Sie leben nicht vom Lohn allein Aufriß der politisch-sozialen Lage Rußland im Frühssommer 1997

Vortext:
Rußland ist wieder in die Schlagzeilen gekommen. Millionen Menschen demonstrierten in der ersten Hälfte dieses Jahres für die Auszahlung ausstehender Löhne und für die Erhaltung sozialer Leistungen. Präsident Boris Jelzin berief neue Leute in die Regierung. Sie sollen die Reformen beschleunigen. Steht Rußland vor einer Zeit sozialer Unruhen?

O- Ton 1: Gesang in der Metro            (1,10)
Regie: Langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen, nach dem zweiten Absatz noch mal hochziehen, danach allmählich abblenden.

Erzähler:
Moskau, April `97, Stadt im Glanz. Das Netz der Metro hat sich zum Zentrum quirlenden Lebens entwickelt. In den Unterführungen jeder der über 150 Metrostationen drängen sich die Menschen an überfüllten Kiosken. Auf den Straßen setzt sich das Bild fort: neue Imbißbuden, Restaurants, Cafés laden zum Verweilen; Fassaden und Auslagen neueröffneter Ladenketten glitzern. Die Preise sind hoch, sie liegen auf westlichem Nivau. Aber die Menschen kaufen. Die Zeiten der leeren Auslagen in den Geschäften scheinen endgültig vorbei. Rundum wird gebaut, geputzt, renoviert. Und dies alles nicht mehr nur in der Innenstadt. Kaum zu glauben, daß noch vor wenigen Wochen Millionen Menschen im ganzen Lande dagegen protestierten, unter das Existenzminimum gedrückt zu werden. Staunend vernimmt man das allgemeine Lob für Bürgermeister Juri Lyschkow. Er beweise, heißt es, daß man in Rußland heute etwas erreichen könne – wenn man nur wolle. Staunend hört man auch, wie die Demonstrationen in den Regierungsetagen beurteilt werden.

Regie: Musik kurz hochziehen, danach allmählich abblenden

Erzähler:
Leonid Gossmann ist psychologischer Berater des nach den Protesten neu zum Ministerpräsidenten ernannten Anatoli Tschubajs. Er arbeitet in einem supermodernen Repräsentativbau, der halb von der Regierung, halb vom „Busyness“ genutzt wird. Auf die Frage, welche Bedeutung die Regierung den Demonstrationen beimesse, erklärt er im Brustton dessen, der offizielle Wahrheiten mitzuteilen hat:

O-Ton 2: Leonid Gossmann, Berater von Tschubajs    (0,16)
Regie: kurz stehen lassen, langsam abblenden

Übersetzer:
Oh, wi snaetje glja prawitesltwo, eta….
„Ach, wissen Sie, für die Regierung bedeutet das meines Wissen herzlich wenig, ehrlich gesagt. Nun, der Präsident meinte, das sei ein Signal, das muß er ja sagen; damit bringt er seine Wertschätzung dieses Problems zum Ausdruck. Tatsächlich war das Niveau der Proteste verblüffend niedriger als von den Organisatoren vorausgesagt.“

Erzähler:
Gefahren vermag Leonid Gossman in der neuen Situation nicht zu erkennen. Die Organisatoren der zurückliegenden Demonstrationen, die Gewerkschaften, sind für den Psychologen vom Dienst „schon organisch“ nicht in der Lage, irgendwelche revolutionären Aktivitäten zu organisieren, sie sind für ihn nicht mehr als als „genetische Zustimmer, Claqeure, Feiglinge, Bestochene und Diebe“. Auf die Frage, welche Konsequenzen die Regierung aus den Protesten zu ziehen gedenke, antwortet er:

O-Ton 3: Gossmann, Forts.                1,25
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen, dann allmählich abblenden

Übersetzer:
„Nu, tje ludi, kotorie swasiwajetsja…
„Nun, die Leute, die mit dem liberalen Flügel um Ministerpräsident Tschubaijs, auch Gaidar zu tun haben, sind überzeugt davon, daß die Reformen nicht nur fortgesetzt, sondern beschleunigt werden müssen. Es ist ja alles viel zu langsam gelaufen. Das Land kam in die Situation, wie soll ich sagen, eines Kranken, bei dem die Opreration begonnen, aber nicht ausgeführt wurde. Das ist schlimmer, als wenn man nicht begonnen hätte. Deshalb muß man vollenden, was begonnen wurde. Das ist die allgemeine ideologische Priorität; was die wirtschaftlichen Dinge betrifft, so geht es darum, das auszuführen, was 1992 hätte ausgeführt werden müssen: die Strukturelle Perestroika.“

Erzähler:
Staatliche Förderung profitabler Unternehmen, Schließung unrentabler Betriebe, schroffe Sparpolitik im sozialen Bereich lautet das Programm, das Leoniod Gossmann jetzt als neue Regierungslinie skizziert. In einem Rückgriff auf das Gaidarsche Schockprogramm von 1992 sollen die nach wie vor bestehenden sozialen Verbindlichkeiten der großen Staatsbetriebe aufgelöst werden: Wohnungen, Strom, Gas, Wasser, Dienstleistungen und andere Vergütungen, die von der Mehrheit der Menschen immer noch ganz oder fast unentgeltlich direkt über die Betriebe bezogen werden, sollen in bezahlte Dienstleistungen umgewandelt und die Preise dafür freigegeben werden wie seinerzeit die Preise der Industrieprodukte. Der „Internationale Währungsfond“ fordert diesen Schritt schon lange von Boris Jelzin, wenn er weiter in den Genuß westlicher Kredite kommen wolle. Der Öffentlichkeit präsentiert die Regierung ihr Vorhaben als Offensive zur lange überfälligen Auflösung der „natürlichen Monopole“, die die Gesellschaft im Würgegriff hätten und mit ihren alten Strukturen den Reformen entgegenstünden. Zu diesen Monopolen zählen zum Beispiel „GAS-PROM“, die Hausmacht Ministerpräsident Tschenomyrdins im Erdöl und Ergassektor, aber auch der Elektroenergiekonzern, die Wasserwerke, das Bauwesen, die Bahn und noch einige andere dieser Art.

O-Ton 4: TV, Musik, Ansage            (0,28)
Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Erzähler:
Die Medien machen sich zum Sprecher der neuen Reformoffensive. Unisono präsentieren sie Boris Nemzow als Hoffnungsträger des Jahres, der seine in Nischninowgorod mit dieser Art von Privatisierung gewonnenen Erfahrungen nun auf das ganze Land übertragen soll. Nur so könne die Haushaltskrise überwunden, nur so könnten Löhne in Staatsbetrieben wieder bezahlt, könnten die sozialen Verpflichtungen des Staates eingelöst, die Armee befriedet, eine Arbeitslosenversicherung aufgebaut werden usw.
Die  Schulden von „Gas-Prom“ gegenüber dem Staat, kann Boris Nemzow im Fernsehen behaupten, seien höher als alle Schulden des Staates gegen Lehrer, Kindergärten etc. zusammen. Dann fährt er fort:

O-Ton 5:. Boris Nemzow im TV            (o,25)
Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Maja sadatscha stoit v schtom to,…
„Meine Aufgabe ist es, Schluß damit zu machen, daß diese großen Monopole das Land regieren. Mich wundert deshalb, wie die Frage von Gas-Prom in der Duma behandelt wurde…

Erzähler:
In der Statsduma, dem Parlament, war Widerspruch gegen die sozialen Folgen der geplanten neuen Privatisierungswelle laut geworden. Mit Boris Nemzows Angriff auf die Duma werden diejenigen gleich vorsorglich eingeführt, die man später als Schuldige belasten kann, wenn auch diese Offensive wieder nur zur einer Verschärfung der Krise führen sollte. Die Bevölkerung ist allerdings nicht mehr so leicht zu gewinnen. Zu viel wurde schon versprochen und nicht gehalten. Babuschka, die Rentnerin, die den Auftritt Boris Nemzows von ihrem Invalidenlager aus am Fernsehschirm verfolgt hat, traut weder dem neuen Kabibett noch dessen Gegenspielern in der staatlichen Duma.

O-Ton 6, Musik, Babuschka            (1,05)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Erzähler hochziehen

Übersetzerin:
(stockend) „Keiner von denen, die da rummachen, kümmert sich um den Staat. Sie sind für niemanden nutze. Für niemand! Das sind Leute, die nichts tun, nichts schaffen, außer für die eigene Tasche. Sie reden nur; jeder hat nur seine eigene Sache im Sinn. Aber für unseren Staat ist es jetzt nötig, daß das Leben wieder in Ordnung gebracht wird.“

Erzähler:
360.000 Rubel bekommt die alte Frau im Monat. Das sind ca. 60 Dollar. Die werden immerhin bezahlt. „Hier in Moskau ist es besser“, erklärt Babuschka ihrem erstaunten Logiergast, „hier kriegen wir unser Geld.“ Aber ihre Tochter, die nicht in Moskau lebt, hat seit Monaten keinen Lohn mehr ausbezahlt bekommen. Ihr Sohn ist arbeitslos. Beide leben von der Pension ihrer Mutter. So ist es auch in anderen Familien. Verkehrte Welt, die Jungen leben von den alten, das Land von der Stadt. Mit zehn Dollar pro Nacht ist der ausländische Gast für diesen Monat und vielleicht noch für den nächsten die Überlebensquelle für diese Familie. Solche Tatsachen lassen sich durch Fernsehreden allein nicht verdrängen. „Die Worte der Politiker sind nur Kleingeld“, meint Babuschka.
… eto melotsch

Erzähler:
Aber nicht nicht nur Babuschka ist skeptisch. Staunend kann man vernehmen, daß das Stichwort von der „kriminellen Privatisierung“, das früher vor allem von Konservativen benutzt wurde, in der russischen Hauptsstadt inzwischen so zum Alltag gehört wie die Frage nach dem Befinden oder die nach dem Wetter. Jefim Berschin und sein Freund Kyrill Swetitschki, beide Redakteure der früher angesehenen, heute zu konservativen Positionen neigenden Zeitschrift, „Literaturnaja Gaseta“, gehören schon seit Jahren zu denen, die Ausverkauf und Kriminalisierung der Gesellschaft beklagen. Heute konstatieren sie nur noch sarkastisch:

O-Ton 7: Jefim Berschin, Kyrill Swetitschki, Redakteure      (1,07)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, am Ende hochziehen

Übersetzer:
„To est, perwi moment kaschdi…“
Anfangs, als alles anfing, da wurde jeden Tag geschossen, jeden Tag getötet, irgendjemand aufgehängt usw. Es ging um die Aufteilung der Einflußsphären. Jetzt ist das schon nicht mehr so, nur noch, wenn sich mal einer nicht unterordnen will. Im Kern werden die Dinge nicht mehr mit Pistolen entschieden. Die Mafiosi treffen sich auf dem Niveau der großen Leute im Restaurant, sie greifen zu einer guten Flasche und sprechen sich ab. Das bedeutet, die Mafia ist heute schon so sehr mit der Macht verflochten, sie stützt so sehr die gegenwärtige Ordnung, daß sie schon nicht mehr auf der Straße agieren muß. Die Polizei achtet nur noch darauf, die Mafia von der Straße zu holen, damit sie da nicht die Leute belästigen und die Menschen ihren Alltag ruhig leben können. Das ist für die Leute gut und für die Mafia ist es auch gut. Wenn man dir also sagt, daß du hier nicht auf die Straße gehen kannst, dann ist das Unsinn. Die Mafia braucht die Straße schon nicht mehr. “
… eta nje prawda

Erzähler:
Die reformorientierte Linke ist dazu übergegangen, öffentlich Alternativen zur „kriminellen Privatisierung“ zu thematisieren. Zu einem Vortrag über „Alternativen zur kriminellen Privatisierung“ im Haus der Wissenschaftler finden sich gut vierhundert Menschen ein. Vortragender ist Professor Sarasow, ein Wirtschaftswissenschaftler, der sich dem sozialdemokratischem Spektrum zurechnet. Dazu gehören auch Vereinigungen wie die „Stiftung Gorbatschow“ und ähnliche Kräfte, die sich weder der kommunistischen Linken noch den Radikalreformern verbunden fühlen. Viele von ihnen sind enttäuschte Reformer. Der Professor beginnt seinen Vortrag mit dem Hinweis, daß in der Geschichte bekanntlich nicht immer alles so komme wie geplant. So bei den Bolschewiki, die den Sozialismus wollten und den Stalinismus ernteten:

O-Ton 8: Professor Sarasow im Haus der Wissenschaftler    (1,14)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, zum Beifall am Ende hochziehen, danach abblenden

Übersetzer:
Tosche samije tjeper…
„Dasselbe heute: Am Anfang der demokratischen Umwälzungen dachten wir, daß wir Markt und Demokratie aufbauen, eine effektivere Wirtschaft als die des Planes. Tatsächlich kam es ganz anders: die jetzige Wirtschaft ist weniger effektiv als die Planwirtschaft. Der Umfang der Waren, die die Bevölkerung erhält, sank um das Zweifache. Was muß man mehr sagen? Ja, wir forderten die freie Marktwirtschaft und die parlamentarische Demokratie. Ja, wir forderten das private Unternehmertum! Aber wir forderten nicht den Zerfall des Staates und wir forderten nicht die Übergabe des Eigentums an die nomenklaturische Mafia. Aber genau so ist es gekommen. Und jetzt muß man begreifen: Von den anfänglichen Zielen sind wir heute weiter entfernt als vor fünf Jahren. Und wir sehen, daß wir nicht dahin gehen, wohin wir wollten. Darüber werde ich sprechen.
…letzte Worte, Beifall

Erzähler:
Die Alternative, die der Professor vorträgt, lautet „Renationalisierung“. Unmißverständlich fordert er eine Wiederverstaatlichung der Wirtschaft, und zwar je eher, desto besser. Durch den Zusammenschluß von unten müsse dem Raub von oben entgegengetreten werden. Das, erklärt er, sei der einzige Weg, um dem volkommenen wirtschaftlichen und moralischen Zusammenbruch entgegenzuarbeiten, den die Regierung jetzt auch noch zu beschleunigen drohe. Das Auditorium debattiert mehrere Stunden. Fragen und Ergänzungen gibt es viel, Widerspruch kaum.
In den offiziellen Kreisen der wissenschaftlichen Analytik ist es nicht sehr viel anders. Typisch für die Zerrissenheit, in die die reformwilligen Intellektuellen Rußlands heute gekommen sind, ist Tatjana Saslawskaja. Als Kopf der sogenannten Nowosibirsker Schule war sie einst Vordenkerin der Perestroika. Heute ist als die Große alte Dame der neuen russischen Sozialwissenschaften Co-Rektorin am „Internationalen Zentrum für Sozialwissenschaften“, das Strategien für die Regierung ausarbeitet, und Leitererin der „Moskauer Hochschule für Sozialwissenschaften“. Sie ist also eine Person, die wissen sollte, wohin das Schiff steuert. Direkt befragt, was sie von den Ansichten Professor Samarows halte, beklagt auch sie die kriminelle Privatisierung, dazu die allgemeine Kriminalisierung der Gesellschaft, und, was das Schlimmste sei, die „kriminelle Macht“. Dies ist für sie das erschreckendste Ergebnis der Perestroika. Aber was tun? In der Antwort darauf entwischt ihr ein Eingeständnis, das sie zugleich wieder zurückzuholen versucht:

O-Ton 9: Tatjana Saslawskaja            (0,47)
Regie: kurz stehen lassen, runterfahren, unterlegen, am Ende hochziehen

Übersetzerin:
„Renationalisazia…
„Was die Renationalisierung betrifft: Ehrlich gesagt, mit dem Herzen würde ich sie begrüßen! Denn wirklich haben Banmditen das Gemeineigentum an sich gerissen! Aber mir scheint, sie ist nicht real. Erstens befindet sich ein großer Teil des Eigentums bereits im Ausland. Zweitens ist nicht bekannt, bei wem welche Gelder liegen und von wem man es zurückholen müßte. Entscheidend aber ist, daß dadurch ein Bürgerkrieg entstehen könnte. Die Clans würden sich gegenseitig bekämpfen. Wessen Gesetze sollten da gelten? Das läuft nur auf einen Kampf der einen kriminellen Struktur gegen die andere hinaus. Das ist einfach hoffnungslos.“
…prosta besnadjoschno.

Erzähler:
Das Herz schlägt für den sozialistischen Weg, der Kopf diktiert den marktwirtschaftlichen; die Wirklichkeit wiederum ist eine unberechenbare Gesellschaft, in der alles möglich ist. Der einzige Ausweg, den Rußlands bekannteste wissenschaftliche Vorkämpferin der Perestroika aus dem Dilemma sieht, lautet: Bloß nicht an das labile Gleichgewicht rühren! Andere sehen genau in diesem Gleichgewicht Rußlands Chance. Als pluralistische Balance unterschiedlicher Oligarchien, zwischen denen der Präsident des Landes lavieren könne, beschreibt Dimitri Diskin, ein jüngerer Wissenschaftler, das von Frau Saslawskaja beklagte Dilemma. Diskin ist am  „Institut für Volkswirtschaft“ als Spezialist für Fragen der Transformation und für die Entwicklung von Eliten tätig. Er stimmt der allgemeinen Charakterisierung der aktuellen russischen Verhältnise als krimineller zu. Ihm geht es aber um mehr. Um zu verstehen, was heute in Rußland vor sich gehe, reiche es nicht, nur von Markt zu sprechen. Diskin fordert dazu auf, tiefer in die historisch gewachsene Sozialstruktur Rußlands hineinschaun. Sie bringe ganz eigene Entwicklungen hervor. Ob Rußland sich auf dem Wege zum Kapitalismus befinde?

O-Ton 10: Dimitri Diskin, Transofrmationswissenschaftler        (1,05)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden

Übersetzer:
„Nu, jesli goworits stroga…
„Streng gesagt haben wir keinen Kapitalismus erhalten. Kapitalismus, das hieße doch vor allem erst einmal Chancengleichheit im wirtschaftlichen Handeln, mindestens formal. Dafür sind gleiche Rechte des Eigentums unabdingbar. Das gibt es bei uns nicht, das ist offensichtlich! Bei uns ist das Recht auf Eigentum an die politische Macht gekoppelt. Was aber noch wichtiger ist: In der sowjetischen Zeit war Geld nicht das einzig Entscheidende. Geld im Kriegsgeschäft war wichtig, um Aufträge zu bekommen. Geld in der Leichtindustrie war etwas völlig anderes. Geld in der Hand des Volkes war noch etwas anderes. Bargeld war wieder etwas anderes. Viele verschiedene Gelder gab es. Auch heute gibt es in der Wirtschaft ganz unterschiedliche Gelder: Geld, das dir zum Beispiel von Budget aus zusteht, ist kein Geld, bevor es nicht bei dir angekommen ist. Wenn heute aus dem Budget nicht gezahlt wird, wenn der Lohn nicht gezahlt wird usw., dann heißt das alles nur eins: daß es heute immer noch unheimlich viel feudale Überbleibsel in unserer Wirtschaft gibt.“

Erzähler: Auch heute, so Diskin, lebe man in Rußland nicht vom Geld allein. Man fahre fort mit dem Austausch von Dienstleistungen, von Naturalprodukten; mit Bartergeschäften; man lebe von Gärten und Höfen. In dieser Tatsache sieht Diskin den Grund für eine soziale Stabilität, die auch durch die aktuelle Krise, die wesentlich eine Geldkrise sei, nicht zu erschüttern sei. Im Gegenteil, nach der Wahl 1996 hat sich der Einschätzung Dimitri Diskins folgend gerade auf Basis der Tatsache, daß die Menschen nach wie vor nicht vom Geld allein leben, soetwas wie eine politische Stabilität hergestellt:

O-Ton 11: Diskin 2Forts.                 (1,03)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Prinzipalno waschno, schto…:
„Es ist von prinzipieller Wichtigkeit, daß sich nach den Wahlen die politischen Konstruktion der russischen Föderation geändert hat. Früher waren die Gouverneure ernannt, jetzt sind sie gewählt. In diesem Sinne ist die staatliche Organisation demokratischer geworden. Zweitens hat sich der politische Status der kommunistischen Partei in entscheidendem Maße geändert. Sie hat die Verfassung anerkannt, sie führt den Dialog mit der Regierung, sie stimmte dem Budget zu, sie ist Stütze der regionalen Bürokratien, sie dient jungen Oppositionellen als Karriereleiter. Wenn sie vorher eine totale Oppositionspartei war, so ist sie jetzt ein Teil des Establishments.“
…tschast establischmenta.“

Erzähler:
Im „Zentralen Institut für Meinungsforschung“ wird aus Stabilität sogar Normalität. Nicht ohne allerdings ebenfalls einen Ausflug über die Kriminalität gemacht zu haben, faßt Professor Juri Levada, der Leiter des Instituts die politischen Lage nach den Demonstrationen zu einem gänzlich undramatischen, fast melancholischen Bild zusammen:

O-Ton 12: Juri Lewada                (1,08)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, nitschewo ossobije nje bilo…:
„Es war nichts Besonderes. Es gab Artikel, Aufzeichnungen, verschiedene Berichte darüber. Aber die Regierung ängstigte sich. Sie schüchterte die Leute ein und das auf sehr unkluge Weise, finde ich, indem sie polizeiliche Macht demonstrierte. Es kam zwar nicht zu Einsätzen, aber es war nicht nötig einzuschüchtern. Es ist doch so, daß unsere Opposition keinerlei Verbindungen mit der Massenbewegung hat. Unsere Kommunisten sind nicht mit den Gewerkschaften verbunden und unsere Gewerkschaften sind generell folgsam. Sie beschränken sich auf kleine Forderungen, reine Mildtätigkeiten, genau besehen. Und die Leute glaubten im Vorfeld nicht, daß diese Aktivitäten irgendeinen Sinn haben könnten. Deshalb haben nur wenige Leute teilgenommen, ohne irgendwelche Schärfen. Es zeigte sich einfach eine allgemeine Hilflosigkeit – der Macht, der Opposition und des Volkes.“
… oppositii i naroda.“

Erzähler:
Dem neuen Anlauf der erneuerten Regierung gibt Prof. Lewada, obwohl er gern möchte, keine Chance, ebensowenig den polternden Schimpfkannonaden des Präsidenten, der mit lauten Worten verurteilt, was Ergebnis seiner eigenen Politik ist: ein gesellschaftliches Klima, in der nur noch der eigene Vorteil zählt. Der Professort hofft allein auf einen kleinen wirtschaftlichen Aufschwung, der es der Regierung erlauben könnte, wenigstens die gegebene Balance für eine Zeit aufrechthalten. Wie lange? Dazu will er keine Prognose wagen.

O-Ton 13: Metro                 (020)
Regie: allmählich während der letzten Worte kommen lassen, kurz frei stehen lassen, abblenden

Erzähler: Im Gewerkschaftsbüro gegenüber dem „Weißen Haus“ will man von Hilflosigkeit nichts hören. Auf die Frage, ob sie die Demonstrationen als Erfolg betrachten, antwortet Michail Nagaitzew, Vorsitzender der „freien Gewerkschaften Moskaus“:

O-Ton 14: Michail Nagaitzew, Gewerkschafter    (0,37)
Regie: kurz stehen lassen, allmählich abblenden

Übersetzer:
„Ja, dumaju da…
„Ich denke ja. Die Gewerkschaften haben einfach eine neue Qualität erreicht. Wenn du bedenkst, daß man früher im Fernsehen überhaupt nichts gezeigt hat, so wurde über diese Aktion in Rußland ebenso wie im Ausland überall sehr gut berichtet. Unsere Losung war: Eine Neue Regierung – und wir haben eine neue Regierung! Schmackow, unser Vorsitzender, wurde nach den Aktionen vom 25. März zum Beispiel von der Internationalen Bank für Wiederaufbau und vom Internationalen Währungsfonds zu einem Vortrag über die sozial-ökonomische Situation in Rußland eingeladen.“

Erzähler: Einen korrumpierten Kapitalismus mit kriminellen Strukturen habe Rußland erhalten. Das findet auch Michail Nagaitzew. Etwas Katastrophales kann er darin aber nicht sehen:

O-Ton 15: Nagaitzew, Forts.            (0,54)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Ja i profsojus…
„Ich selbst und auch die Gewerkschaft, wir denken nicht, daß die Situation katastrophal ist. So denkt Szuganow, das meinte auch Goworuchin mit seinem Film `So kann man nicht leben.´ Aber Goworuchin sagte das unter der sowjetischen Macht. Da war es in der Tat unmöglich so so leben. Heute denke ich absolut nicht, daß die Situation katastrophal ist. Nach den Demonstrationen im März haben alle gesehen, unter anderem in Deutschland, auf allen Radiostationen überall in der Welt, was hier in Rußland vor sich geht. Eine Woche danach fand in Moskau eine Konferenz statt, wo die Frage der sozialen Partnerschaft erörtert wurde. Wir, die Moskauer Föderation, alle Chefs der Administration der Kreise und der umgebenden Republik und sowie die Arbeitgeber versammelten sich. Zwei Tage beratschlagten wir über die Situation. Auf Demonstrationen kannst du ja nichts entscheiden. Wir haben schon im vorigen Jahr eine solche Sozialpartnerschaft vereinbart. Ich denke, daß das ziemlich seriös ist. Der Grundgedanke, mit dem wir in die Verhandlung gehen, lautet: Für sozialen Frieden, muß man bezahlen!“
…nuschno platits.“

Erzähler: Die Arbeitgeber selbstverständlich, konkretisiert Michail Nagaitzew. Was er darunter versteht, wird in der Position deutlich, die er zur Privatisierung bezieht:

O-Ton 16: Nagaitzew, Forts.            (1,00)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer kurz hochziehen, danach abblenden, unterlegen, nach zweitem Übersetzer hochziehen.

Übersetzer: „Für mich ist Privatisierung zum Schimpfwort geworden. Ich denke, das ist unsere offizielle Position, daß wir – die Gewerkschaft – das Recht auf Reproduktion der Arbeitskraft privatisieren sollten. Das ist es, womit ich mich jeden Tag befasse.“

Regie: kurz hochziehen, abblenden, unterlegen, nach Übersetzer hochziehen

Erzähler: Unter der sowjetischen Macht, erklärt Michail Nagaitzew, erhielten die Arbeiter 19/20% Lohn vom Mehrwert, mit der kostenlosen sozialen Versorgung kletterte der Anteil auf 30 bis 35%. Heute ist das Niveau des ausgezahlten Anteils am Mehrwert erhalten geblieben, aber der Staat hat sich aus seinen sozialen Verpflichtungen herausgezogen. Wörtlich fährt Nagaitzew fort:

Übersetzer: „Deshalb sagen wir dem Staat jetzt: Wir sind bereit, euch von dem Problem zu entlasten. Aber dann gebt den Leuten, wenn sie zum Beispiel eine Million Rubel verdienen, noch eine Million drauf, damit sie nicht auf der Straße stehen und demonstrieren; die können wir selbst austeilen, Fonds einrichten für Rente, für Arbeitslosenhilfe, für Versicherung usw. – aber ihr laßt die Finger von den Fonds!“
… i ni troga eti fondi.

Erzähler:
So wie Moskau insgesamt, so glänzt der Sekretär der Moskauer freien Gewerkschaften mit Zahlen über Moskaus niedrigen Arbeitslosenstand, über die hohe Zahl mittlerer Betriebe, über die nach wie vor in Betrieb befindlichen Kindergärten usw. Radikalen Forderungen von Gennadi Szuganow, dem Chef der KP Rußlands und Alexander Lebed, dem bekannten Ordnungspolitiker durch die Organisation der Proteste das politische Wasser abgegraben zu haben, erfüllt ihn mit besonderer Befriedigung.
Was aber passiert, wenn die Sozialpartnerschaft nicht funktioniert und wenn man über die Grenzen Moskaus hinausschaut, das beschreibt Andre Kolganow. Er ist Professor für Wirtschaft an der Moskkauer Universität, war lange Zeit führendes Mitglied der gewerkschaftsoppositionellen „Partei der Arbeit“ und als Ratgeber in den „freien Gewerkschaften“ tätig. Heute ist er deren imtimster Kritiker.
Auch Prof. Kolganow hält das heutige russische Wirtschaftssystem nicht für Kapitalismus, auch er hebt die Tatsache hervor, daß man in Rußland nicht vom Lohn allein lebe, sondern von naturalen und sozialen Bezügen, die die Betriebe tragen. Dann aber hält er es für nötig einzuschränken:

O-Ton 17: Prof. Kolganow                (1,05)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Seitschas paschlui usche…:
„Jetzt ist das leider fast nicht mehr so. Schon 1992 und 1993 befanden sich viele Unternehmen in einer schwierigen finanziellen Lage. Sie schafften es aber immer noch, Wohnungen für ihre Arbeiter zu bauen, Kindern zu niedrigen Preisen Sommerurlaub zu ermöglichen usw. Inzwischen gibt es diese Möglichkeiten kaum noch. Wenn es keinen Lohn gibt, dann heißt das heute, es gibt gar nichts. Moskau ist eine Ausnahme, Hierhin  fließen 80% des Budgets. Hier wird gezahlt. Hier will man keine Unruhe. Insgesamt haben wir jetzt aber Erscheinungen, die denen des Kriegskommunismus während des Bürgerkriegs sehr vergleichbar sind, also wie 1918, 1919, 1920, als man den Arbeitern die Produkte gab, die ihr Betrieb herstellte. Eine Fabrik, die Geschirr herstellt, bezahlt mit Geschirr. Die Arbeiter müssen das Geschirrr verkaufen, um Geld für ihre Existenz zu erhalten. Das ist vor allem in den Regionen und den kleineren Städten so. Das kannst du sogar auf den wilden Märkten Moskaus beobachten, wo sie Geschirr verkaufen oder sonst irgendetwas, was bei ihnen gerade produziert wird.“.
…ilu eschtscho schto to.

Erzähler:
Seit Jahren gehe das nun schon so, räumt er ein, jetzt aber komme eine qualitative Grenze in Sicht: Die Privatisierung, die jetzt noch mal angeschoben werden solle, werde am Widerstand der Monopole scheitern, bestensfalls den Zerfall und die individuelle Bereicherung beschleunigen, keinesfalls aber Geld für Investitionen freisetzen. Die Produktion werde weiter absinken, die Landwirtschaft befinde sich schon jetzt in tödlicher Lage:
O-Ton 18: Kolganow, Forts.             (1,09)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Oni mogut prodalschatsja…
„Man kann natürlich noch weiter die Ressourcen verkaufen und damit die Bevölkerung ernähren. Das trägt zur Zeit! Wie lange das noch geht, ist jedoch ungewiß. Beim Öl etwa läuft auch so ein Prozess der beständigen Einschränkung der Produktion. Sehr wenig Mittel werden in die Modernisierung, noch weniger in geologische Erkundungen gesteckt. Im Gasbereich ist es etwas besser; die Kohle ist schon ganz und gar vernichtet; andere Bereiche, etwa die Forstwirtschaft liegen ebenfalls am Boden. Die Konjunktur auf dem Weltmarkt hat sich für sie verschlechtert und seither sind sie in eine schwierige Lage gekommen. Dasselbe gilt für die Produktion von schwarzen Metallen. Die Maschinen  veralten, die Zahl der Unfälle steigt. Noch funktioniert die Eisenbahn, noch arbeitet das Elektrizizätsnetz, die Heizung der Häuser, das Telefonnetz. Insgesamt hält sich die Wirtschaft auf dem, was früher produziert worden ist. Genau läßt sich nicht sagen, wie lange unser technisches System sich ohne Erneuerung noch hält.“
…bes technischteskowo obnowlenije.“

Erzähler:
Für die Zukunft sieht Professor Kolganow drei mögliche Varianten: den Weg Pinotchets, den asiatischen Weg wie in China oder Korea, als autoritäre, vermutlich sogar blutige Lösungen seien beide Wege aber nicht , oder eine völlige Änderung des jetzigen Kurses in Richtung auf Wiedereinbeziehung der traditionellen korporativen und kollektiven Strukturen des Landes. Prioritäten sieht er für keine der Lösungen. Alles ist möglich:

O-Ton 19: Kolganow, Forts.            (0,47)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
„Konjeschna est u…
„Natürlich besteht bei einigen das Verlangen, die eiserne Faust einzusetzen, um ihre Ziele durchzusetzen. Aber es sieht so aus, als ob heute die reale Möglichkeit für soetwas nicht besteht. Das heißt nicht, daß sie nicht in der Zukunft auftritt. Alles hängt aber davon ab, bis zu welchem Grad sich die ökonomische und soziale Krise im Lande entwickelt. Wenn sie bis zur vollkommnenen Desorganisation der Wirtschaft voranschreitet, dann ist alles möglich; wenn sie irgendwie angehalten werden kann, ich rede gar nicht von Wachstum oder so, dann ist nichts Schlimmes zu erwarten.“
…sabiti budut proschodits.

Erzähler: Die Gründe für Prof. Kolganows Gleichmut liegen wie bei Dimitri Diskin und allen anderen nicht im wirtschaftlichen, sondern im politischen Bereich: Er verweist auf die demoralisierte Armee, auf konkurrierende Sicherheitsdienste, auf eine Polizei, die sich von einer kriminellen Regierung mißbraucht fühlt. Das Wichtigste aber sei die Bevölkerung, die nicht bereit sei, sich aus den kollektiven Strukturen zu lösen. Darüberhinaus gebe keine Führer, die eine für eine Mehrheit glaubhafte Alternative zur Regierung formulieren könnten.

O-Ton 20: Pressekonferenz Szuganow        (1,03)
Regie: langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen

Erzähler:
Atmo Saal, Szuganow spricht…
Als lege sie es darauf an, ihre Angepaßtheit vor aller Augen zu bestätigen, lud die Kommunistische Partei Gennadi Szuganows im April erstmals in ihrer Geschichte per offizieller Pressekonferenz öffentlich zu ihrem bevorstehenden Parteitag ein. Mit Fragen der Parteidemokratie werde man sich befassen, erklärt Szuganow leidenschaftslos. Nichts Sensationelles sei zu erwarten, bekräftigen seine Sekundaten.
Auf die Frage aus der Versammlung, wie die Partei auf die Ankündigung einer neuen Schockwelle seitens der Regierung zu reagieren gedenke, hebt der Parteivorsitzende zunächst mit starken Worten an:

O-Ton 21: Pressekonferenz, Forts.        (1,08)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Erzähler:
Szuganow spricht…
Heute habe man es mit dem Versuch zu tun, weitere Maßnahmen zu ergreifen, um die Zerstörung Rußlands zuende zu bringen, sagt er. Nachdem er in den nächsten Sätzen Regierung und Gewerkschaften in einem Atemzug als „Taschenträger des internationalen Kapitals“ hingestellt hat, kommt er dann nur noch dahin, seine Hoffnung zu äußern, daß die neue Gruppe der Radikalreformer sich die Zähne ausbeißen möge. Eine nochmalige – ungeduldige – Nachfrage aus dem Saal, welche Maßnahmen die Partei dagegen zu ergreifen gedenke, wiegelt er unwillig mit dem Hinweis ab, man werde sich aller bekannten legalen Mittel bedienen…
…Spassibo, Athmo

Erzähler:
Nicht viel anders im Stabsquartier von Alexander Lebeds und der von ihm gegründeten „Russischen republikanischen Volkspartei“. Wer harte Töne gegen die Regierung erwartet hätte, sähe sich enttäuscht. Nur mit friedlichen Mitteln und über geduldige Öffentlichkeitsarbeit wolle man eine Dritte Kraft, eine gesetzliche Ordnung aufbauen, versichert der Sekretär ein um das andere Mal. Selbst provokatives Nachfragen, wer diese Ordnung durchsetzen solle, wenn die Regierung es nicht wolle, entlockt ihm nicht mehr als die immer noch überaus sanfte Erklärung:

O-Ton 22: Pressebüro von A. Lebed        (0,25)
Regie: kurz stehen lassen, abblenden, hochziehen

Übersetzer:
„Nu, snaetje, ne chotjat…
„Was heißt hier: nicht wollen? Man muß eine verläßliche exekutive Vertikale aufbauen, eine normale, mit einer Mannschaft von Leuten, die das Bewußtsein vereint: jeder an seinem Platz. Das ist klar. Dann wird dieser Mechanismus es tatsächlich schaffen die Leute dahin zu bringen nach dem Gesetz zu leben. Wenn du die Gesetze verletzt und wenn das bewiesen wird, dann wirst Du eben zur Verantwortung gezogen.“
…verzieht die Worte

Erzähler:
Am Klarsten brachte ein dritter Opponent die Situation auf den Punkt: Martin Schakkum, einer der in der Präsidentenwahl abgeschlagenen Konkurrenten Boris Jelzins. Mit Versatzstücken aus Sozialismus, Staatstreue und einer gehörigen Portion Eigenliebe leitet er ein „Institut für Reform“. Es beschäftigt sich mit der Ausbildung von Regierungs- und Verwaltungskadern. 1991 stellte es einen großen Teil der von Boris Jelzin neu eingesetzten Adminsitration. Auch viele der heutigen höheren Beamte stammen aus Schakkums „Denkfabrik“, wie er das Institut nennt. Beide Hände reichen ihm nicht, um sie aufzuzählen. Inzwischen aber, so Schakkum, arbeite das Institut nur noch „für die Zeit danach“. Der Regierung sei nicht mehr zu helfen. Ob er gegebenenfalles auch bereit sei, Lebed oder Suganow zu unterstützen? Aber klar, antwortet er, warum nicht?

O-Ton 23: Martin Schakkum            (1,07)
Regie: Kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen

Übersetzer:
…jesli on gatow provodits
„Heute geht es um die Frage der Rettung Rußlands, wenn die Politik im Rahmen eines vernüftigen Korridors liegt, obwohl – ich bin praktisch zu allem bereit. Wie soll ich sagen? Der Korridor der Möglichkeiten für eine neue Macht ist so eng, heute besteht die Abhängigkeit vom Westen und die eigenen Reserven Rußlands sind so klein, daß man nicht jede Politik machen kann. Wenn jemand hier einen Kriegskommunismus will oder einen totalitären Staat, dann lassen sie das einfach nicht zu. Sie drehen einfach den Hahn ab, die Bevölkerung Rußlands verhungert und die Macht wird auf der Stelle hinweggefegt. Aber nicht nur das: Darüberhinaus müssen die Führer oder ihre Mannschaften heute diese Gesamtheitlichkeit besitzen, diese mobilisierende Idee. In dem heutigen Rußland, nach all den schrecklichen Verwüstungugen, den blutigen Ausschreitungen und Ausplünderungen, die wir hinter uns haben, muß man für eine gewisse Zeit mit einem mobilisierenden Regime arbeiten.“
…mobilisationem regime.“

Erzähler:

Die mobilisierende Idee ist für Martin Schakkum gleichbedeutend mit der Wiederherstellung eines würdigen Lebens in einem postindustriellen Zeitalter. Was das genau heißt und worin sich diese Vorstellungen von denen der Regierung effektiv unterscheiden, bleibt offen. Sicher ist nur, daß die Einheit des früheren russischen Imperiums irgendwie dazugehört. Daß die Auftritte Gennadi Szuganows, Alexander Lebeds, ebenso wie die Martin Schakkums und ähnlicher politischer Figuren nur die freundlichen Töne eines dahinter möglicherweise aufsteigenden Ungewitters sind, wird unüberhörbar, sobald man auf die Straße hinaustritt.

O-Ton 23: Metro und Roter Platz             (1,53)
Regie: kommen lassen, kurz frei stehen lassen, unterlegen, am Ende allmählich, noch einmal frei stehen lassen, dann abblenden

Erzähler:
Ein junger Mann, dem Anschein nach kaum aus der Pubertät heraus, spricht vor einem Haufen Unzufriedener am Platz der Revolution. Er agitiert im Namen der „russischen kommunistischen Arbeiterpartei“. Er beschuldigt den Führrer der KP Rußlands, Gennadi Szuganow, des Verrats. Die wütenden Tiraden des jungen Mannes, ebenso wie die seiner Nachredner lassen den Haß erahnen, der in die Mobilisierungen eingehen könnte, wenn es den Gewerkschaften und selbst noch der Kommunistischen Partei, Alexander Lebed oder Männern wie Martin Schakkum nicht mehr gelingen könnte, die Folgen einer neuen Schockwelle mit ihren Integrationsmechanismen aufzufangen.

Regie: Während des Schlußkommentars hochziehen und dann allmählich ausblenden.

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