der sibirischen Metropole Nowosibirsk in Richtung Süden am Ufer des zum Obschen Meer gestauten Flusses.
Irmen ist eine AOST, das heißt eine Aktiengesellschaft geschlossenen Typs, auf russisch: eine Aktionerernaja Obschtschestwo Sakritawo Typa. Aktien einer solchen Gesellschaft – sei sie ein industrieller Produktionsbetrieb oder eine bäuerliche Wirtschaftsgemeinschaft – können nur von der Belegschaft des Betriebes selbst gekauft werden. Eine extreme Form der AOST sieht vor, dass jeder Aktionär nur eine Aktie und eine Stimme haben darf.
Organisationen dieses Typs entstanden als stiller Protest gegen den Privatisierungszwang, den Russlands Präsident Boris Jelzin und sein erster Ministerpräsident Jegor Gaidar auf Anraten des IWF 1991/2 in Gang setzten. Gaidar, Jelzin und der Fonds versprachen sich von ihrer Kampagne, die auf eine Beseitigung der Gemeinschaftsproduktion zielte, eine schnelle Kapitalisierung Russlands; die Befürworter und Vertreter der geschlossenen Aktiengesellschaften hofften auf diese Weise dem Zugriff fremden Kapitals aus dem In- und aus dem Ausland entgehen und kollektive Formen der Arbeitsorganisation erhalten zu können.
Viele der damaligen Sowchosen oder Kolchosen, auch einige kleinere Industriebetriebe gingen diesen Weg. Die AOST Irmen, früher „Sowchose Bolschewik“, ist eine von ihnen, zugegeben, eine besonders erfolgreiche. Sie ist über die Grenzen der Nowosibirsker Region hinaus als Musterbetrieb bekannt und gilt als prinzipielles Beispiel für einen Weg zwischen früherem sozialistischen und heutigem marktwirtschaftlichen Management.
Irmen strahlt, man wagt es kaum zu sagen, eine Athmosphäre des Wohlstands und der Geborgenheit aus. Man wird von dieser Athmosphäre empfangen, sobald man die von Nowosibirsk kommende Trasse verlässt und den Anzeiger passiert hat, der verkündet, dass man sich nunmehr auf dem Gebiet Irmens bewegt: Eine gut ausgebaute Teerstraße führt ins Hauptdorf zur zentralen Verwaltung. Die Straße wurde zweifellos noch in der sowjetischen Zeit angelegt, aber im Unterschied zu anderen Orten, die auf die man in Russland treffen kann, malträtiert sie ihre Benutzer heute nicht mit unübersichtlichen Schlaglöchern; sie ist sogar besser erhalten als manche Straße in der Metropole Nowosibirsk. Das will in Sibirien etwas heißen, wo der Frost jedes Jahr tiefe Löcher in die Straßen reißt.
Je weiter man ins Gebiet Irmens vordringt, um so befreiter fühlt man sich: Fragen nach dem Weg beantworten die Menschen mit selbstbewusster Freundlichkeit. Man ist Besucher gewohnt; man freut sich über das Interesse; man identifiziert sich mit der Verwaltung, weist zuvorkommend den Weg zum „Chef“. Wer öfter russische Dörfer bereist, kennt ganz andere Empfänge.
Gänzlich überrascht ist man schließlich, wenn man das Verwaltungsgebäude erreicht; auch dieses ist natürlich ein Bau aus sowjetischen Zeiten, aber er ist frei von der Tristesse abblätternden Glanzes, von dem Besucher in vielen anderen ehemaligen Sowchos- oder Kolchoszentren empfangen werden, die heute dem Zerfall anheim gegeben sind. Kurz, wer das Gebiet von Irmen betritt, taucht in das Klima einer sozialen Gemeinschaft ein, die auch für Außenstehende attraktiv ist.
Direktor Juri Bugakow, der uns, das heißt, mich als ausländischen Gast und Freunde aus Nowosibirsk, in seinem geräumigen Büro empfängt, tut alles, um diesen Eindruck zu vertiefen. Bereitwillig stellt er sich unseren Fragen zur Geschichte und zum heutigen Stand von Irmen. Danach weist er seine Helfer an, uns auf dem Gebiet Irmens herumzuführen. Diese Führung wird eine aufregende Reise durch weites Gelände, zu den Betrieben, durch die Dörfer von Irmen, bei der wir mehrmals Schuhe, Kittel, Kopfbedeckungen und Himmelrichtungen wechseln müssen; zwischendurch werden wir auch noch fürstlich verpflegt.
Am Anfang müssen wir natürlich die Daten verarbeiten: Die Gemeinde „Irmen“ umfasst heute ca. 3500 Menschen in zwölf Dörfern. Sie ging aus mehreren Einzel-Kolchosen hervor, erstreckt sich über ein Gebiet von 23.000 Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche und 18.000 Hektar Weideland. Die Felder liefern einen Ertrag von 35 – 50 Zentner Korn pro Hektar je nach Niederschlag. Für sibirische Verhältnisse liegt das weit über dem heutigen Schnitt. Auf der Hälfte des Weidelandes wird Heu geerntet. Die Agrargemeinschaft hält 6500 Köpfe Großvieh, davon 2300 Milchkühe, die täglich 156 Tonnen Milch abgeben. Dazu kommen 3000 Schweine, eine ausgedehnte Pelztierzucht und Wildtierpflege, die aus Abfällen im eigenen nahen Wald unterhalten wird. Eine Schlachterei, Bäckerei, Molkerei versorgt die Bevölkerung der zwölf Dörfer in einem eigenen Hof-Laden, dazu einen modern eingerichteten Supermarkt in Nowosibirsk mit ausgesuchten Milch- und Fleisch-Produkten und sonstigen Lebensmitteln. Sechs Schulen, ein zentraler Kindergarten, ein Kulturhaus, ein Theater, ein Krankenhaus, mehrere kleine Kapellen, eine zentrale Kirche gehören mit in das Bild.
Der heutige Musterbetrieb „Irmen“ ging aus der vormaligen Muster-Sowchose „Bolschewik“ hervor. Das Museum der bolschewistischen Mustergeschichte lässt Direktor Bugakow, seinerzeit als “Held der Arbeit“ ausgezeichnet, auch heute noch seinen Besuchern vorführen, allerdings nicht ohne Lenins Büsten, die Trikoloren der Revolution und einiges anderes auf dem Gang durch das Museum entstauben zu müssen. „Es war nicht alles schlecht, was wir vor Perestroika gehabt haben“, sagt er. Doch der Direktor ist kein Apparatschik alten Typs, der sich an Vergangenem festklammert. Er versteht sich als Manager eines Großbetriebes, der traditionelle Formen der Gemeinschaftswirtschaft mit marktwirtschaftlicher Orientierung verbinden will. Er versteht sich als Experimentator, der neue Wege zwischen Markt und Gemeinschaftswirtschaft sucht. Das macht ihn zum gefragten Gesprächspartner und Irmen zum Anziehungspunkt für viele Besucher.
„Irmen ist nicht einfach ein landwirtschaftlicher Großbetrieb“, erklärt Direktor Bugakow, „es ist ein Kombinat mit vielen verschiedenen Arbeitszweigen. Wir produzieren jeden Tag sechsundvierzig Tonnen Milch. Wir verarbeiten sie hier bei uns. Wir haben eine schwedische Anlage zur Weiterverarbeitung der Milch. Wir stellen heute zwölf verschiedene Milchprodukte her – Jogurt, Smjetana (eine Art Sahnequark K.E.), Quark, Kefir, sogar Kumis (alkoholisierte Stutenmilch, wie sie in der Mongolei viel getrunken wird – K.E.). Das verkaufen wir in Nowosibirsk. Wir verarbeiten aber auch eine große Menge Fleisch weiter. Wir stellen Mehl her und verkaufen es. Und um nichts wegzuwerfen halten wir auch noch die Wildtiere. Wir haben auch unsere eigene Ziegelei. Sie stellt sieben Millionen Ziegel im Jahr her. Wir bauen damit selbst und verkaufen obendrein zu günstigen Bedingungen in die Umgebung. Das heißt, alles was wir produzieren, verarbeiten wir auch selbst weiter. Über die Weiterverarbeitung hinaus haben wir eine Produktion für den Eigenverbrauch und unsere Handelsabteilung. Wir unterhalten dreizehn Geschäfte – einen Laden hier vor Ort, einen im nahen Bezirkszentrum Ordinsk und ein sehr gutes Geschäft in Nowosibirsk. In das Geschäft in Nowosibirsk haben wir viel Geld investiert; es ist mächtig, schön, liegt mitten im Zentrum der Stadt, es ein Teil unserer Wirtschaft. Es heißt auch „Irmen“, direkt am Zentralen Markt. So also ist es: Produktion, Weiterverarbeitung und Handel, das heißt, wir lösen alles selbst, es ist ein Komplex.“
So weit, so unspektakulär, könnte man meinen. Dies alles könnte ja auch die bloße Wiederholung der Sowjetstrukturen unter neuem Kommando oder einfach nur Ergebnis früherer Privilegien sein. Aber so ist es nicht: Das Geheimnis des aktuellen Wohlstandes liegt, wie man von Direktor Bugakow, ebenso wie von den Beschäftigten in den Betrieben und den Dorfbewohnern erfahren kann, in einer günstigen Kombination von traditionellen Sowchostrukturen und Modernisierung, in der Verbindung von Gemeinwirtschaftsproduktion und persönlicher Interessiertheit, garantierter Privatheit bei gleichzeitiger paternalistischer Führung: Dabei ist die Organisation unmissverständlich: Das Kontrollpaket von 51% liegt in der Hand von Juri Fjodorowitsch Bugakow, die restlichen 49% sind auf fünfzig Mitaktionäre verteilt, Kapital-Einlagen von außerhalb gibt es nicht. Damit sind die Entscheidungsbefugnisse für den Zweifelsfall klar: Wenn es hart auf hart kommt, hat der Direktor das letzte Wort.
Demokratisch im Sinne westlichen formaldemokratischen Verständnisses ist das nicht. Darauf angesprochen, erklärt der Direktor, dass er sich die ihm zustehende Dividende nicht auszahlen lasse; er habe sogar einen Zusatz-Vertrag unterschrieben, daß die ihm jährlich zustehende Summe für die Modernisierung und den Ausbau der sozialen Infrastruktur von „Irmen“ eingesetzt werden solle. Das geschehe auch in seinem eigenen Interesse, denn schließlich lebe er in Irmen und gedenke auch dort zu sterben. Zweitens sei er trotz seines Anteils von 51% gewählt und seinem Aktionärs-Rat verantwortlich. Wenn der Rat nicht hinter ihm stehe, könne er gar nichts bewirken. Drittens könne er „heutzutage“ so oder so nicht kommandieren, sondern müsse die Mitarbeiter wirtschaftlich und ideell motivieren, müsse sein Team von der Richtigkeit seiner Vorschläge überzeugen.
Dies alles erklärt er uns locker, freundlich, sichtbar interessiert, den Weg Irmens als möglichen Weg aus der russischen Transformationskrise auch im Westen in die Diskussion zu bringen. „Bei Ihnen ist ja auch nicht alles Gold, was glänzt“, lacht er, „besonders in der Landwirtschaft. Da werden ja auch neue Wege gesucht.“
Nur eine Frage beantwortet er nicht, nämlich wie es zu der Aufteilung der Aktienmehrheiten in 51% für den Direktor und 49% für die Betriebsgemeinschaft kam. Auch von den Mitgliedern der Irmen-Gemeinschaft ist dazu nichts zu erfahren. Diesen Vorgang möchten sie ganz offensichtlich lieber im Dunkel der Privatisierungsgeschichte verschwinden lassen. In anderen Betrieben, lassen sie wissen, möge das ein Problem sein, Ihnen reiche es zu wissen, dass ihr Direktor seine 51% nicht missbrauche. Beim Stand dieser Auskünfte ließen wir unsere weiteren Nachforschungen auf sich bewenden. Die Tatsachen machen deutlich genug, dass Perestroika, Privatisierung und darauf folgende Reorganisation der russischen Wirtschaft zwischen Plan und Markt noch nicht mit der Einführung einer gerechteren Gesellschaft verwechselt werden dürfen. Sie repräsentiert nur einen möglichen Schritt dorthin.
Die Mehrheit der übrigen Aktienbesitzer seien seinem Beispiel gefolgt, erklärt der Direktor weiter. Auch sie legten ihr Dividenden in Investitionen an. Sie könnten das, weil das Lohnniveau in „Irmen“ vergleichsweise hoch, das Niveau der Lebenshaltungskosten dagegen extrem tief liege – nicht zuletzt deshalb, weil jede Familie im Gebiet Irmens, wie ich auf einem Rundgang mit eigenen Augen sehen könne, selbst diejenigen, die nicht im Betrieb, sondern außerhalb Irmens im Distrikt oder gar in Nowosibirsk arbeiteten, einen eigenen Hof-Garten besäßen, in dem sie ihre eigene ergänzende Familienwirtschaft betrieben – also die zusätzliche Versorgung der eigenen Familie durch Kuh, Schwein und Kleinvieh sowie ausgedehnten Obst-, Frucht- und Gemüseanbau, zusätzlich sogar auch noch Blumen. „Sie werden selbst sehen“, schließt der Direktor, „dass manche Familie ihre eigenen Produkte sogar noch an den Gesamtbetrieb weiterverkauft.“
Perestroika, meint Direktor Bugakow, habe prinzipiell nicht viel verändert: Arbeiten müsse man immer noch. Die Umwandlung von „Irmen“ in eine AOST habe aber spürbar zu einer größeren Interessiertheit der früheren Kolchosmitglieder an den Arbeitsergebnissen geführt – bei den einen als Besitzer von Aktien, denen seit Jahren steigende Dividenden zuflössen, bei den anderen als Bezieher von Löhnen, die sie in die Lage versetzen, sich einen steigenden Lebensstandard zu leisten. „Irmen“, auf diese Feststellung legt Chef Bugakow besonderen Wert, existiere ohne staatliche Subventionen und ohne Kredite; er dulde aber auch keine Bartergeschäfte, also wilde Tauschpraktiken, wie sie sonst in weiten Teilen des Landes als Folge der Krise üblich seien. „Barter“ so Bugakow, „macht auch den ehrlichsten Menschen zum Gauner. Es bringt nur Verwirrung. Bei uns gibt es nur klaren Geldverkehr. Wir haben genügend flüssiges Kapital, um uns selbst zu finanzieren und uns unabhängig zu machen von den irrsinnigen Krediten, die heute verlangt werden.“ Wer sich darauf einlasse, so Bugakow, komme nie auf einen grünen Zweig.
So scharf Juri Bugakow hier die Prinzipien des Marktes betont, wenn es um die Arbeit auf den Feldern oder in den Betrieben und um den Handel zwischen den Dörflern und der AOST Irmen als Produktionsgemeinschaft geht, so bewusst setzt er andererseits auf die Nutzung der nicht-kapitalistischen gewachsenen Traditionen: Die AOST „Irmen“ ist nicht nur kollektiver Arbeitgeber, sie übernimmt auch – bewusst gegen den Trend einer allgemeinen kommunalen Verwahrlosung, ja, gegen die heute von Moskau betriebene Monetarisierung der betrieblichen und kommunalen Fürsorgestrukturen – die Kosten und die Verantwortung für Erhalt und Ausbau der infrastrukurellen, der sozialen und der kulturellen Versorgung ihrer Ortschaften. In Juri Bugakows eigener Schilderung der aktuellen Situation in Irmen klingt das so: „Die Wohnungen“ – er spricht von denen, die neu gebaut werden – „sind mit allem kommunalen Komfort ausgestattet: Da gibt es Gas, da gibt es ständig heißes Wasser, da gibt es kaltes Wasser, schlicht, es gibt allen kommunalen Komfort, den es geben muss.“ Diese Leistungen, erklärt er, werden als geldlose Vergütung für geleistete Arbeit, bzw. für diejenigen, die nicht in der Gemeinschaft, sondern außerhalb arbeiten, zu besonders günstigen Konditionen gestellt. „Darüber hinaus“, fährt er Direktor fort, „gibt es in den Dörfern eigene Gärten, eigene kleine Landstücke. Man hat dort außer dem allgemeinen Einkommen die Möglichkeit, ein ergänzendes Einkommen aus der eigenen Wirtschaft zu beziehen. Darauf können wir zur Zeit nicht verzichten.“
Was Direktor Bugakow zunächst als vorübergehenden Mangel formuliert, entpuppt sich bei näherem Nachfragen als bewusst angewandtes Prinzip: Es gehe nicht nur um den Garten, erklärt er, es gehe überhaupt um „persönliche Wirtschaft“, um „ergänzendes Einkommen“. „Da gibt es außer dem Garten auch noch die Tierhaltung: Kühe, Schweine, Hühner usw. Warum? Nun, in den letzten Jahren haben sich die Bedürfnisse der Menschen rasant erhöht. Früher war es so, dass man nur sehr wenig Geld verdiente und für das wenige auch noch wenig kaufen konnte. Es gab weniger gute Dinge, weniger Importware oder es gab sie überhaupt nicht. Jetzt gibt es in unseren Läden alles. Hier am Ort und auch in Nowosibirsk nur siebzig Kilometer von hier. Alle haben natürlich ein eigenes Auto und man hat kein Problem, mal eben nach Nowosibirsk zu fahren. Maximum eine Stunde und du bist im besten Geschäft von Nowosibirsk. Seit die Möglichkeit besteht, zu kaufen, was man möchte, haben sich auch die Ansprüche erhöht: Heute hat man ein Auto, morgen will man zwei haben; man hat es heute gut zu Hause, man will es noch besser haben; der Nachbar ist irgendwohin gefahren, um sich zu erholen, da will man auch hin. Man hat es auch nötig, sich zu erholen. Für all das braucht man Geld. Zunächst hat das die Arbeit generell stimuliert in unserer kollektiven Wirtschaft: Es gibt die Möglichkeit Geld auszugeben – also wuchs das Bedürfnis mehr zu verdienen. Und so gibt es heute Leute bei uns, die wirklich sehr gut verdienen. Das sind die Mechaniker, die das Korn auf den Feldern ernten, das sind die Beschäftigten, die tierische Produkte und Fleisch produzieren. Weniger verdienen diejenigen im Dienstleistungsbereich, welche die ganze Wirtschaft versorgen. Warum bekommen die weniger? Das machen wir bewusst so: Diejenigen, welche auf dem Feld arbeiten, haben weniger Zeit, sich mit der persönlichen Wirtschaft zu befassen. Auch jene, die mit den Tier- und Fleischprodukten zu tun haben, haben wenig Zeit dafür. Aber die, die im Dienstleistungsbereich arbeiten, ihre geregelte Tageszeit haben, haben zwar ein geringeres Einkommen, aber sie haben die Möglichkeit, sich noch mit der eigenen Wirtschaft zu befassen. Sie haben zwei, drei Kühe, Schweine, Hühner – und nicht nur für die eigene Familie, sondern auch, um sie zu realisieren, um sie zu verkaufen. Sie haben es dabei nicht einmal nötig, zum Markt zu gehen, da wir eine eigene Weiterverarbeitung hier in unserer Gesellschaft haben, wir stellen fünfunddreißig verschiedene Fleischprodukte her, von der Grundversorgung bis zu Delikatessprodukten. Das heißt, man zieht sein Tier auf, bringt es her, kriegt sein Geld und weitere Fragen gibt es nicht. Das ist also wirklich sehr bequem. Das ist die Antwort, warum wir heute die eigene Wirtschaft zusätzlich zur kollektiven halten.“
Bereitwillig werden wir durch die Betriebe der AOST Irmen geführt: die Molkerei, in der mit soeben neu erworbener schwedischer Maschinerie hochwertige Milch-, Käse- Jogurtprodukte hergestellt werden; selbst der Kumis, sonst nur in der Mongolei zu bekommen, ist genießbar. Wir dürfen von allem nach Herzenslust kosten und werden darüber hinaus auch noch mit überreichlich Wegzehrung versehen. „Wir machen alles ohne chemische Zusatzstoffe“, wird uns wiederholt stolz erklärt, „nach neuestem Stand der biologisch orientierten Ernährungswissenschaft und mit regelmäßigen Kontrollen.“
In der Tierhaltung bemüht man sich, die in der Sowjetzeit üblich gewordene Masseneinpferchungen zu durchbrechen: Jungtiere werden in gut ausgestreuten Einzelboxen gehalten, die Milchkühe nach Möglichkeit auf die Weide getrieben und draußen gemolken. Fleischerei, Bäckerei, Ziegelei, Kindergarten, Kulturhaus, die im Bau befindliche neue Kirche – alles können wir ausführlich besichtigen. Wir dürfen reden mit wem wir wollen, worüber wir wollen, Ton- und auch Videoaufnahmen machen. Unsere Fragen werden beantwortet, so unbequem sie auch sein mögen: Fühlen die Menschen sich heute freier als zu sowjetischen Zeiten? Haben sie mehr Möglichkeiten. Können sie selbst über ihr Leben bestimmen? Die Antworten fallen sehr individuell aus: die einen loben den Chef, die anderen den Verdienst, die dritten wissen zu schätzen, dass ihnen Freizeit genug bleibt, ihren Garten zu richten. Kritik an den Arbeitsbedingungen hält niemand zurück: Die Maschinen – bis auf die Molkerei – könnten moderner, effektiver sein, die Arbeitszeit könnte kürzer sein. Aber man fühlt sich gut und gerecht entlohnt, immer mit dem Zusatz, dass man ja auch noch den eigenen Hofgarten zur Bewirtschaftung habe und die infrastrukturellen und sozialen Leistungen der Gemeinschaft teils kostenlos, zumindest aber zu sehr günstigen Bedingungen in Anspruch nehmen könne, wenn man das mit der Stadt oder mit anderen Orten vergleich, die nicht einen solchen Weg gingen wie Irmen. Man ist stolz an dem „Experiment Irmen“ teilnehmen zu können. Woanders als in Irmen zu leben, mag niemand der Gefragten sich vorstellen. „Wir haben hier alles, was ein Mensch heute braucht“ und wenn wir mehr brauchen, hindert uns niemand, in die Stadt zu fahren..
Eine Rundfahrt durch die Dörfer, Gespräche über den Zaun und Blicke in Küchen und Gärten bestätigen Direktor Bugakows Darstellung und das Stimmungsbild in den zentralen Betrieben Irmens ohne Einschränkung: Kein Haus ist ohne Wasser, ohne Strom oder ohne eine auch in den Schlammmonaten des Frühjahrs und des Herbstes benutzbare Zufahrt; selbst die alten Holzhäuser sind an die Versorgungsnetze angeschlossen. Menschen, die nicht in Betrieben oder auf den Feldern der AOST arbeiten, loben die Organisation, die es möglich mache, die Lohnarbeit in der Umgebung, dem nahen Bezirkszentrum oder gar in Nowosibirsk mit der durch einen eigenen Hofgarten im Rahmen Irmens garantierten Selbstversorgung zu kombinieren. „Wir sind keine Krösusse“, sagt ein knorriger Alter, „aber wir fühlen uns gut, wir fühlen uns sicher.“ Dabei zeigt er auf das nicht weit entfernt liegende Krankenhaus, das von der AOST Irmen betrieben wird. „Wenn wir Probleme haben, können wir jederzeit da hin gehen. Wo hat man so was sonst noch heutzutage.“ Kritischen Fragen begegnen auch die Dörfler ungezwungen: Ja, natürlich, mit einem anderen Chef wäre es anders – aber wo, bitte sehr, sei das nicht so?!
Wie sehr die Kombination von gemeinschaftlicher Produktion und familiärer Selbstversorgung in Irmen als prinzipieller Weg verstanden wird, offenbart sich in besonderer Weise auch in den seit der nach-sowjetischen Wende angelegten Neubaugebieten: Die neuen Häuser, obwohl heute nicht aus Holz gezimmert, sondern aus Stein gemauert und entlang geteerter Straßen mit Kanalisation angelegt, sind in ihrem Grundriss den traditionellen Hofanlagen vollkommen angepasst: Vorn an der Straße steht das Wohnhaus, dahinter liegt ein Garten mit gemauerten Stallungen für die eigene Kuh, für Schafe, Schweine und Kleintiere jeglicher Art. Diese Häuser bieten Raum genug für eine Drei-Generationen-Familie, ggflls. auch für zwei allein erziehende Frauen, die mit ihren Kindern zusammenwohnen. Familien, wie immer sie zusammengesetzt sind, können sich auf diese Weise zusätzlich zu ihrem Lohneinkommen, aus dem sie auch die Kosten für das Haus und seine Versorgung mit Gas, Wasser, Strom, Straße usw. aufbringen müssen, ihre Grundversorgung auf eigenem Boden organisieren.
Früher wurden die Unkosten für Haus und Garten gänzlich aus dem Vergütungsfond der Gemeinschaftswirtschaft getragen; heute müssen sich die Familien an den Unkosten für Haus und Garten beteiligen, sofern sie nicht, was offenbar auch möglich ist, das Haus ganz privatisiert haben. Hier zeigt sich die Symbiose zwischen den kollektiven Strukturen der gemeinsamen und der eigenen privaten Wirtschaft, in der die eine Seite die andere nicht nur stützt, sondern überhaupt erst möglich macht. Die Grenzen zwischen ihnen fließen. Was als Protestlösung, als Übergang begann, wird zur Dauereinrichtung, ja, zum Modell, wenn auch mit erkennbaren Schönheitsfehlern: Die Position des Mehrheitsaktionärs erlaubt dem Direktor Entscheidungen gegen den Rest der Gemeinschaft durchzusetzen. Ein sozial rücksichtsloser Direktor kann eine solche AO auf dieser Grundlage privat ausbeuten; und tatsächlich gibt es mehr als einen Fall, in dem Direktoren früherer Sowchosen oder Kolchosen sich deren Mitglieder als abhängige Lohnarbeiter, tendenziell sogar Tagelöhner abhängig machen. Das System Irmen steht und fällt mit dem Vertrauen in eine am Wohl des Gesamten interessierten Leitung. Andererseits wird ein mit gesunden Egoismus ausgestatteter, aber langfristig denkender Direktor keine Entscheidungen treffen, die das – zumeist geringe – Kapital aus der AO heraus zieht, um es privat zu konsumieren, weil er sich damit auf Dauer die eigene Existenz zerstört. Er wird Interesse an einer Re-Investition der Profite haben, wenn es Profite gibt. Wenn es keine gibt, wird er darauf drängen, die Arbeit zu intensivieren, um die Erträge zu steigern und Geld für Investitionen wie für die Versorgung der AO zu gewinnen, er wird aber kein Interesse daran haben, den Arbeitstag seiner AO-Mitglieder über die Maßen auszudehnen, weil er ihnen – wiederum im eigenen Interesse – Raum lassen muss, ihre Gärten- bzw. Garten-Hof-Wirtschaft zu betreiben – wenn er sie nicht in Ware entgüten oder mit Geld entlohnen kann. Die Mitglieder der AO sind ihrerseits an einer Leitung interessiert, die Eigeninteresse und Interesse an der Effektivität des Betriebes miteinander verbindet, ohne sich die Familienwirtschaften einzumischen. So ist beiden Seiten geholfen.
Als Vorsitzender der Bezirksagrarkommission ist Juri Bugakow anerkannter Berater in der Region: Zusammen mit der Regionalen Agrarkomission von Nowosibirsk, hat er ein Netz sogenannter Basiswirtschaften entwickelt, in dem die Erfahrungen mit der Organisationsform von „Irmen“ weitergegeben werden. An einem Betrieb pro Bezirk werden die Erfahrungen von „Irmen“ für die anderen Wirtschaftseinheiten des Bezirks demonstriert. In Versammlungen werden die Ergebnisse beraten, wer Hilfe braucht, kann Unterstützung bekommen. „Es geht nur langsam“, meint Juri Bugakow“, „aber hier und da wächst inzwischen etwas heran.“
Zusammen mit der Vereinigung „Sibirische Übereinkunft“, welche offizielle und inoffizielle Machtträger aller sibirischen Regionen vertritt, und dem Russischen Unternehmerverband., der MARP, versucht man zudem, die agrarisch orientierten Basiswirtschaften mit örtlichen Industrien zu „Komplexwirtschaften“ zusammenzuführen. Auch hierbei wird mit marktwirtschaftlichen Methoden an alten Vorstellungen aus der Sowjetzeit angeknüpft.
Juri Bugakows „Irmen“ ist auch ein Beispiel für das, was Professor Theodor Schanin, einer der russischen Ökonomen, die heute die neuen sozialen Strukturen untersuchen, welche sich aus der Privatisierung in Russland ergeben, als „extrapolare Ökonomie“ beschreibt: Eine Mischung aus kollektiver und privater, dirigistischer und selbstbestimmter, sozialistischer und marktwirtschaftlicher Produktion und Lebensweise. Sicher: Irmen ist ein wohlhabendes Beispiel, vielleicht eine Ausnahme, könnte man einwenden. Als ehemalige Mustersowchose brachte Irmen beste materielle Voraussetzungen mit, den Sprung zu schaffen. Aber dem ist erstens die bemerkenswerte Tatsache entgegenzuhalten, dass es eben gerade eine ehemalige Mustersowchose ist, die diesen Schritt zur Symbiose von traditioneller Gemeinwirtschaft und Marktorientierung schafft. Schwächere Gemeinschaftsbetriebe sind an der Privatisierung zerbrochen; zweitens kann man in Russland inzwischen auch anderswo vergleichbare Strukturen finden. Keineswegs alle stehen ökonomisch auf dem hohen Niveau wie „Irmen“; manche dümpeln auf einem sehr niedrigen Niveau der sozialen Versorgung wie auch des persönlichen Konsums, nicht wenige liegen sogar im Elend. Die innere Struktur, die den einen ein gutes Leben ermöglicht, den anderen aber trotz Krise immerhin noch das Minimum eines sozialen Rahmens und den Erhalt der physischen Existenz, ist jedoch die gleiche: Eben die die Symbiose von kollektiver Bewirtschaftung mit Formen der ergänzenden familiären Subsistenzwirtschaft, die selbst in der Krise ein Minimum an wirtschaftlichem und sozialen Zusammenhang erhält. Unter günstigen Umständen garantiert sie ein Maximum an individueller Bewegungsfreiheit in der Gemeinschaft. Das mussten sogar unsere Begleiter aus Nowosibirsk eingestehen, obwohl sie als eingefleischte Städter nichts vom Landleben halten. Aber auch sie, das muss gesagt werden, gehören zu den 60% der russischen Bevölkerung, die von den zusätzlichen Einkünften ihrer Datscha leben, die sie draußen vor den Toren der Stadt unterhalten. Vor diesem Hintergrund darf man wohl den russischen Forschern zustimmen, die wie Alexander Nikulin, ein jüngerer Mitarbeiter Theodor Schanins, in der Kombination von „persönlichem Familiärem und grossem Kollektivem“, das sich zur Zeit in Russland spontan herausbilde, einen „sehr perspektivreichen Weg“ sehen und Wissenschaftler sowie Politiker auffordern, über diese neuen sozialen Strukturen nachzudenken, sie zu studieren und ihnen die Möglichkeit einer tatsächlichen realen Entwicklung zu geben.
Drei Dinge möchte ich am Schluss noch anmerken:
Erstens: Selbstverständlich unterscheiden sich die heute in Russland bestehenden Gemeinschaften von Betrieb zu Betrieb, von Ort zu Ort, mehr noch: von Direktor zu Direktor und von Kollektiv zu Kollektiv. Das ist wichtig festzuhalten: Verantwortliche persönliche Beziehungen sind wesentlich für dieses Modell, ohne die es nicht wirken kann. Das zweite ist: Wenn es darum geht, aus der sowjetischen Vergangenheit zu lernen, dann muss klar sein, dass die beste sozio-okonomische Ordnung nichts taugt, wenn sie per Zwang und Gewalt hergestellt, aufrechterhalten oder fremden Verhältnissen aufgepfropft wird wird. Als Drittes möchte ich meiner Überraschung und Freude darüber Ausdruck geben, dass in der Debatte um diesen Vortrag, intensiver und noch viel lebendiger als erhofft, Parallelen aus der Geschichte der DDR und aus der Lage im heutigen Ostdeutschland zutage traten, die zeigen, dass hier im Interesse der Entwicklung einer solidarischen Ökonomie noch viele Probleme zu lösen, aber noch mehr Schätze zu heben sind. Wer sich dafür interessiert, möge sich bei mir melden.
Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de
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