Neue Heimat, Neue Kultur

Hamburg im Sommer1950. Den sechsjährigen Kai Ehlers zieht es mit Macht zu seiner Mama. Zwar musste er schon zu Bett gehen, während sie noch einmal das Haus verlassen hat, um Bekannte in der neuen Reihenhaus-Siedlung zu besuchen – aber Kai kann nun einfach nicht mehr auf sie verzichten. In der Dämmerung steigt er aus seinem Bettchen, klemmt sich die Decke unter den Arm und verlässt das Haus über die Gartentür. Die Erwachsenen fragen sich später, wie der kleine Junge es wohl geschafft haben mag, mitsamt seines Gepäcks kreuz und quer über zahlreiche Gartenzäune zu steigen. Doch tatsächlich bringt seine Suche Kai irgendwann in das richtige Grundstück, wo er seine verdutzte Mutter in die Arme schließt.

Ein idyllisches Landhaus in der Bodenseeregion, Mitte der Sechziger Jahre. In der Familie eines gutsituierten Sägewerkbetreibers lebt die kleine Frederike als jüngste von sechs Geschwistern. Alle sind hier schwer beschäftigt. Notfalls bis spät in die Nacht hinein harrt Frederike manchmal in ihre Bettdecke gehüllt auf der Treppe aus, um die Mutter abzupassen. In den kostbaren zehn Minuten, in denen die beiden dann zusammen noch ein Brot essen, hat sie ihre Mama endlich einmal ganz für sich.

Kai und Frederike – obwohl sie doch durch stark unterschiedliche materielle Herkunftsverhältnisse, durch Zeiten und Orte (und schließlich auch durch die Zugehörigkeit zu verschiedenen Lagern innerhalb der westdeutschen Alternativgesellschaft) geprägt sind, werden die beiden Kinder, die damals in eine Bettdecke gehüllt auf ihre Mutter gewartet haben, später zueinander finden. Als es Mitte der 80er-Jahre dazu kommen sollte, arbeitete Kai, dem ein Lehrer prophezeite, er würde entweder als Verbrecher oder als Revolutionär enden, bereits Jahre als undogmatisch-weltoffener Redakteur in der Zeitung einer kommunistischen Splittergruppierung. Und Frederikes Weg hatte sie zu einer anthroposophischen Eurhythmiekünstlerin gemacht, die damals nach der richtigen Inspiration suchte, um dem eigenen Anspruch nach positiver Einmischung in die Gesellshhaft einen geeigneten Ausdruck zu geben.

Aber der Reihe nach:

Eine einfache, glückliche Kindheit sieht wohl anders aus. Als Kais Mutter gegen Ende des Krieges mit Mühe und Not vor den rachsüchtigen Tschechen aus dem Sudetengau flieht, stirbt das Baby fast an der Ruhr. Nur dank dem volksmedizinischen Ratschlag einer alten Russin – „Kind krank! Trinken schwarzen Tee mit Pferdemist!“ – kommt Kai gerade noch durch. In Dresden wird die Mutter verschüttet; verletzt macht sie sich mit dem rachitischen Kai und seiner älteren Schwester auf ins heimatliche Hamburg. Da der Jüngste jedoch nicht in der Stadt geboren wurde, sondern im April 1944 (leider nur fast termingerecht zum magischen NS-Datum „Führers Geburtstag“) im Sudetengau, lässt die städtische Nachkriegsverwaltung das papierlose Kind jahrelang nicht zu seiner Mutter ziehen. Erst mit sechs darf es nach langem Behördenkampf und langen Jahren bei einer Pflegefamilie zwar endlich bei ihr wohnen, doch sie kann nicht in dem Maße für den Sohn da sein, wie dieser es bräuchte. In diese zwei Jahre, während der sie „eine kleine Familie“ sind, fällt die eingangs wiedergegebene Anekdote um Kais Hintergarten-Odyssee; dann jedoch gibt sie ihn aufgrund ihrer Arbeitsbelastung abermals weg, diesmal in die Familie eines Dorfschmieds in der Lüneburger Heide. Den folgenden Abschnitt erlebt Kai als „eine der intensivsten Zeiten“ seines Lebens, während der er ungeheuer viel lernt. Neben der Schule muss er „wie ein Alter“ in Haus, Hof und Betrieb arbeiten. Rückschauend empfindet er seinen dortigen Platz zwar einerseits als quälend; auf der anderen Seite zieht er noch heute Kraft aus der intensiven Erfahrung des Bauern- und Schmiedelebens. Gut in Erinnerung ist ihm zudem die sonderbare Stellung seiner Pflegeeltern im Dorf: Da die Frau des Schmieds vormals als eine von drei begehrenswerten Schwestern in der Nachbargemeinde selbständig einen etwas abgelegenen Haushalt führte, hängt ihr noch immer der Ruf einer Hexe an. Im Dorf erfährt Kai wegen dieses vermeintlich schlimmen Umstands allgemeines Mitleid; der Schmied selbst jedoch erkrankt wegen den üblen Nachreden an seiner Frau am Magen. Kais Mutter erkennt die Unmöglichkeit der Situation, und da er ohnehin von der Mittel- auf die Oberschule wechseln soll, landet er für die folgenden zwei Jahre in einer himmelschreiend bigotten Pastorenfamilie am Rande Hamburgs. Als er 13 oder 14 ist, nimmt ihn die Mutter, die nun offenbar gewillt ist, ihre bisherige Nicht-Präsenz zu kompensieren, wieder bei sich auf. Sie hat ihm ein „perfektes“ Zimmer eingerichtet, mit farblich abgestimmten Möbeln und Wänden: „ Alles Etepetete!“ Entsetzt von diesem Ausdruck der Fremdbestimmung, gestaltet Kai zunächst einmal die Tapeten seines „perfektes Gefängnisses“ großflächig mit Kohlestiften um. Sofort begreift die Mutter die Vergeblichkeit ihres Versuches, die verlorene Zeit durch materielle Zuwendung wiedergutzumachen, und so hält sich ihr Zorn in Grenzen. Für anderthalb Jahre versuchen die beiden miteinander auszukommen, doch sie muss sich irgendwann eingestehen, dass sie mit dem pubertierenden Schlüsselkind nicht klarkommt. Abermals muss Kai weg, diesmal in ein Heim für schwererziehbare Schüler bei Osnabrück: „Einfach grauslich!“ Als aufkommt, dass er statt zum Konfirmandenunterricht in die Tanzstunde gegangen ist, will der Heimleiter handgreiflich werden, doch Kai kann die Ohrfeige abwenden, indem er mit seiner Mutter droht. Tatsächlich steht diese zwei Tage später vor der Tür und kümmert sich darum, dass ihr Sohn bis zu seinem Abitur in einer Pension unterkommt. „Das war insofern ganz toll“ hält Kai ihr heute zugute,„sie war zwar auf Distanz zu mir, aber wenn es drauf ankam, war sie solidarisch zur Stelle.“

Schon mit 14 Jahren hat Kai angefangen, intensiv ein Tagebuch zu führen, welches er bis zum heutigen Tag unter dem Titel „ME – Mein Ersatz“  weiterschreibt: „Meine Mutter redete nicht mit mir, deshalb musste ich mir das Buch zulegen.“ Nun, im Gymnasium der konservativen Kleinstadt, organisiert der aufbegehrende Junge Arbeitskreise und gründet eine Schülerzeitung. Die restlichen Schuljahre verbucht er als gute Zeit, weil er sich mit den Dingen beschäftigen kann, die ihn tatsächlich interessieren; unter anderem besucht er etwa einen jungen Literatenzirkel. Nachdem sein Ruf im Ort spätestens durch ein phänomenales Abiturbesäufnis vollends ruiniert ist, zieht er für eine Weile durch die Welt – kehrt jedoch aus Italien zurück, weil seine Mutter möchte, dass er Lehrer wird.

In Göttingen studiert Kai „alles mögliche“, wohnt wunderschön in einem Gartenhaus, dessen romantisches Ambiente den Rahmen für erste Frauenbegegnungen abgibt. Endlich einmal so etwas wie Heimat? Sich-heimisch-fühlen auch in der lange entbehrten weiblichen Energie? Vielleicht. – Indes, das Studium von Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaften vermag ihm bald nichts mehr zu geben. Ganz bewusst bricht Kai 1967 aus der Idylle nach Berlin auf, wo er – sicherlich nicht ganz zu unrecht – den Zeitgeist vermutet.

„Ich bin die ersten zwanzig Jahre in einer äußerlich total behüteten Situation aufgewachsen, an einem Ort mit fünf älteren Geschwistern und einem Kindermädchen“, beginnt Frederike die Erzählung ihrer Kindheit und Jugend. Die Holzhändlerfamilie bewohnt ein wunderschönes Anwesen in der „lyrisch-musikalischen Landschaft“ des Bodensees; der Vater, ein vertriebener adliger Gutsbesitzer aus Posen, hat noch weitere fünf Kindern aus erster Ehe. In der Familie wird viel gesungen, die Mutter hat eine tolle Stimme und lässt sie beim „Abwaschen, Äpfelpflücken oder Autofahren“ hören. Mit sechs bereits beginnt Frederike Klavierspielen zu lernen, zunächst drei Jahre lang autodidaktisch – ihr großes Ziel sind Beethovens Sonaten. Sehr früh schon fühlt sie außerdem eine starke Verbindung zur natürlichen Welt, zum Bach und zu den Bäumen des Grundstücks, denen sie sich ganz anvertraut; hier ist sie vielleicht mehr noch zu Hause als in der Welt ihrer Familie: „Das äußere Heil war im Grunde ziemlich marode, weil die Beziehungen nicht klappten.“ Dass sie nicht viel von ihrer Mutter hat, der faktisch die ganze Betriebsführung im Sägewerk obliegt – der Vater war innerlich an der Vertreibung zerbrochen –, davon kündet die eingangs beschriebene Treppen-Strategie der kleinen Frederike. Zwar wachsen die Geschwister teilweise in Internaten auf, aber die trotz dieser familiären Entlastung immer noch chronisch überarbeitete Mutter kann die kleine Frederike dennoch nicht angemessen begleiten, auch was die Förderung des jungen musischen Talents betrifft. Und noch etwas Anderes, eigentlich Unerklärliches überschattet Frederikes Leben schon früh: sie besitzt eine seltsame Affinität zu den Themen Tod und Krieg, die so etwas wie den Gegenpol zur lichten Seite ihrer Musikalität darstellt. In Friedrichshafen, wo sie den Kindergarten besucht, fühlt sie die Anwesenheit der vielen im Weltkrieg umgekommenen Menschen. Bereits zuvor hatte sie intuitiv die unverarbeitete Kriegssituation ihrer Eltern wahrgenommen. Die sprechen zwar durchaus viel über die Vertreibung, aber Frederike kann diese dunkle Vergangenheit nicht in Einklang bringen mit der eigenen, oberflächlich so heilen Gegenwart. Als sie mit drei Jahren – vielleicht zum ersten Mal bewusst – Musik hört, kommen ihr die Tränen, weil sich ihr hier alles Gegensätzliche der eigenen Situation offenbart. Nur mit einem Kirschbaum kann sie jedoch über diesen Abgrund sprechen. Zieht ein Gewitter herauf, hält sie die Spannung kaum aus. Oft läuft sie in den Wald, möchte sich am liebsten an die Wurzeln der Buchen klammern oder sich mit bloßen Händen in die mütterlich-schützende Erde eingraben. In der Schule zieht die eigentlich unnahbare Einzelgängerin Scharen von Kindern an, wenn sie die „tollsten Phantasiegeschichten mythischer Art“ erzählt. „Mich hat beschäftigt: Wo hört die Welt auf, und wo ist die Brücke, über die es in den Himmel geht?“

Die Pubertät bringt Frederike natürlich nur noch weitere Pein. Als Zwölfjährige schwört sie dem Fernseher ab und will nur mehr Klavier spielen; mit 14 beginnt die von Freunden und Lehrern Unverstandene in den Schriften Sartres und Camus’ zu suchen. Nihilismus gemischt mit Depression, Flucht in Musik und Natur, Existenzialismus und Surrealismus – Was klingt wie die Blaupause für einen rabenschwarzen Song von The Cure brachte Frederike an den Rand des seelisch Ertragbaren. An manchen Tagen, wie dem ihrer verhassten Konfirmation, überlässt sie sich völlig den Tränen.

Dann erkrankt ihre Patentante, eine überzeugte Anthroposophin. In ihrer Freizeit fährt Frederike wiederholt in das Steiner-Mekka Dornach, um sie zu pflegen. Bereits mit vier war sie dort erstmals im berühmten Goetheanum gewesen und hatte eine Eurythmieaufführung gesehen; die Darsteller vermittelten ihr damals den Eindruck von „tanzenden Engeln auf Erden“ – eine Offenbarung für das kleine Mädchen, das seitdem immer wieder nach Gelegenheiten giert, eine solche Aufführung zu sehen. Nun, mit 16, findet sie unter bei den Dornacher Anthroposophen heraus, dass es tatsächlich Menschen gibt, die danach streben Kunst und Natur zu verbinden! Frederike ist sich sicher, ihren Weg gefunden zu haben; sie verschlingt Steiner-Literatur und beginnt intensiv zu meditieren. Dies hilft ihr zunächst einmal über die allgemeine „Verzweiflung und Lieblosigkeit“ in Schule und Familie hinweg und sie versteht, dass sie als „absoluter Fremdling“ in dieser Welt nicht gezwungen ist, sich anzupassen. Anhand eines weiteren Buchs nimmt sie einen erhellenden Blick hinter die Kulissen der offiziellen Geschichtsschreibung – doch die bewusstseinserweiternden Informationen führen letztlich nur zu weiterer Dissonanz mit dem Geschichtslehrer. „Groll und Zorn und eine unglaubliche Wut“ über das System erfassen sie. „Hätte ich nicht die Anthroposophie kennengelernt, wäre ich auch auf die Barrikaden gegangen“ meint sie heute mit Blick auf Kai. So aber habe sich ihre Revolution im Innern abgespielt.

Als Kai 1967 nach Westberlin kommt, gibt es dort zwar noch keine Barrikaden, wie ein Jahr später in Paris. Aber offenbar passiert in der Mauerenklave etwas völlig Neues und dieser Kulturbruch lockt ihn gewaltig. Er weiß, dass er zunächst etwas erleben muss, bevor er als Literat etwas Substanzielles schreiben kann. In den Trümmerhäusern der Stadt teilen die Hippies in spontanen und offenen Gemeinschaften ihr weniges Hab und Gut. Kai ist dabei, doch Jahre später erst wird er verstehen, was ihn an den 68er-Geschehnissen und an der später in der UdSSR miterlebten Übergangsphase so reizte: „Ich selber bin ein lebender Kulturbruch. In meiner Person bricht sich die mitteleuropäische Kultur sowohl sozial als auch kulturell-politisch. Schon als vater- und heimatloses Kind habe ich mich gefragt, ob ich der Sohn Goethes oder der Sohn Hitlers bin. Mein Grundproblem, mit dem sich auch alle meine Bücher beschäftigen,  war und ist deshalb dies: Wie kann ich Heimat und Beziehung immer wieder neu herstellen?”

In Berlin und später in Hamburg erlebt Kai nun seine Revolutionszeit, die Zeit der Entstehung seiner Person, wie er es ausdrückt. Seine Erzählungen lassen darauf schließen, dass er innerhalb der 68er-Szene offenbar eine Art Grenzgänger war zwischen den Lagern der hyper-politischen Studenten und der Lebenskünstler-Hippies, die nicht nur die Gesellschaft, sondern auch sich selbst transformieren wollen. 1970 zieht er nach Hamburg, wo er mit Freunden in einer alten Villa die „Ablassgesellschaft“ ins Leben ruft – eine berüchtigte revolutionäre Künstlerkommune mit anarchistischen Ansätzen, die bald noch weitere Ableger in der Stadt unterhält. Etwas vage umschreibt er die dortigen Aktivitäten so: „Wir waren der Kunstterror schlechthin. High life! Dort haben wir alles gemacht, was man den 68ern so nachsagt …“

Nach anderthalb Jahren verlässt Kai das Projekt und landet schließlich mit einem Salto-mortale in einer der größeren und undogmatischeren der zahlreichen Post-68er-K-Gruppen, dem „Kommunistischen Bund“. Diese Gruppierung streitet nicht zuletzt mit ihrer Zeitung „Arbeiterkampf“ (heute: „Analyse & Kritik“) gegen Krieg und neo-faschistische Tendenzen und für eine menschliche Gesellschaft. Als langjähriger Redakteur des Blattes ist es Kai ein besonderes Anliegen, die Gruppe für konkrete gesellschaftliche Utopien – das heißt für die Frage nach echter kultureller Erneuerung – zu öffnen. Da er nebenher Yoga macht und sich nicht scheut, etwa auch die Baghwan-Anhänger als Teil der Alternativbewegung mitzudenken, gilt er parteiintern als „bunte Kuh“.

Mitte der 80er Jahre beginnt Kai schließlich die Veränderungen, die er eigentlich für die eigene Gruppe und die eigene Gesellschaft erhofft, in der Sowjetunion zu spüren. Wie schon ’68 zieht ihn der dort sich ankündigende Kulturbruch wie ein Magnet an. Zwei, drei Mal reist er noch vor der Wende als  Tourist und später als Touristenführer nach Russland – und bei einer dieser Fahrten begegnet ihm auf der Fähre nach Helsinki eine schüchterne Frau …

Frederike hatte sich schließlich für die Eurhythmie-Ausbildung entschieden und tourte nun bereits seit einigen Jahren mit einem Ensemble durch ganz Europa. Doch anders als das Gros ihrer Kollegen ist sie dabei getrieben von einer starken politischen Motivation: „Kriegen wir auch das, was dahintersteht, auf die Bühne?“ fragt sie sich, „Können wir beispielsweise die Menschen, die im Kohlenwerk rackern und mit dieser gesellschaftlichen Grundlagenarbeit unsere Arbeit erst ermöglichen, gedanklich einbeziehen? Wie kann ich diesen Menschen mit meiner Arbeit etwas zurückgeben?“ Viel stärker möchte sie gesellschaftlich wirken durch ihr Tun und endlich die normalen Menschen kennenlernen. Und sie will endlich den Mann treffen, der ihr bei ihrer Mission behilflich sein kann – ja sie weiß sogar, wie er aussieht. Schon als sie Kai auf der Hinfahrt über die Ostsee sieht, spürt sie sofort, dass er der Richtige ist und sie nun eigentlich handeln müsste. Gut, dass sie beide zufällig auch für die Rückfahrt dieselbe Fähre benutzten und er sich – seinerseits von der Fremden angezogen – in ihre Nähe setzt, während sie noch immer überlegt, wie sie über ihren eigenen Schatten springen und ihn ansprechen soll. Das nun folgende Gespräch dauert bis Nachts um vier, wobei Kai sich erinnert, dass es eher die Form eines Intensiv-Interviews annahm, das sie mit ihm führt Einfach alles will sie von ihm wissen und zeigt sich fasziniert von den Möglichkeiten des politischen Wirkens.

Nach dieser ersten Begegnung der Künstlerin und des Kulturbruchforschers dauert es noch eine Weile, bis aus den beiden unterschiedlichen Menschen ein Paar wird. Immer wieder, sagt Kai, müsse er sich seither entscheiden, mit dieser fremden Geschichte in Beziehung zu sein. An Frederike habe er jedoch gelernt, das Andere zu schätzen und es bewusst anzustreben, das Fremde kennenzulernen, weil es eine Bereicherung ist, wenn Gegensätze zusammen einen neuen Körper formen. Dies sei der Erfolg seiner Suche nach neuer Heimat.

1989 verlässt Kai nach 15 Jahren Mitgliedschaft den Kommunistischen Bund, da er merkt, dass es ihm nicht gelingen würde, diesen für neue Horizonte zu öffnen; am Erscheinungstag der letzten AK-Ausgabe unter seiner Beteiligung schenkt ihm Frederike einen Sohn. Wieder löst neue Heimat die alte ab.

Die Wende im Osten bringt dem Paar schließlich auch Gelegenheit, ihre unterschiedlichen künstlerischen und politischen Herangehensweisen sinnvoll zu verbinden. Als Teilnehmer eines russischen Kongresses von 400 denkoffenen Psychotherapeuten ermuntert Kai Frederike – die nie zuvor öffentlich gesprochen hat – vor dem Auditorium über „anthroposophische Psychotherapie“ zu referieren; im Foyer des Saales hat er selbst ein kretisches Labyrinth nachgebaut und gibt darin „Transformationsübungen“ für die Anwesenden. Das später noch oft wiederholte Seminar will anhand der Figur des Labyrinths den Wandlungsprozess „sinnlich erfassbar, methodisch erkennbar und auf die persönliche Befindlichkeit und Lebenssituation beziehbar machen.“ Die gelungene „Anschauungshilfe in Soziokultur“ im Verbund mit Frederikes Wirken gibt der Veranstaltung einen starken Impuls – eine Sternstunde für das Paar.

Noch weiter im Osten, in der Mongolei, knüpft Kai über viele Jahre hinweg Kontakte zur nomadischen Bevölkerung. Die transformatorischen Veränderungen, denen auch diese noch nicht industrialisierten Gesellschaften unterworfen sind, wird er später in einem Buch über die „Zukunft der Jurte“ beschreiben. Andere seiner zahlreichen Publikationen behandeln die für den Westen zunehmend lehrreichen Ansätze zur Selbstorganisation in der postsowjetischen Gesellschaft („Die Erotik des Informellen“; siehe KK 150) und im gesamten asiatischen Raum („ Asiens Sprung in die Gegenwart“).

Prägend auf sie beide wirkt die Begegnung mit dem Pionier der Neuen Arbeit, Frithjof Bergmann (siehe KK 148?). Frederike, die Eurhythmie seit der Geburt ihres zweiten Kindes nun schwerpunktmäßig therapeutisch einsetzt, hat sich seither darangemacht, gemeinsam mit einer Handvoll Mitstreiter die Vision eines „Eurhythmie-Werks“ zu realisieren, das nach Bergmann’schen Ideen die herrschende Arbeits- und Konsumlogik auf den Kopf stellen soll: „Für Wellness und Heilung ein Vermögen zu bezahlen, das stimmt für mich nicht. Mit Eurhythmie produzieren wir kostbare Energie – Wärme, Licht, gute Luft im geistigen Sinn. In unserem Werk sollen alle Leute mitarbeiten können: Hier geht man zu einem Eurhythmiekurs, arbeitet dort den ganzen Tag und nimmt anschließend noch hundert Euro mit nach Hause. – Das ist völlig anders als beim herkömmlichen Wellness-Konsum, wo man sich selbst aufbaut, nur um anschließend wieder vom System fertiggemacht zu werden.“  In der neuen Gesellschaft gehe es um die Fähigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Mittels der Eurhythmie könnten die Menschen an die Quelle der Sprache gelangen und endlich ihr eigenes Kreativitätspotential entdecken. – Wenn Frederike davon erzählt, wie sich ihre Hamburger Eurhythmiegruppe auf diese Weise allmählich zu einer politischen Kraft entwickelt, klingt diese Idee gar nicht so abwegig.

Kai begleitet Frederikes Projekte mit wohlwollendem Abstand: Er stehe der Gruppe als Gesprächspartner zur Verfügung, selber Tanzen möchte er aber nicht.

Es gibt andere Stricke, an denen sie besser gemeinsam ziehen können. Nach Erscheinen von Kais Buch über die Idee des „ Grundeinkommens für alle“ als einem „Sprungbrett in die integrierte Gesellschaft“ (siehe KursKontakte 150) gründen sie Anfang 2006 ein Forum, auf dem die Thesen des Buchs diskutiert werden und wo vor allem darüber nachgedacht wird, was zu tun ist, damit die gesamtkulturellen Veränderungen stattfinden können, die Kai zufolge Voraussetzungen dafür sind, dass die Einführung eines garantierten Grundeinkommens tatsächlich die erhofften positiven Effekte zeigen kann – Denn was hilft dieses Instrument in einer Gesellschaft,  deren Mitglieder nie gelernt haben, selbstbestimmt  zu arbeiten oder auch nur sinnvoll mit ihrer Freizeit umzugehen? Ein fundamental anderes Verständnis von Arbeit scheint nötig, und Kai setzt in dieser Hinsicht insbesondere auf den Vorbildcharakter der bestehenden Gemeinschaften sowie auf die transformatorische Kraft des Dreigliederungsgedankens Rudolf Steiners (siehe KursKontakte Nr. 129). ­– Hat sich Kai, der seine Bücher mittlerweile bei einem anthroposophischen Verlag veröffentlicht, zu einem „Anthro”  gewandelt? „Mein Anliegen ist das, was ich integrierte Gesellschaft nenne: das In-Beziehung-Setzten der verschiedenen isolierten Ein-Punkt-Bewegungen. Hier ist es meine Rolle, denkerische Prozesse anzustoßen. Ich bin aber kein Nachbeter; ich habe über die Neue Arbeit geschrieben, bevor ich Bergmann kennengelernt hatte; ich war in Russland, bevor Gorbi an die Macht kam. Ich schaue mit meinen Augen und das trifft sich dann oft mit dem was andere sehen: auch zum Beispiel mit Steiner, obwohl ich kein Steinerist bin. Und wenn ich unabhängig zu ähnlichen Schlüssen komme wie andere, so erkenne ich daran die Wahrhaftigkeit und Gültigkeit meiner Wahrnehmung.“

Die Beschäftigung mit den russischen und westeuropäischen Gemeinschaften neuen Typs lässt nun jedoch immer hartnäckiger die Frage nach dem eigenen Lebensentwurf in den Vordergrund treten: Die Kleinfamilie mit zwei Kindern, Häuschen, Hühnern, Hund und Katze, das ist eigentlich nicht das, was Kai sich einmal so vorgestellt hat, selbst wenn – zur großen Empörung der Nachbarn – eine original mongolische Jurte im Garten steht.

So steht also einmal mehr die Suche nach neuer Heimat an. Gemeinsam machen sie sich daran, aktiv neue Beziehungen aufzubauen – Späteres Finden von Gemeinschaft und einer neuen Kultur nicht ausgeschlossen … •

Veröfffentlicht in KursKontakte, Nr. 152