Tschetschenien – nur noch Banditen?

Seit Anfang Januar gibt es in Tschetschenien, so der russische Generalstabschef Kwaschnin keine Rebelleneinheiten mehr, sondern nur noch versprengte Banditen.
Diese Meldung geht gleich doppelt an den Tatsachen vorbei: Erstens erließ der Innenminister Ruschailo gleich zu Beginn des Krieges im August 1999 den internen Befehl 541: Den Tschetschenen seien harte Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen, ihre polizeiliche Anmeldung einzuschränken oder zu verhindern, ihre Wohnungen und Firmen zu kontrollieren, ihnen keine Reisepässe auszustellen und sie selbst festzunehmen und auf die Reviere des Innenministeriums einzuliefern. Dieser Befehl ist bis heute in Kraft und er bedeutet nichts anderes, als das der Krieg nicht gegen Banditen, sondern gegen die Bevölkerung geführt wird. Er trifft vor allem die Flüchtlinge, die sich in der tschetschenischen Diaspora in anderen Teilen Russlands ansiedeln wollen.
Zum Zweiten ist die markige Siegesmeldung Anatloij Kwaschnins die Neuauflage einer Meldung vom Anfang letzten Jahres, die auch dadurch nicht glaubhafter wird, daß er sie wiederholt: Tatsächlich verging seit dieser Meldung, in deren Folge die Kriegführung von der Armee auf den Inlands-Geheimdienst FSB überging, nicht eine Woche ohne Zwischenfälle – Überfälle, Anschläge, nächtliche Schießereien, Angriffe von Guerillaeinheiten in Stärken von zwei-, dreihundert Mann mit vielen Toten auf beiden Seiten – und als Antwort immer wieder „Strafaktionen“ von russischer Seite, ohne dass das russische Militär tatsächlich Herr der Lage geworden wäre.
Im Oktober 2001 führte Achmad Kadyrow, der Vorsitzende der von Russland gestützten Regierung, eine „Restrukturierung“ seines Verwaltungsapparates mit der Begründung durch, seine Verwaltung sei mit dem „Banditentum“ nicht fertig geworden. Das war nicht anderes als das Eingeständnis, dass es nicht gelungen war, „Banditen“ von der Bevölkerung zu trennen.
Anfang September 2002 musste die Informationsabteilung des russischen Präsidenten bekannt geben, dass in diesem Nicht-Krieg seit August 1999 bis zu dem Zeitpunkt der Bekanntgabe im September 3.483 Angehörige der russischen Streitkräfte gefallen seien und 1.661 verwundet wurden. Die Zahl der getöteten tschetschenischen Kämpfer wird mit 11.000 beziffert. Die Zahlen der eigenen Opfer sind dabei stark nach unten korrigiert. Die später an ihren Verwundungen Verstorbenen z. B. sind nicht unter den Todesopfern nicht mit aufgeführt. Über die zivilen Opfer gibt es überhaupt keine Angaben.
In richtiger Einschätzung ihrer Schwäche streckte die russische Führung daher im Spätsommer des Jahres 2001 Fühler für geheime Verhandlungen aus. Der 11. September 2001 nahm dieser Annäherung offenbar die Notwendigkeit. Ein Treffen zwischen Viktor Kasanzew, dem Bevollmächtigten des Präsidenten für Südrussland, und Achmed Sakajew, einem Vertreter des tschetschenischen Präsidenten Mschadow, fand zwar im Oktober 2001 noch statt, blieb aber ohne Ergebnis einer Entspannung.
Stattdessen hat sich die Spirale von Widerstand und „Strafaktionen“ im Schatten der Anti-Terror-Kampagne der USA seither zu erneuter Höhe hochgedreht: Nachdem am 16.09.2001, unmittelbar nach Wladimir Putins Beitritt zur „Allianz des Terrors“, Gruppen tschetschenischer Guerillakämpfer in Stärke von mehreren hundert Mann überraschend die Städte Gudermes, Argun und Noshaj-Jurt, angeblich schon lange „befriedetes“ Gebiet, angegriffen hatten, wurden bei darauf folgenden „Strafaktionen“ 400 Personen festgenommen.
Nur einen Tag später, am 17.09.2001, wurde ein Militär-Hubschrauber bei der Landung auf dem Flugblatz von Chankala bei Grosny abgeschossen. Die Insassen, drei Besatzungsmitglieder und zehn Passagiere, darunter Generalmajor Anatolij Posnjakow, der stellvertretende Leiter der Operativen Hauptverwaltung des Generalstabs, wurden getötet.
Seitdem reißem die „Säuberungen“ nicht mehr ab. In ihrem Verlauf wurden nach offiziellen russischen Angaben im Dezember letzten Jahres dreiundsiebzig, im Januar dieses Jahres noch einmal fünfundzwanzig „tschetschenische Kämpfer“ getötet und jeweils ca. zwanzig verhaftet.
Die tatsächliche Zahl der Opfer liegt Angaben von Beobachtern der Organisation zur Verteidigung der Menschrechte, „Memorial“, zufolge weit höher: Allein im Dorf Zozin-Jurt in der Nähe Arguns soll es über hundert Todesopfer gegeben haben. Die Berichte machen zudem deutlich, welche Art von „Kämpfern“ die Opfer waren:“ Der 37-j ährigen Mussa Ismailow etwa war der Mulla von Zozin-Jurt. Seine Ehefrau Malika war Augenzeugin, wie die Soldaten ihren Mann fortschleppten. Später durfte sie dessen Leiche abholen, dies aber erst nachdem sie 1000 Rubel, umgerechnet 33 Dollar bezahlt und ein Papier unterschrieben hatte, in dem sie bestätigte, dass der tote Mussa Ismailow ein tschetschenischer „Bojewik“, also Kämpfer gewesen sei.
Die Zeugin „Memorials“ berichtete weiter von Jungen Männern, denen die Geschlechtsorgane abgeschnitten wurden; einem 72-jährigen wurde mit dem Messer `Prosit Neujahr´ in die Haut geritzt.“ Vielfach ließen die betrunkenen Soldaten sich dafür bezahlen, dieses oder jenes Haus nicht zu `säubern´. Für 5000 bis 7000 Rubel seien sie bereit, auf die Durchsuchung zu verzichten.
Laut „Memorial“ haben die russischen Einheiten nicht nur eine Lizenz zum straflosen Töten, sondern auch zum Plündern: Einem Schreiner in Zozin Yurt stahlen die „Säuberer“ Schleif- und Bohrmaschinen und beschlagnahmten seine PKWs. Er fand sie ausgebrannt am Rande des Dorfes wieder. In einem anderen Haus ließen die Soldaten 3000 Rubel mitgehen. Eine beinlose Invalidin wurde aus dem Rollstuhl gestoßen und ihre Ersparnisse von 10.000 Rubeln geraubt. Einige Frauen wurden offenbar vergewaltigt, rund achtzig festgenommene Männer in einem „Filtrationspunkt am Dorfrand geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert.
Aus anderen Orten Rund um Argun werden ähnliche Gräueltaten berichtet.
Angesichts dieser Vorgänge haben sich jetzt selbst Achmad Kadyrow, Moskaus Staathalter in Grosny, sowie der Chef der vom Kreml gestützten Regierung, Stanislw Iljawos von Moskau distanziert. Kadyrow beklagte Übergriffe in den Dörfern Sernowodsk und Assinowski, wo bei den „Säuberungen“ Schulen und Krankenhäuser vollständig ausgeraubt worden seien, während „nicht ein einziger Terrorist aufgegriffen oder Waffen gefunden“ worden seien. Die angebliche antiterroristische Aktion, so Kadyrow, richtige sich eindeutig „gegen die friedliche Bevölkerung und nicht gegen Banditen“.
Selbst der amtierende Befehlshaber der russischen Streitkräfte in Tschetschenien, General Wladimir Moltenskoj, hielt es für nötig, sich für die „schweren Verbrechen an der Zivilbevölkerung und die Gesetzesbrüche“ zu entschuldigen, nachdem er Meldungen darüber zunächst als „phantastische Erfindungen“ abgetan hatte, ebenso Präsidentensprecher Jastremschkij, der zunächst von einer „erfolgreichen Operation“ geschwärmt hatte, inzwischen aber „Verfehlungen“ einräumt. Er gab die Unterlagen über das Wüten der Soldateska inoffiziell sogar an den Beauftragten für Menschenrechte, Wladimir Kalamow, weiter.
Der hat allerdings keinerlei Eingriffssmöglichkeiten, ebenso wenig wie die Staatsanwaltschaft: Von 302 Strafverfahren gegen russische Soldaten in Tschetschenien, so Oleg Orlow, der Chef von „Memorial“ sind 212 wegen „Mangel an Beweisen“ im Sande verlaufen. Das wird sich solange nicht ändern, wie Russlands Präsident Wladimir Putin das Vorgehen der Soldateska im Einverständnis mit seinen westlichen Allianzpartnern deckt.

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