Was ist das Russische an Rußland? Der lange Marsch durch Rußlands Strukturen

Rußlands Krise fordert Lösungen. Seit dem Bankenkrach vom August letzten Jahres reden alle davon, daß Reformen in Rußland an den gewachsenen Strukturen ansetzen müssen. Auch auf westlicher Seite ist man zu neuen Einsichten gelangt. So erklärte Horst Köhler, Präsident der Ost-Europa-Bank, der Westen könne Marktwirtschaft und Demokratie nur dann auf Dauer in Rußland verwirklichen, wenn er sie in der Kultur, der Geschichte und in  den Traditionen des Landes verankere. Was sind diese traditionellen Strukturen? Wie wäre anzusetzen? Von den Auseinandersetzungen um diese Fragen soll in den folgenden dreißig Minuten die Rede sein.

A: O-Ton 1: Tusch, Straßenmusik                1,00
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Sprecher:
Stadtfest im sibirischen Irkutsk. Die Stadt erinnert sich ihrer Geschichte, die mit der Erschließung des Landes durch unabhängige Kaufleute im 16. Jahrhundert begann. Man ist stolz auf diese freie Tradition. Selbst im Freilichtprogramm fehlt der Hinweis auf Sibiriens besondere Rolle nicht. Sibirien bleibe ein Zentrum des wirtschaftlichen Aufbaus für Rußland, verkündet der Animateur. Begeistert fällt sein Auditorium ein.

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Sprecher:
Am Rande des Volksfestes treffen sich Soziologen, Politologen und unabhängige Geschäftsleute mit Vertretern der regionalen Bürokratie zu einer Beratung über die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und des nach ihr benannten Verwaltungsbezirks:

B: O-Ton 2: Versammlung in Irkutsk                0,56
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Erzähler:
„Na uriwinje antimoskowskowo…
„Gegen Moskau oder im Kompromiß mit Moskau? lautet die Frage, die verhandelt wird. Einer der Anwesenden, Oleg Woronin, ehemaliger Aktivist der Perestroika, heute Dozent an der historischen Fakultät von Irkutsk und zugleich erfolgreicher Geschäftsmann, spricht unter dem Thema: „Kompromiß als Weg“.  Ohne Mikrofon, heftig und mit oft überkippender Stimme, versucht er die Anwesenden von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Konkurrenz der Moskauer Finanzclans für den Aufbau der regionalen Industrie zu nutzen. Einen Beraterstab zur Unterstützung der örtlichen und regionalen Bürokratie will man bilden, der den regionalen Beamten zur Hand gehen soll.
Nach der Veranstaltung erläutert der akademische Neuunternehmer, was er unter „Kompromiß als Weg“ versteht:

A: O-Ton  3: Oleg Woronin            0,54
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Übersetzung:
„Nu, ä, smisle dakladow…
„Nun, was ist der Gedanke des Vortrags? Ich denke schon lange und sehe es immer mehr so, daß die marxistischen Termini auf Rußland nicht zutreffen. Die Aufteilung in Klassen korrespondierte nicht mit der Realität, wie wir Soziologen sagen. Als Ergebnis der Stalinzeit hatten wir vielmehr, abgesehen von der Nomenklatura, eine destrukturierte, eine amorphe Gesellschaft. Reale, klar abgegrenzte soziale Strukturen gab es nicht; sie veränderten sich zu Quasi-Strukturen, die den von der Partei gezogenen Privilegiengrenzen folgten. Jetzt geht es darum, wie eine Wiedergeburt sozialer Strukturen in der gegenwärtigen Gesellschaft erfolgen kann. Die grundlegenden Strukturierungen gehen natürlich in der Elite vor sich; das ist die finanzindustrielle Elite, die Unternehmerlite usw. In der Bildung der großen, korporativen Monopole von der Art Gasproms, von der Art des russischen oder des Irkutsker Energieverbunds und anderer bilden sich die Strukturierungen mittelfristiger wirtschaftlicher Interessen.“

Erzähler:
Gut zwei Dutzend solcher Industrie-Finanzgruppen sieht Oleg Woronin im heutigen Rußland miteinander darum kämpfen, wie die russische Torte endgültig aufgeteilt wird. Aber nicht große Privateigentümer sieht er an deren Spitze, sondern Top-Manager, die ihren Unternehmen als kollektivem sozialem Körper verpflichtet sind. Von der Gemeinschaft losgelöste Privatinteressen, so Oleg Woronin, hätten dort keinen Platz; vielmehr gehe es um die Schaffung arbeitsfähiger Großstrukturen. Dauerhaft könne das nur entlang grundlegender sozialer Interessen geschehen:

B: O-Ton 4: Forts. Woronin                 1,15
Regie: Ton stehen lassen, abblenden

Übersetzung:
„Wosnawnoi takoi obsche smisl…
„Kern ist dabei heute der Kampf um die reicheren, mehr Perspektive aufweisenden Unternehmen der Region. Aber das ist nur der erste Schritt. Die Kontrolle konnte man sich leicht aneignen. Die Frage ist jetzt, wie können diese Betriebe arbeiten, insofern die Mehrheit von ihnen moralisch und physisch überaltert ist und, was die Hauptsache ist, über keinerlei Investitionsmittel verfügt? Die Banken fordern Rationalisierungen: Das bedeutet Einsparung des Personals, Abbau sozialer Strukturen wie Kindergärten, Kinderclubs, Lager für Kinder, Krankenhäuser usw. Alles, was früher die Unternehmen aus ihrem Gewinn unterhielten, wird jetzt den Gemeindebudgets zugeschoben. Die haben aber kein Geld; Das heißt, der frühere Dienstleistungssektor wird praktisch der Vernichtung anheimgegeben, er bricht vollkommen zusammen. Einen Ersatz gibt es nicht. Ohne ein Minimum an sozialer Versorgung sind die Belegschaften aber nicht zu effektiver Arbeit zu motivieren. Infolgedessen beginnen die Betriebe selbst mit dem Wiederaufbau sozialer Strukturen bis hin zu betrieblichen Rentenversorgungen. Selbst neue Gewerkschaften werden von Seiten der neuen Unternehmer organisiert und finanziert.“

Erzähler:
Hier will Woronin seinen Weg beginnen. Es gelte, die Konkurrenz der Moskauer Oligarchen für den Aufbau örtlicher und regionaler Strukturen zu nutzen.

A: O-Ton 5: Oleg Woronin, Forts.            1,17
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Wapros w tom, kakije….
„Die Frage ist allein, wie? Wie werden die Interessen organisiert? Da sehe ich folgende Möglichkeiten, die man auch schon an vielen Orten beobachten kann: alle Betriebe zweigen eine begrenzte Summe Geldes aus ihren Mitteln ab zur Gründung eines oder auch mehrerer öffentlicher Fonds des Regierungsbezirkes. Aus diesem Fond teilt die Verwaltung aus; das mag zwar nicht besonders demokratisch scheinen, es geschieht aber in Absprache mit den Betrieben, die das Geld geben. Das Geld geht als Subvention in die Landwirtschaft, und zwar nicht in die Unterstützung einzelner Betriebe, sondern in den Aufbau von Infrastrukturen, also in den Wegebau, in höhere technologische Bedingungen, in Ausrüstungen etc. Das ist ja ein fürchterliches Problem im heutigen Rußland, daß die technischen Ausrüstungen vor Ort ausfallen. Im Gegenzug bieten die landwirtschaftlichen Betriebe, die kein Geld haben, ihre Produkte in den Städten der Region billiger an als in anderen Regionen. So entwickelt sich der Aufbau nach den Prinzipien der gegenseitigen Hilfe im gegenseitigen Interesse.“

Erzähler:
Was in Irkutsk heute zutage tritt, hat sich schon länger im Lande vorbereitet. In der Landwirtschaft war die Privatisierung bereits ein Jahr nach ihrem Einsetzen ins Stocken gekommen. Die Gründung von 400.000 privaten Höfen hatte die Regierung Jelzin für Ende 1992 in Aussicht gestellt; es wurden 180.000; bereits 1993 stagnierte ihre Zahl bei 270.000. Die angekündigte Umwandlung der Kolchosen in Aktiengesellschaften war zwar Ende 1993 nahezu vollzogen; die landwirtschaftliche Produktion aber sank Jahr für Jahr zunehmend. 1994 arbeitete mehr als die Hälfte aller landwirtschaftlichen Betriebe bereits mit Verlust; die Zahl der privaten Höfe war rückläufig. Selbst früher gesunde Betriebe gerieten in die roten Zahlen. So etwa die ehemalige Mustersowchose Tulinskaja im sibirischen Gebiet Nowosibirsk. Wassili Horn, ihr Direktor, erklärt seinem anreisenden westlichen Gast, was geschah:

B: O-Ton 6: Direktor Horn            1,13
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, bil sowchos, stal…
„Nun, sie war eine Sowchose, nun ist sie eine Aktengesellschaft. Kern der AG ist die kollektive Wirtschaft wie vorher auch, aber das Eigentum ist in die Hände der Aktionäre übergegangen. Sie ist kein staatliches Unternehmen mehr, sondern ein privates, jeder hat seinen Anteil vom Vermögen bekommen, vom Land. Es ist alles normal: Gewählt wurde eine Verwaltung, gewählt wurde ein Sowjet; das Problem ist nur, daß die Leute sich nicht als Eigentümer fühlen. Und was ist das Ergebnis? Unzuverlässigkeit, Veruntreuung, Diebstahl! Und dann gibt es die, die man überhaupt vergessen kann, die einfach nur auf Kosten der anderen leben wollen, saufen, klauen, sich vergnügen. Wohin heute mit denen? Früher hatten wir Regeln, wir hatten unsere Arbeitsmoral. Heut gilt: Jeder für sich, wir haben keine gesetzliche Befugnis mehr. Ich bin Chef, dann gibt es noch den Administrator. Wir sollen entscheiden, sollen alles am Laufen halten, aber wie, wenn es keine Basis, keine Gemeinschaft mehr gibt?“

Sprecher:
Die Umverteilung blieb formal, aber die soziale Destabilisierung nahm kriminelle Ausmaße an; aus der Mustersowchose wurde ein Pleitebetrieb. Auch von Demokratie keine Spur. Die Stimmung des Administrators, dem Vertreter der staatlichen Macht im Bereich der sieben Dörfer von Tulinskaja steht auf dem Tiefpunkt:

A: O-Ton 7: Administrator, Tulinskaja        0,30
Regie: O-Ton  kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Demokratia, o kotorim mi goworim…
„Die Demokratie, von der so viele Jahre gesprochen wird – in meinen Augen ist das Anarchie: Keine Gesetze! Als gebildeter Mensch bin ich für Kultur, Bildung, Glück, Gewissen. Nur dann funktioniert Demokratie. Bei uns sehe ich soetwas nicht.“

Erzähler:
Für seine Alternative braucht der Administrator nur ein Wort:

B: O-Ton 8: Administrator, Forts.
Regie: O-Ton ohne Übersetzung stehen lassen                              0,01

„Diktatura… (nicht übersetzt)

A: O-Ton 9: Ankunft in der Molkerei                 0,48
Regie: O-Ton kurz frei stehen lassen, abblenden

Erzähler:
Türenklappen, Eintritt ins Gebäude, Maschinen…
Molkerei.  Früher eine der wichtigen Einnahmequellen der Sowchose; jetzt produziert man gerade eben noch für den Eigenbedarf. Der Unmut ist unüberhörbar:

O-Ton 10: Molkerei, Forts.                           1,18
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach zweitem Erzähler hochziehen

Erzähler::
„Nelsja bila, swjo…
„Es war nicht richtig“, meint diese Frau, „das Alte so mit Gewalt umzustürzen.“

Übersetzerin:
„Man hätte das Neue auf der Grundlage des Alten einführen müssen. Nicht die Sowchose liquidieren. Soll es doch Bauern bei uns geben oder sonst irgendwelche privaten Arbeiten, das müßte einfach parallel laufen. Aber hier haben sie alles zerschlagen. Das ist einfach nicht seriös“.

Erzähler:
Von der Reform der Selbstverwaltung, mit der die Regierung die aufgelösten Sowjetstrukturen ersetzen möchte, will man im Alltag nichts wissen: Wie das denn aussehen solle, fragt eine Frau. Früher habe es die Familie gegeben, wirft eine andere ein. Früher habe man sich dem Ältesten untergeordnet. Früher habe man einander geholfen. Aber jetzt? Freiheit sei gut, aber ein Betrieb brauche ein gutes Kollektiv und starke Hand, darin sind alle einig. Sonst versinke alles im Chaos und Rußland zerfalle.

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Auf dem Lande war damit bereits 1994 klar, daß die Überführung der kollektiven landwirtschaftichen Strukturen in privatwirtschaftliche nicht ohne Weiteres möglich sein würde. Im produktiven Bereich ist es nicht viel anders. Auch hier wurde die Privatisierung von den bestehenden betrieblichen Strukturen relativiert. Im Programm Jegor Gaidars von 1991 war vorgesehen, daß die Betriebskollektive, das hieß, eine mögliche Einheit von Leitung und Belegschaft, unter keinen Umständen in den Besitz von Mehrheitspaketen der in Aktiengesellschaften umgewandelten Betriebe kommen sollten. Für Spitzenbetriebe war dies durchsetzbar, weil sich genügend außerbetriebliche und auch ausländische Interessenten fanden; die Masse der nicht so profitablen, erst recht der bankrotten Betriebe aber blieb auch als Aktiengesellschaft in der Hand der Betriebskollektive, die versuchten, irgendwie durchzukommen. Die meisten dümpelten so vor sich hin; einige sind dabei ganz erfolgreich. So ein Fall ist die Eisenbetonfabrik Nr. 4 in Nowosibirsk. Sie wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wie alle Betriebe; dennoch tritt die Belegschaft heute als stolzes Kollektiv auf:

A: O-Ton 11: Kollektiv der Eisenbetonfabrik
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden         0,17

Übersetzer:
„Kollektiv u nas…
„Das Kollektiv bei uns ist sehr gut“, sagt der jüngere Mann. „Das Kollektiv hat verstanden, daß man einen normalen Zustand nur mit eigener Arbeit erreichen kann.“

Erzähler:
Eine ältere Kollegin erklärt, was man unter „normal“ zu verstehen habe:

O-Ton 12: Eisenbetonfabrik, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden          1,39

Übersetzerin:
„Nu, schto to Kollektiv…
„Daß das Kollektiv hier so gut ist, das ist ein Ergebnis unseres Einsatzes. Wir wissen: Um heute arbeiten und überleben zu können, sind folgende Bedingungen nötig: Erstens natürlich ein Kollektiv. Zweitens: daß wir Qualitästerzeugnisse haben. Drittens: Daß wir Termine einhalten, nicht nur etwas versprechen und dann nicht tun. Man muß Aufträge erfüllen. Der Auftrag muß Qualität haben und technologisch geschmeidig sein. `Aha, sie brauchen einen Balkon? Machen wir. Anforderungen an besondere Größen? Machen wir.´ Das heißt, wir machen nicht einfach unseren Stiefel weiter, also, Herstellung von Platten oder Klötzen für den Fertigbau wie früher, wir erfüllen die Aufträge, welche die Stadt heute braucht, verstehen Sie? Klagen hilft nicht. Man muß sich umstellen, sich einstellen auf die neue Lage. Warten hilft nicht. Wir haben begriffen, daß wir uns selber helfen müssen. Deswegen ist die Stimmung bei uns im Allgemeinen sehr gut. Weiter: Man muß Samstags arbeiten. Samstag und Sonntag haben wir einen Auftrag auf Röhren. `Im Norden werden Röhren gebraucht?´ Also arbeiten wir Samstag und Sonntag über zwölf Stunden. Wir wissen, daß es nötig ist und wir machen es.“
A: O-Ton 13: Kollektiv, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden        1,38

Erzähler:
„ … potschemu swjo taki rabotajem…
„Warum wir so arbeiten?“ fragt die Frau und antwortet gleich selbst.

Übersetzerin:
„Nun, weil wir hier sozialen Schutz haben. Das zieht die Menschen zu uns.  Ich weiß nicht, ob der Direktor ihnen erzählt hat, wie es hier bei uns ist:  Medizinische Versorgung, Kindergärten, Gemeinschaftshäuser, alles vom Betrieb bezahlt. Dies ist meines Wissens der einzige Betrieb in unserer Region, der seine Pensionäre nicht vergißt. Die soziale Frage wird hier in der Fabrik gelöst. Hier wird rechtzeitig gezahlt, hier wird Krankengeld gezahlt, Essen usw. Bei uns gibt es kostenlos Milch, Gas, Wasser. Wir bemühen uns um den Menschen, sagen wir es so. Das heißt, die Errungenschaften, die es unter dem Sozialismus in unserem Land gab, und die gab es, die haben wir jetzt um so besser in die heutigen Verhältnisse hinübergebracht.“

Erzähler:
Man fühlt sich an die Verhältnisse der Sowjetzeit erinnert, als die Betriebe die Grundlage der gesamten Lebensorganisation waren. Ist also alles beim Alten geblieben? Aber nein, keineswegs, antwortet die Kollegin. Da gebe es einen entscheidenden Unterschied:

B: O-Ton 14: Kollektiv, Forts.         2,11
Regie: O-Ton kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:
„Kto my? Stimmen. My aktionernoe obschtschestwo…“
„Wir sind eine Aktiengesellschaft. Das ist es. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unser Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Sowjet der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung.“

Erzähler:
Von den vierhundert Menschen, die im Eisenbetonwerk arbeiten,  sind achtzig Aktionäre der Fabrik. Sie halten Anteile zwischen ein bis drei Prozent pro Person. Das gilt auch für den Direktor. Einen Mehrheitsaktionär gibt es nicht. Die Aktionärsversammlung wählt einen Sowjet der Aktionäre: Er hat neun Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Sowjets und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt mit einer Stimme an den Sitzungen des Sowjets teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefaßt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet. Niemand macht zur Zeit individuell davon Gebrauch. Das Geld wird gemeinsam investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des mittleren Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet. Sie fühlt sich als kollektiver Eigentümer und Unternehmer.
Die Eisenbetonfarbrik Nr. 4 ist als Musterbetrieb, der die Öffnung für die Marktwirtschaft mit dem Bemühen um soziale Betriebspolitik verbindet, seit 1991 mehrfach ausgezeichnet worden. Für andere Betriebe ist sie ein Vorbild, allerdings mit einer entscheidenden Einschränkungen: Viktor Schmid, Direktor der Krasnojarsker Waldmaschinienfabrik, erklärt, nachdem die Eisenfabrik als Modell in höchsten Tönen gelobt hat:

A: O-Ton 15: Direktor Schmidt             0,57
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
“ My etawa nje djelajem…
„Wir machen es nicht so, weil das allgemeine Niveau unseres Alltags das nicht zuläßt. Man könnte es tun, aber dann gäbe es da eine Fabrik, die gut lebt. So nicht! Es ist offensichtlich, daß es nur geht, wenn dieses Modell allgemeine Linie wäre; es muß ein staatliches Programm geben. Wir Direktoren sind ja keine Dummköpfe, wir wissen doch, daß man letztlich nur so viele Leute ernähren kann, wie profitabel arbeiten. Aber wohin mit den anderen? Sie werden vor dem Zaun stehen und die bestürmen, die Arbeit haben; sie werden auf die Straße gehen und sich die Leute greifen, die noch Geld verdienen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Deshalb ist diese Frage nicht anders als durch den Staat zu lösen.“
…widemo gossudarstwo

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
Solche Programme, die Privatisierung und soziale Garantien miteinander verbinden, werden die Kandidaten für die bevorstehenden Wahlen zur Duma und in denen für einen neuen Präsidenten vorlegen müssen. Selbst im privatesten Bereich der Privatisierung, nämlich in dem der Kooperativen und Kleinunternehmen sind vergleichbare Phänomene zu beobachten, nach es dort ganz anders begonnen hatte. Schon Ende der Achtziger, vermehrt nach dem Umsturz 1991 machten sich Kooperativen auf, um den zusammenbrechenden staatlichen Dienstleistungsbereich durch private Initiative zu ersetzen. Ein Beipiel unter Tausenden ist die „Klinik 2000“ in Nowosibirsk. Drei Frauen waren die Initiatorinnen; sehr bald schon hatte sich eine Kooperative von über zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gefunden, die ein privates psychotherapeutisches Ambulatorium gründeten:

B: O-Ton 16: Klinik 2000            0,41
Regie: O-Ton aufblenden, stehen lassen bis (bei 20 sec.) zum zweiten “Sri, Sri, Sri“ des Lasers, abblenden

Erzähler:
„Doch, wydoch, Atmen…
Einatmen, ausatmen, heißt es hier. Mit Methoden der Laserakupunktur sind Mitarbeiter der Klinik unterwegs, um Trinker, Fettleibige und Raucher in öffentlichen Sceancen mit anschließender Einzelbehandlung von ihrer Sucht zu heilen. Heut arbeitet man im Kulturhaus von Borodino in der Region Krasnojarsk; morgen ist es Tomsk, Omsk, der Wladiwostok oder Perm. Was früher von staatlicher Gesundheitspolitik abgedeckt wurde ist für ein paar Jahre Domäne privaten Engagements. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Aber schon Mitte der 90er werden die Grenzen sichtbar. Steigende Arbeitslosigkeit und ausbleibende Löhne führen zu sinkenden Teilnehmerzahlen bei den Sceancen. Die Steuern steigen, vervielfacht durch die Föderalisierung, ins Unübersehbare. Parallel dazu schreitet die Regionalisierung vor Ort voran; jede Region, jeder Ort verlangt eigene Lizenzen, kassiert eigene Gebühren, eigene Steuern. Die Preise für Bahn, Bus und Flugzeug, ohne welche die Einsätze über Land nicht möglich sind, explodieren. Im Sommer 96 schlägt die Krise erstmals voll durch. Zurück aus Belowo, einer der Kohlestädte des Kusbass, in der die Kooperative seit 1991 kontinuierlich tätig war, muß Irina, eine der Ärztinnen, ihre Kolleginnen und Kollegen mit der Mitteilung konfrontieren:

O-Ton 17: Klinik 2000, Forts.        0,38
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzerin:
„Dwa iswestije…
„Zwei Neuigkeiten gibt es. Erstens: Von den fünf Schächten der Stadt sollen drei demnächst geschlossen werden. Das bedeutet: Entlassungen, Arbeitslosigkeit, viele Leute wollen zu uns, weil wohl zuerst die Trinker entlassen werden. Die andere Nachricht ist: Seit mehr als drei Monaten haben die Bergleute keinen Lohn mehr bekommen und man hat ihnen gesagt, daß auch für die kommenden Monate keiner in Aussicht steht. Das heißt, sie haben kein Geld und es wird niemand kommen.“

Erzähler:
Das war das Aus für die ambulante Überlandpraxis. Es blieb das städtische Klientel, die sogannte Mittelschicht, die sich im Privatisierungsboom seit 1991 gebildet hat. Mit dem Bankenkrach vom August  brach auch diese Schicht weg. Die Kooperative muß auf Beratungstätigkeiten ausweichen, um zu überleben. Ähnlich geht es dem ganzen Bereich: Dienstleistungsbetriebe wie die „Klinik 2000“, private Initiativen jeglicher Art, NGOs, selbst junge Geschäftsleute sehen sich gezwungen, wieder unter ein staatliches oder quasistaatliches Dach zu flüchten. In Nowosbirsk firmiert das inzwischen unter der Bezeichnung „Verwaltungsabteilung zur Herstellung von Verbindungen zu Organisationen des Dritten Sektors.“
Der Leiter dieser Abteilung, Georgi Tschulinin, ist allerdings weit entfernt davon, in dieser Entwicklung etwas Negatives zu sehen:

B: O-Ton 18:  Abteilung für 3. Sektor in Nowosibirsk         0,25
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Ja dumaju, schto..
„Ich glaube, daß der dritte Sektor, von dem einige meinen, er habe mit Politik nichts zu tun, ganz im Gegenteil höchste Politik ist. Da geht es nämlich um den schrittweisen Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft; da geht es nicht nur um die Ergreifung der Macht, nicht nur um privates busyness, da geht es um Interessen der ganzen Gemeinschaft. “

Erzähler:
Über eintausend NGOs, Initiativen, Kooperativen, Bewegungen seien schon erfaßt, schwärmt Herr Tschulinin, politische, kulturelle und auch wirtschaftliche. Frau Natalja Dimitriewa, die sich als Verbindungsglied zwischen Verwaltung und aktiven Frauen begreift, dabei sehr auf ihre Basisbezogenheit pocht, spricht sogar von einer Wiedergeburt traditioneller kollektiver Strukturen im neuen Gewande:

A: O-Ton  19: Frau Dimitriewa             1,20
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„Ja, tolka magu schto skasats…
„Ich möchte es einmal so sagen: die Formen des Gemeinschaftslebens, die wir in der sowjetischen Zeit hatten, haben uns natürlich das kollektive Arbeiten gelehrt, positiv wie negativ, aber vor allem das Gefühl vermittelz       , das es noch einen Nachbarn gibt. Das ist natürlich etwas sehr Gutes. Als dann das Fenster zum Westen aufgemacht wurde, zerfiel das alles. Aber es verschwand natürlich nicht einfach. Was gut daran war, das Gefühl eben, ein Zuhause zu haben, zusammenzugehören, das wollen wir natürlich bewahren; das wollen wir natürlich an unsere Kinder weitergeben. Dieser Wunsch nach etwas Verbindendem zwischen Politik und Geschäft, der spiegelt sich jetzt in diesem dritten Sektor wieder.“

Erzähler:
Nikolai Jakimow, Student der Informatik, versteht sich als Koodinator des Jugendbereichs in diesen neuen Sektor. Er läßt sich, nach vehementer Abgrenzung von jeglichem Dirigsmus, bei der Frage, wie er zu den Komsomolzen, also der ehemaligen kommunistischen Jugendorganisation, stehe, schließlich sogar zu dem Zugeständnis verleiten:

B: O-Ton 20 Jugendkoordinator            0,58
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Übersetzer:
„To, schto bila w komsomole…
„Ich selbst hab mit den Komsomolzen nicht mehr viel zu tun gehabt, aber unsere Organisation tritt heute faktisch in die Fußstapfen des Komsomol. Wir organisieren ja nahezu denselben Bereich, wir arbeiten nach denselben Methoden, wir haben einige Übertritte, vor allem in den kleineren Städten; wir haben die Anlagen, vor allem auch die Computer von ihnen übernommen – der Unterschied ist eigentlich nur, daß wir keine staatliche Organisation sind und die wichtigsten Entscheidungen zweitens in der Regel von den Jugendlichen selbst getroffen werden.“

Erzähler:
Nägel mit ganz harten Köpfen versucht man in Krasnojarsk zu machen. Dort haben vermögende Jungunternehmer, denen ihre Herkunft aus dem halblegalen Busyness noch anzusehen ist, eine Lebed-Jugend gegründet. Ihre Ziele erläutert Nikolai Werner, Gründer und Chef der Organisation, fünfunddreißig Jahre alt, so:

A: O-Ton 21: Lebed-Jugend            0,45
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Mi natschinajem…
„Wir beginnen aus eigenen Mitteln. Unser Ziel ist es, die Jugend aus den Fängen der Sucht und des Verbrechens zu befreien, ihr Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten zu zeigen und sie wieder an geistige Werte, vor allem russische Kultur heranzuführen. Wir fragen heut nicht, wir machen Vorschläge, was man tun kann. Wir schlagen vor, der Schmied des eigenen Glückes zu werden“
..mechka gaworja.“

Regie: hochziehen, abblenden

Erzähler:
All diese Vorgänge zeigen: Etwas Neues ist entstanden, das sich mit Altem zu einer ungewöhnlichen Mischung verbindet – Initiaven von unten, die von oben verwaltet werden. Das ist die Wiedererstarkung staatlicher Strukturen, aber nicht in der alten Form. Einen „nicht standartisierten Weg“ nennt der Moskauer Soziologe Boris Kagarlitski, ein Freund Oleg Woronins aus alten Perstroikatagen, diese Entwicklung und beschreibt sie mit den Worten:

B: O-Ton 22: Kagarlitzki             2.08
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Übersetzer:
„Nu, primerno, schto pris-chodit…
„ Nun, was geht ungefähr vor? Alles wurde inzwischen privatisiert, nicht? Es ist bekannt, daß viele Betriebe seitdem nicht mehr arbeiten, daß sie von Subventionen leben. Es gibt kein Unternehmertum, also auch keine dauernden Investitionen. Es gibt Elend, Hunger. Die Menschen fühlen sich verraten, schließen sich zu Selbstschutzgemeinschaften zusammen. Was tut nun die örtliche Macht? Sie beginnt die Betriebe vor Ort neu als Gemeinschaftsbesitz zu verstaatlichen. Im Ergebnis haben wir anstelle des alten  monolithischen Staatssektors nun dezentralisierte Staatssektoren mit örtlichen gemeinschaftsbezogenen korporativen Verbindungen. Die Obschtschina, also die aus der Bauerngemeinde entwickelte Produktions- und Lebensgemeinschaft der Sowjetzeit, beginnt sich neuerlich zu rekonstruieren, nicht als absichtliche Wiederholung, sondern in neuer Form, in spontaner Weise, von der Not der Verhältnisse hervorgebracht. Die Betriebe befinden sich nun einmal in dieser desolaten Situation – also kommt der Chef, der Direktor und beginnt sie in dieser Weise erneut zu vergemeinschaften. Dann kommen die örtlichen Bürokraten dazu, noch ein Betrieb und noch einer und noch diese Initiative und jene Organisation und siehe da, übers Jahr haben wir schon einen ganzen kleinen neuen, aber von unten legitimierten Staatssektor in der Region bei jedem Gouverneur. Das ist Selbstorganisation des Korporativismus, allerdings nicht etwa der Massen, sondern der mittleren Bürokratie zusammen mit der örtlichen Intelligentia. Dieser Regionalismus kann kapitalistisch sein oder bürokratisch oder auch sozialistisch. Das hängt vom Herankommen und von der politischen Entwicklung ab.“

Erzähler:
Für Westler, die sich unter einer „rekonstruierten Obschtschina“ nicht recht etwas vorzu stellen vermögen, ergänzt Kagarlitzki:

O-Ton 23: Kagarlitzki, Forts.
Regie: O-Ton kurz stehen lassen abblenden         1,30

Übersetzer:
„I eschtscho odin interesni aspekt…
„Es gibt einen Aspekt des sowjetischen Systems, der bis heute kaum beachtet wurde. Das ist die `Óbschtschinost´, die Gemeinschaftsstruktur der Arbeitskollektive. Was ist ein sowjetisches Arbeitskollektiv? Das ist im Grunde die alte zaristische Bauerngemeinschaft mit Gemeineigentum, russisch: Óbschtschina, nur ausgerichtet auf die Notwendigkeiten der industriellen Produktion. Im Zuge der schnellen Industriealisierung wurden die Bauern aus dem Dorf in die Stadt geworfen, und in der Stadt begannen sie sich sehr schnell nach fast den gleichen Prinzipien zu organisieren; der Staat selbst ist so organisiert. Für den Staat ist das bequem. Das ist kein westliches Proletariat, aber auch nicht das mythische Proletariat der sowjetischen Ideologie. Das gibt es sowieso nicht. Das ist die normale russische Nachbarschaftsgemeinschaft, aber organisiert rund um die industrielle Produktion. Dies umsomehr als man darumherum wohnt: Um die Fabrik herum entsteht die Stadt! Der Staat befaßt sich damit, die Betriebe zu verwalten und die Betriebe verwalten die Leute. Deshalb gibt es bei uns keine bürgerliche Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Untertanen und der Untertanen untereinander. In den Betrieben wirkt eine wechselseitige paternalistische Verantwortung: So schaut die Administration auf die Disziplin, und der Arbeiter müht sich um gute Arbeit usw.“

Erzähler:
Damit ist Rußland bei dem wieder angekommen, von dem es bei Beginn der schnellen Privatisierung, also beim Wechsel von Michail Gorbatschow auf Boris Jelzin 1991 ausgegangen war – bei der schrittweisen Transformation seiner traditionellen Gemeinschaftsstrukturen auf marktwirtschaftliche Verhältnisse. Kritiker der Schockprivatisierung forderten diese Vorsicht bereits vor Jahren. So etwa der sibirische Ökologe Gennadij Schadrin, der bereits nach dem Scheitern der Landreform formulierte:

B- O-Ton 24: Schadrin            1,26
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Übersetzer:
„We nasche….
„In unserer neuen Verfassung ist das Recht auf Eigentum an Grund und Boden inzwischen verankert. Das ist also kein Problem mehr. Was es nach wie vor nicht gibt, ist ein verfassungsmäßiges Recht auf Eigentum auf Land in großen Maßstab. Und ich bin ein Gegner davon. Die ganze Geschichte des russischen Landes und der bäuerlichen Mentalität spricht für gemeinschaftliche Nutzung des Bodens, für kollektive Formen. Das kommt aus der besonderen Geschichte der russischen Bauerngemeinschaft. Aber das schließt ja nichts aus: In unserer Verfassung ist die Gleichberechtigung aller Eigentumsformen und aller Formen der Wirtschaft von Grund und Boden festgeschrieben. Man muß also niemanden zu etwas zwingen. Laß die unterschiedlichen Formen doch konkurrieren, laß sie kooperieren – zum Wohle aller!“

Erzähler:
Aber auch westliche Analytiker hatten durchaus schon früh erkannt, woran anzuknüpfen sei. So schlug eine innerhalb der Treuhand erstellte so benannte Gegenstudie schon 1992 unter dem Leitgedanken einer „Reform aus eigener Kraft“ eine, wie es dort hieß, „Mobilisierung des Humankapitals “ vor. Die Mobilisierung sollte sich auf der Linie einer „Unternehmensselbststeuerung“ bewegen. Damit war eben das gemeint, von dem auch die russischen Kritiker sprechen, nämlich:

Zitator:
„Kernzelle der neuen Unternehmensselbststeuerung als neuer Organisationstyp bleiben Betriebskollektiv und Brigaden in Fortführung der Tradition der „obschtschina“ und der ehemals sozialistischen Brigaden, allerdings eingebettet in einer verändertern produktbezogenen Arbeitsorganisation mit Gruppenarbeit, Gruppenverantwortung, möglichst ganzheitliche produktbezogene Arbeitsabschnitte, weitgehend selbststeuernde Teilsysteme, optimale Kooperationen.“

Erzähler:
Dieses Konzept wurde wie alle anderen möglichen Alternativen von der realen Schocktherapie beiseitegefegt. Neuerdings aber sind auch bei denen, die bisher taub für die Rücksicht auf traditionelle Strukturen Rußlands waren, andere Töne zu hören. So bei Jussif Diskisn, einem Soziologen, der im Auftrag der russischen Zentralbank die sozialen Bewegungen in Rußland erforscht. Bei ihm avanciert die Berücksichtigung des Humankapitals, von ihm soziales Kapital genannt, nicht nur zum Eckpunkt aller weiteren Reformen In Rußland, er erklärt zudem noch, welche Besonderheiten in dieser Hinsicht zukünftig zu beachten seien:

A: O-Ton 25: Diskin        1,43
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nazionalni sozialni Kapital…
„Nationales soziales Kapital setzt sich woraus zusammen? Erstens daraus, daß Leute in ihrer praktischen Tätigkeit die bestehenden Gesetze unterstützen, soweit sie reale Regulatoren sind. Zweitens aus einer Menge ethischer Normen, die als Regulatoren des Wirtschaftslebens funktionieren. In unseren Lande sind es nicht die Gesetze, sich es auch nicht die hohen ethischen Standards, sondern es ist die korporative Ethik, die diese Funktion hat. Korporative Ethik ist daher das Schlüsselproblem für den Aufbau einer Marktwirtschaft in Rußland; ohne Beachtung der krporativen Ethik läuft bei uns nichts.“

Erzähler:
Da ist er, jetzt auch auf analytischem Niveau, der von Oleg Woronin in der Irkutsker Versammlung geforderte „Kompromiß als Weg“. Wenn solche Einsichten auch Eingang in westliches Denken finden, besteht die Chance, daß Rußland, und dies mit Unterstützung des Westens, endlich seine eigenen Kräfte entfalten kann, statt westlichen Vorgaben hoffnungslos hinterherzulaufen. Das wäre der Beginn einer Reformpolitik, die diesen Namen verdient hat.

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