Rußland: Normalisierung oder Mafianisierung – eine Bilanz der russischen Wirklichkeit am Ausgang der 2. Privatisierung.

Um die russischen Reformen ist es still geworden. Ohne großen Lärm stimmte die Duma nach einem Appell Boris Jelzins noch Ende letzten Jahres dem Haushaltsplan für 1998 zu. Mit einer weiteren Entmachtung Anatolij Tschubajs Ende Januar dieses Jahres scheint Ruhe in die Regierungspolitik einzukehren. Boris Jelzin sucht neues Glück in der Außenpolitik. Die Bewertungen der internationalen Kommentatoren schwanken zwischen Stabilität und Stillstand. Es ist Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen.

Anfang des Jahres 1997 wechselte Boris Jelzin die Mannschaft. Die neuen Favoriten waren: Anatoli Tschubajs, ehemaliger Beauftragter für Privatisierung, später Leiter des Präsidialamtes und in dieser Funktion auch Organisator des Wahlkampfes für seinen Präsidenten; er wurde stellvertretender Ministerpräsident. Mit ihm rückte sein Leningrader Kommando in erste Posten. Hinzu kamen Boris Nemzow, zuvor Gouverneur in Nischninowgorod, und Oleg Susujew, davor Bürgermeister von Samara. Hinter ihnen tauchten auch einige jener neuen Geldmagnaten wie Wladimir Potanin und Boris Beresowski in der Regierung auf, die Jelzins Wahlkampf finanziert hatten.
Die neue Mannschaft war im Schnitt um die Hälfte jünger als der alternde Präsident. Sie kündigten eine zweite Phase der Privatisierung an, einen neuen Reformschub, das Ende des wilden Kapitalismus. Ihre wichtigsten Stichworte lauteten: Etat-Konsolidierung, Reform des Steuer-, des Renten- und des Sozialsystems, Regulierung der sog. natürlichen Monopole, also solcher wie Energie, Wasser, Post, Bahn Wohnungsbau usw. und Durchsetzung des Konkursrechtes.
Bis 1997 umfaßte die Privatisierung vier Schübe: Erstens die „wilde Privatisierung“ von 1989 bis 1991, die sich vor Beginn der gesetzlichen vollzog; zweitens die „kleine Privatisierung“ ab Dezember 1991 bis Ende 1993, mit der die gesetzliche Phase der Privatisierung begann – sie betraf vor allem kleinere und mittlere Betriebe und Dienstleistungsgewerbe; drittens die „Voucher“-Privatisierung von Ende 1992 bis Junli 1994 – sie war als Volksprivatisierung deklariert, die das nationale Vermögen in die Hände der Bevölkerung überführen sollte; viertens die „Geld-Privatisierung“ ab Juli 1994, die der Konzentration von verstreuten Aktienanteilen zu entscheidungsfähigen Mehrheitspaketen dienen sollte. Schließlich darf – fünftens – die Privatisierung auf dem Lande nicht vergessen werden, die seit 1989/90 parallel zu den gesamten vier Phasen verlief.
Ergebnis der Privatisierung war aber nicht Entmonopolisierung, nicht ein freier Markt konkurrenzfähiger Unternehmer, nicht die Entlastung des Staatsbudgets, sondern neue Monopole, Geldimperien auf der Basis von Ex- und Import, die den russischen Markt unter sich aufteilten. Die Produktion Rußlands reduzierte sich dagegen glatt um die Hälfte. Der Staat ist praktisch bankrott. Die Mafia wurde zum festen Bestandteil der russischen Gesellschaft; statt eines konkurrenzfähigen Mittelstandes entstand ein von den neuen Monopolen, von Staatszuwendungen und von der Mafia abhängiger Bereich von Dienstleistungen. Der Angriff auf die kollektiven Versorgungs- und Bildungsstrukturen schließlich führte nicht zu deren Ersetzung durch neue Träger, sondern zur Zerüttung des sozialen Versorgungssystems.
Kein Wunde, daß sich die Reformen schließlich an der Verweigerung der real existierenden Versorgungskollektive brachen: der Sowchosen, Kolchosen, der branchenmäßigen, vor allem aber der regionalen Betriebs-, Wirtschafts-  und Lebenseinheiten, die mit formaler Umbenennung der Privatisierung Genüge taten, im übrigen aber weitermachten wie bisher. Deren größte sind solche korporativen Vereinigungen wie der Öl- und Gas-Riese GASPROM oder andere der „natürlichen Monopole“. Die Verweigerung führte bis zu Widerstand, zur bewußten Aufrechterhaltung oder gar bis zur Wiederherstellung der geschädigten kollektiven Strukturen.
Als Anfang 1997 die Privatisierung der „natürlichen Monopole“ in Ausssicht gestellt wurde, bedeutete das, daß jene kollektiven Strukturen jetzt endgültig beseitigt werden sollten. Aber auch diesmal stand nicht Entmonopolisierung dabei im Vordegrund, sondern die Entflechtung der Produktions- und der Reproduktionssphäre dieser Betriebe. Freigegeben werden sollten die Preise im Wohnungsbereich, für Gas, Strom, Wasser, Müllabfuhr, Bahn, Post und diverse andere Dienstleistungen, die in vielen Fällen immer noch vom betrieblich-kommunalen Versorgungssystem getragen werden. Für ein solches Programm stand der jugendliche Boris Nemzow, der in Nischninowgorod mit einer Privatisierung dieser Art Modellpolitik gemacht hatte.
Der Westen nahm die neuen Signale erleichtert auf. Sie öffneten Boris Jelzin im Juni ´97 die Tür zur „G-8“. Westliche Beobachter schöpften Hoffnung, daß die von ihnen seit jahren eingeforderten „grundlegenden Strukturreformen“ nun endlich verwirklicht würden.
Wenige Monate danach war von einem zweiten  „Reformschub“ schon nicht mehr die Rede, stattdesen schon im Mai von einem drohenden Zusammenbruch des Investitionsmarktes, von der Budgetkrise, von einem zu erwartenden „heißen Herbst“, von „deja vues“ usw. Ende des Jahres zitierte das „Handelsblatt“, sonst eher zu Ermutigungen potentieller Investoren geneigt, Ergebnisse westlicher Experten, die sich gezwungen sahen, eine „beträchtliche Deindustrialisierung“ in Rußland zu konstatieren.
Der neue Reformschub verwirklichte sich vor allem als „Krieg der Banken“, deren Vertreter sich und ihre Lobby in der Regierung mit „Kompromaten“, also öffentlich vorgetragenen Korruptionsvorwürfen, gegenseitig diskreditierten. Im Ergebnis mußten mehrere der neuen Reformer, allen voran der Privatisierungsminister Alfred Koch, ihren Hut nehmen. Anatolij Tschubajs behielt seinen Posten als Vizepremier, verlor aber sein Amt als Finanzminister; Boris Nemzow wurde aus dem Ministerium für Energie gedrängt. Präsident Jelzin enthob den Geldmann Beresowski seines Amtes als Chef des Sicherheitsrates, die anderen finanziellen Hintermänner der Tschubajs-Mannschaft mußten sich von ihm zu „zivilisiertem“ Handeln ermahnen lassen.
Gewinner des Gerangels wurde Premierminister Viktor Tschernomyrdin, der als ehemaliger Chef von GASPROM den institutionellen Widerstand gegen die neue Entflechtungswelle repräsentiert. Die von ihm im Januar vorgenommene neuerliche Regierungsumbildung, die Anatoli Tschubajs nunmehr auf den Bereich des Sozialen, Boris Nemzow auf Transport- und Wohnungswirtschaft zurückgedrängt, war der bisher letzte Ton im Abgesang der neuen Reformer.
Die Privatisierungen der „natürlichen Monopole“ sind damit vorerst verschoben, die Steuer-, die Sozial- und Rentenreform blieb stecken. Von der Durchsetzung des Konkursrecht hört man nichts.
Der von der Opposition angekündigte Widerstand andererseits, gar Massenprotest blieb ebenfalls aus oder verzehrt sich in lokalen und regionalen Strohfeuern, allen voran immer wieder im Kusbass. Im Januar 98 wurde nach öffentlichem Säbelrasseln Ende 1997 im „Vierergremium“ zwischen Präsident Jelzin, Vizepremier Viktor Tschernpmyrdin und den Präsidenten der beiden Duma-Kammern zwar eine Eingung zum Haushalt ´98 getroffen. Dies ähnelt aber eher einem Stillhalte-Abkommen zwischen Teilen des Establishments, mit dem die Öffentlichkeit beruhigt werden soll, denn beim Stand der Dinge sind die in dem Entwurf vorgesehenen Ausgaben weder – wie früher geplant – aus der Privatisierung, noch aus einem erhöhten Steueraufkommen zu bestreiten, noch durch Regorganisation des Sozial- und Rentensystems einzusparen. Das zu erwartende Defizit wird allein durch ausländische Kredite zu decken sein.
Dies alles erweckt den Eindruck, als ob die russischen Wandlungen zum Stillstand gekommen seien. Immer öfter hört man im Lande selbst das Wort Normalisierung. Nicht einmal die seit Anfang des Jahres stattfindende „Denominierung“, wie die Abwertung des Rubel um drei Nullen genannt wird, kann die Bevölkerung gegenwärtig aufregen. „Drei Nullen mehr oder weniger“, lauten die Kommentare“, „wo ist der Unterschied? Wir werden ohnehin betrogen und ausgenommen. Ich kümmere mich um meine eigenen Dinge.“
Die „eigenen Dinge“, das ist die zweite, oft sogar die dritte schwarz ausgeführte Arbeit, dazu noch die Datscha, die die Grundversorgung der Familie zu garantieren hat. Sie erfordert jede freie Stunde.
Was heißt also Normalisierung? Endgültige Öffnung in Richtung Markt, wie von Seiten der Regierung immer noch behauptet? Endgültiger Sieg der Mafia, wie ihre kommunistischen Kritiker sagen? Die Etablierung eines kriminellen Korporativismus, wie etwa Grigori Jawlinski es nennt?
Marktöffnung? Die russische Wirtschaft vollzieht sich zu mehr als der Hälfte als Barter-, Tausch- und Naturalwirtschaft. Nicht mehr, sondern weniger Kapitalismus ist entstanden. Wenn die Wirtschaft der russischen Föderation auch unter den letzten Experimenten nicht zusammengebrochen ist, dann deswegen, weil sie immer noch vom Verkauf ihrer Naturschätze lebt.
Mafia? Ja, es gibt die „Dächer“, unter deren Schutz man sich begeben muß, wenn man in Rußland etwas werden will. Es gibt die Aufteilung des Landes nach kriminellen Clans, es gibt die kriminalisierte Regierung. Die russische Öffentlichkeit ist von dieser Realität und diesen Begriffen inzwischen so durchdrungen, als wäre das völlig normal. Nach dem Scheitern der b´neuen reformwelle ist das noch offensichtlicher als zuvor.
Doch erklärt der Hinweis auf die Mafia nicht alles: Es gibt den legalen Sektor eines im westlichen Sinne modernisierten, neuen Busyness; es gibt Ansätze eines legalen Mittelstandes; es gibt kontrollierte Staatsbetriebe; es gibt kommunale Wirtschaftseinheiten in den Regionen; Zahlen dazu bewegen sich zwischen zehn und dreißig Prozent – aber auch diese Kräfte arbeiten nicht in der offenen Konkurrenz, sondern in Absprache miteinander. In gegenseitiger Hilfe und Absprache – auch mit der Mafia – liegt die einzige Chance ihrer Existenz zwischen Bürokratismus, wildem Kapitalismus und organisierter Kriminalität.
Es hat sich das auf Neuer Stufe etabliert, was Tatjana Saslawaskaja, soziologische Schrittmacherin der Perestroika, Mitte der siebziger Jahre „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“ nannte und was Rußlands Soziologen heute als „bürokratisch-korporatives Clanregime“ bezeichnen. Es ist, könnte man sagen, die Wiedergeburt des Russischen im Kapitalismus. Die Basis dafür bilden die in der russischen Geschichte wurzelnden Gemeinschaftsstrukturen, die keineswegs erst von den Bolschwiki oder gar von Stalin erfunden wurden. Die Bolschewiki fanden sie bereits vor und konnten sie nutzen. Es handelt sich um das, was im Russischen „Obschtschina“ genannt wird, die gemeineigentümliche Arbeits- und Lebensgemeinschaft.
Die heutige Form der Obschtschina ist aus der Bauerngemeinschaft und der agrarischen Struktur Rußlands hervorgegangen. Im Zuge der industriellen, dann auch der politischen Revolution wurde sie zur Struktur der gesamten Gesellschaft. Es ist die Kolchose, das Produktionsdorf, die Fabrikstadt, das regionale, sogar landesweite Kombinat, die Wissenschaftskommune usw. Sogar die geschlossenen Städte und die geschlossenen „Zonen“, das heißt Lagerbereiche, waren  nach diesem Prinzip organisiert.
So wie alle früheren Versuche der Zerschlagung der Obschtschina auf halbem Wege steckenblieben, ja, zu ihrer Stärkung führten, bis sie als Sowchose und Kolchose zum Modell der sowjetischen Gesellschaft wurde, mußte auch Boris Jelzin Jegor Gaidar bereits wenige Monate nach seinem Antritt als Radikalreformer 1991 zurückpfeifen. Wenn jetzt zu beobachten ist, daß eben jene Normalität sich stabilisiert, die man einen oligarschischen Korporativismus, eine bürokratische Verteilungswirtschaft, im Sinne Tatjana Saslawskajas eine „Verhandlungswirtschaft auf Gegenseitigkeit“ nennen kann, dann läßt das erkennen, daß auch der neue Versuch zum Scheitern verurteilt ist.
Was sich gegenwärtig in Rußland entwickelt, ist Pluralismus der oligarschischen Korporationen statt Markt und Demokratie, sind regionale Kompromisse zwischen regionaler Elite und kommunalen, gemeineigentümlichen  Strukturen, ist das Wiedererstarken gemeineigentümlicher Elemente der Wirtschaft im Gewande der Privatisierung. Paradebeispiel ist Moskau, das unter der Führung seines Bürgermeisters Juri Luschkow zum Vorzeigestück einer Privatisierung wird, aus der das Staaseigentum nicht geschwächt, sondern gestärkt hervorgeht: Die „Boom-town Moskau“, wie die Stadt von manchen heut genannt wird, ist heute Moskaus größter und effektivster Unternehmer.
Ein anderes Beispiel ist das sibirische Irkutsk, wo sich eine regionale Verbindung aus selbstverwalteten Kommunen, Belegschaften, örtlichem Kapital und regionaler Bürokratie gemeinschaftlich gegen Moskau, bzw. die von Moskau aus agierenden korporativen Monopole organisiert, um die regionale Wirtschaft anzukurbeln.
Ergebnis ist in beiden Fällen das, was man in Rußland „Renationalisierung“, auf deutsch, Stärkung des Gemeineigentums gegenüber dem Privateigentum nennt. Der Kuhhandel um den Haushalt ist ein weiterer Ausdruck dieses Kompromisses, in dem sich die gewachsenen korporativen Strukturen auswirken. Ihre Auflösung könnte nur unter Einsatz rohester Gewalt geschehen. Wem aber könnten solche Reformen nützen?

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