Unbewältigte Geschichte – aufgerüstete Normalität. Mord an Jürgen Ponto, Stammheim, „Deutscher Herbst“

Dreißig Jahre ist es her, doch eher verdrängt als bewältigt: Am 30. Juli 1977 wird Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank, in seiner Wohnung von einem RAF-Kommando erschossen. Beteiligt sind Susanne Albrecht, Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar und als Fahrer des Fluchtwagens Peter-Jürgen Book. Am Tag darauf bekennt sich eine „Befreiungsbewegung Aktion Roter Morgen“ zu der Tat. Sie nennt Ponto einen dieser „Typen, die in der Dritten Welt Kriege auslösen und Völker ausrotten.“

Der Kritik an diesem Mord begegnet die RAF mit der Erklärung, man habe Ponto entführen wollen, um die Freilassung von inhaftierten RAF-Mitgliedern zu erzwingen und Geldmittel zu besorgen. Als Ponto sich gewehrt habe, sei er im Handgemenge getroffen worden. Später erklärte Susanne Albrecht, Ponto sei ohne Widerstand zu leisten erschossen worden. Diese Variation übernahm auch das Gericht, das Susanne Albrecht zu zwölf Jahren Haft verurteilte. Welche Erzählung über den Tathergang am Ende stimmt, muss offen bleiben. Die Öffentlichkeit, auch die Linke, reagierte mit Entsetzen, insbesondere angesichts der Kaltschnäuzigkeit, mit der Susanne Albrecht als damalige Freundin des Hauses Ponto die Türöffnerin für das Überfallkommando abgab.

Jürgen Ponto war das zweite Opfer der „Offensive 77“ der RAF. Am Anfang stand Generalbundesanwalt Siegfried Buback, der am 7. April 1977 beim Halt an einer Ampel in Karlsruhe von einem Motorrad aus erschossen wurde. Drei weitere Insassen des PKW starben mit ihm. In dem darauf folgenden Bekennerschreiben wurde Buback für die in der Haft umgekommenen RAF-Mitlieder Holger Meins, Ulrike Meinhof sowie den bei der Erstürmung der Stockholmer Botschaft getöteten Siegfried Hausner verantwortlich gemacht. Anwälte inhaftierter RAF-Mitglieder erklärten öffentlich, dass sie in „tiefster Empörung und Abscheu den sinnlosen den brutalen Mord verurteilen.“

Einige Wochen nach der Ermordung Pontos bereitet ein RAF-Kommando einen Angriff auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe vor, indem sie eine selbst gebastelte Raketenwerfer-Anlage in einem Privathaus gegenüber dem Gebäude der Anwaltschaft installiert. Der Anschlag schlägt fehl, weil die Zündung versagt; ein Erfolg hätte katastrophale Folgen gehabt.

Mit der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer am 5.9.1977 beginnt das, was als „Deutscher Herbst“ in die Geschichte der BRD eingehen wird. Schleyers Konvoi wird in Köln auf offener Straße gestoppt, seine Begleitmannschaft erschossen, er selber entführt. Ein „Kommando Siegfried Hausner“ fordert ultimativ die Freilassung von elf führenden RAF-Mitgliedern, die in ein Land ihrer Wahl ausgeflogen werden sollen, sowie öffentliche Verhandlungen zwischen Bundesregierung und Entführern über Presse, Funk und Fernsehen.
Im Gegenzug bildet die Regierung unter Kanzler Helmut Schmidt einen überparteilichen „Großen Krisenstab“. Dieser verhängt eine absolute Nachrichtensperre, eine Kontaktsperre über die Gefangenen der RAF und leitet eine bundesweite Fahndungsaktion ein. Auf die Forderungen der Entführer allerdings wird nur zum Schein eingegangen. Fünf Wochen nach Schleyers Entführung, am 13. Oktober 1977, wird eine Maschine der Lufthansa, die Landshut, mit 91 Menschen an Bord von einem palästinensischen „Kommando Matyr Halimeh“ gekapert. Auf dem Irrflug der Landshut zu einem möglichen Landeplatz wird der Flugkapitän Jürgen Schumann erschossen. Nach fünf Tagen landet die Maschine in Somalia. Hier wird sie von einem GSG-9 Sonderkommando in der Nacht vom 17. auf den 18.9. gestürmt, drei der Entführer werden erschossen, die Geiseln befreit.

Am Morgen danach, also am 18.9., werden Andreas Baader erschossen, Gudrun Ensslin erhängt, Jan Carl Raspe angeschossen und sterbend und Irmgard Möller durch Messerstiche verletzt im Stammheimer Gefängnis aufgefunden. Die offizielle Erklärung zu den Vorfällen folgt umgehend: Selbstmord. Einen Tag später geht bei der französischen Tageszeitung Liberation ein Schreiben ein, in dem die RAF mitteilt, dass man „nach 43 Tagen Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet“ habe. Die Polizei findet den Leichnam Schleyers im Kofferraum eines PKW im Elsaß; der Entführte ist durch Genickschuss getötet worden.

In diesen Tagen erreichte die schon lange medial geschürte Lynchstimmung gegenüber den inhaftierten RAF-Mitgliedern ihren Höhepunkt. Die durch den neuen Straftatbestand der Unterstützung der terroristischen Vereinigung eingeschüchterte linke und linksliberale Szene beeilt sich Distanzierungsgesten von der RAF abzugeben. Schon im März hatte der Staatsschutz nach § 88a StGB zum Beispiel gegen die Mitglieder des Verbandes des linken Buchhandels wegen „verfassungsfeindlicher Befürwortung von Straftaten“ ermittelt. Nach dem so genannten Mescalero-Nachruf auf Siegfried Buback in der Göttinger Studentenzeitung fand im Mai in Göttingen eine Großrazzia in allen verdächtigen Einrichtungen und Wohnungen statt. Und zum Auftakt der Aktion „Wasserschlag“ wurden am 17./18. Oktober in Berlin 38 Büros, Buchhandlungen und Wohnungen durchsucht.

In dieser Situation wagten nur noch wenige Medien Zweifel an der Selbstmordthese der Behörden vorzubringen. Der Arbeiterkampf des in Norddeutschland aktiven Kommunistischen Bundes beispielsweise kritisierte zwar die Handlungsweise der RAF, insbesondere die Geiselnahme Unbeteiligter in der Landshut, als „verbrecherisch“, forderte aber zugleich die Einsetzung einer internationalen Untersuchungskommission zur Aufklärung der Umstände, die zum Tod beziehungsweise zur Verletzung der Stammheimer Gefangenen geführt hatten. Mit dem Verdacht, die Gefangenen könnten ermordet worden sein, stand die marginalisierte Linke nicht allein, führende europäische Tageszeitungen teilten die Forderung, die Vorkommnisse ist Stammheim zu untersuchen.

Eine solche Kommission wurde nie eingesetzt, vielmehr ist eine Aufklärung der Ereignisse durch den sofortigen Umbau des Stammheimer Hochsicherheitstrakts bewusst verhindert worden. Bis heute muss daher offen bleiben, ob die Gefangenen sich zum Freitod miteinander verabredet haben, wie die Bundesanwaltschaft es erscheinen ließ, oder ob sie von interessierter Seite umgebracht wurden. Irmgard Möller bestreitet bis heute eine solche Verabredung, andere RAF-Mitglieder, unter anderem Susanne Albrecht, behaupten, es habe den Plan gegeben, mit dem eigenen Tod ein letztes Fanal gegen den Staat zu setzen, falls die Landshut-Aktion scheitern sollte.
Der „Deutsche Herbst“ veränderte die Gesellschaft der BRD auf eine Weise, die 25 Jahre später der um Objektivität bemühte Diplomand Christoph Bahn in seiner Abschlussarbeit als „Aufrüstung der Normalität“, die zur „chronischen Bedrohung der Freiheit werden“ kann, zusammengefasst hat. Diese Aufrüstung beinhaltete ein Bündel juristischer und administrativer Maßnahmen, die den Boden vorbereiteten nicht nur für die heutige internationale Terrorabwehr, sondern auch für die mögliche Bespitzelung der eigenen Bevölkerung.

Zunächst wurde mit der Einsetzung des Krisenstabs faktisch die verfassungsmäßige Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt. Der schon erwähnte § 88a StGB, damals als „Maulkorbparagraph“ angeprangert, war auf Kriminalisierung der Linken angelegt. Er untergrub die politische Diskussionskultur und bereitete die Bevölkerung auf den „großen Lauschangriff“ späterer Jahre vor. Mit §129a StGB (Bildung einer kriminellen Vereinigung) wurde die Strafverfolgung vor die eigentliche Tat verlagert; zahlreiche Strafrechtsänderungen höhlten die Meinungsfreiheit und die Rechte der Verteidigung und der Inhaftierten aus. Die RAF-Attentate lieferten dem Staat den Vorwand, Polizei und Geheimdienste aufzurüsten und in neue, durch das Grundgesetz nicht gedeckte Kommandostrukturen zu überführen. Die bei der Entführung der Landshut eingesetzte GSG 9 etwa entbehrte jeglicher verfassungsmäßigen Grundlage. Mogadischu war das Aufmarschfeld, auf dem der „finale Todesschuss“ legitimiert und exekutiert wurde.

Unter dem Stichwort des Kampfes gegen die „organisierte Kriminalität“ wurden diese Strukturen und Maßnahmen in den auf den „Deutschen Herbst“ folgenden Jahren weiter ausgebaut. Seit dem 9.11. 2001 ist der „permanente Ausnahmezustand“ zum Alltag eines Staates geworden, der sich inzwischen als präventiver Sicherheitsstaat begreift, und längst ist der „Deutsche Herbst“ dabei in einen europäischen überzugehen, wie etwa die Zusammenarbeit europäischer Sonderpolizei-Einheiten in der sog. „Atlas-Gruppe“ seit 2002 sowie die Bildung einen EU-Grenzschutzeinheit „Frontex“ nach dem Muster der deutschen GSG 9 zeigt; von den kürzlich laut gewordenen ministeriellen Fantasien, potenzielle Terroristen vorsorglich zu töten, einmal ganz abgesehen.

Kai Ehlers

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*