Besuch bei einer russischen Bezirksrichterin

Vorspann seitens des Senders. Sinngemäß: Welche Spuren hinterlassen Wandlungen im Alltag? Ein Besuch im Bezirksgericht im Arbeiterdistrikt Kirowski in Nowosibirsk.

O-Ton 1:Samie glawnie trudnosti… (0,38)     … winuschdi raboti samimatsja)
Regie: Alle O-Töne kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, am Schluss des Zitats hochziehen und abblenden. Alle O-Töne sind identisch mit den Zitaten, in den ersten und letzten Sätzen jeweils wörtlich. Der letzte O- Ton wird am Schluss nach dem Kommentar hochgezogen und nach dem Lachen abgeblendet.

Übersetzerin:  „Die Hauptschwierigkeit ist die Überlastung. Uns                 fehlen die Mitarbeiter, uns fehlt die Zeit, um so zu arbeiten wie es sein sollte. Es fallen hier heut so viele Dinge an, dass wir einfach nur noch springen, springen, springen. Dazu kommt, dass an allen Ecken das Geld fehlt; Moskau plant, aber die Mittel bekommen wir nicht: keine Kopierer, keine Computer, nicht einmal ausreichend Exemplare der gesetzlichen Verordnungen! So befassen wir uns hier nicht nur mit unserer eigentlichen Arbeit, sondern sind gezwungen, uns noch mit rein technischen Dingen zu beschäftigen.“

Erzähler: Galina Popienko, leitende Richterin, empfängt uns                 im zweiten Stock eines Mehrzweckgebäudes. Im Volksmund wird es einfach Bezirkskontrollpunkt genannt: unten Polizeiwache, im oberen Stockwerk die Prokuratur, die allgemeine Rechtsaufsichtsbehörde. Frau Popienko, eine freundliche, runde Frau, die viel lacht, während sie mit uns spricht, nimmt kein Blatt vor den Mund:

Ton 2: Ransche djela po ubistwa… (0,21)     … wypili, padrali, ubili

Übersetzerin:   „Früher gab es fünf, sieben, im Höchstfall zwölf                 Mordfälle pro Jahr. Jetzt habe ich an einem einzigen Tag gleich fünf `Morde‘ auf dem Tisch. Alle hängen sie irgendwie mit Alkohol zusammen: Affekthandlungen, keine großen moralischen Fragen. Es kommt alles aus dem gewöhnlichen Alltag: gesoffen, geschlagen, getötet.“

Erzähler:   Beängstigend wachse auch die Zahl der                 Erpressungen durch Gewaltandrohung. Zwei, drei, vier Fälle habe sie am Tag. Besonders beunruhigend sei, dass das durch junge, kräftige Leute geschehe, die so ohne Arbeit, einfach durch Gewalt, zu Geld kommen wollten:

Ton 3. Setschas pawilas novie formi… (0,32)     … kotorie ransche nje bilo)

Übersetzerin: „Jetzt sind neue Formen des Verbrechens entstanden: Racket, also Schutzgelderpressung, mafiotische Aktivitäten, organisierte Strukturen. Früher haben wir von so etwas nichts gehört. Früher blieb das alles auf diesem Niveau: Man klaut, man räumt Wohnungen aus, man bestielt irgendein Unternehmen. Aber dass da einer kommt, der einfach Geld fordert – das ist bei uns heute neu. Überhaupt sind mit der Kapitalisierung des Landes bei uns Momente aufgetaucht, die es früher nicht gegeben hat.“

Erzähler:     Eine moralische Wende?

O-Ton 4: Besoslow, moralni Ismeninije u swech… (0,38) … nada ubiratj i budit tschista

Übersetzerin: „Aber sicher, (…) selbstverständlich, bei allen von uns. Beim Gerichtsapparat nicht anders als bei den Verbrechern, wie auch bei den einfachen Bürgern.  Wir alle haben uns ein wenig verändert. Es gibt eine größere Selbstständigkeit. (…) Die Menschen sind freier geworden und wissen sich besser zu schützen. Andererseits gibt es jetzt viel Demagogie der Art, dass man das eigene Versagen irgendwelchen Umständen oder Leuten zuschiebt, kritisiert, statt selbst etwas zu versuchen. Ich denke dagegen, wenn es im Haus schmutzig ist, muss man nicht fragen, wer Schuld hat, dann muss man den Besen nehmen und ausfegen, aufräumen, dann wird es sauber sein.“

Erzähler: Das erinnert an Formulierungen des Rechtsaußen                 Wladimir Schirinowski. Er meint damit, jeden Verbrecher standrechtlich erschießen lassen zu wollen. Ob sie mit ihm übereinstimme?

O-Ton 5: Njet besoslowna…  (O,27)     … schto nje pobiwatj wsje sosedi)

Übersetzerin: „Nein, selbstverständlich nicht. Ich habe keine                 Beziehung zu ihm. Ich denke, dass alle Maßnahmen demokratisch sein sollten. Wir sind doch vernünftige Menschen, Menschen des 21. Jahrhunderts. Da muss man auch auftreten mit Methoden des 21. Jahrhunderts. Wenn man schon renovieren muss, dann ohne dabei alle Nachbarn gleich umzubringen.“

Erzähler: Frau Popienko hofft auf den Fortgang der                 Reformen. Der werde schließlich doch ein neues Verhältnis zum Eigentum entstehen lassen und damit auch die Kriminalitätsrate wieder senken.
Bei der Frage der Vorbeugung, brechen ihre Sorgen dann aber doch noch einmal hervor: Früher sei der Mensch eingebunden gewesen, heute stehe er allein. Früher seien die jungen Menschen versorgt gewesen, heute bringe die Spaltung der Gesellschaft in wenige Reiche und viele Arme Neid und Habgier hervor. Unvermeidlich ergebe sich damit eine Grundlage für den Anstieg des Verbrechens. Das Schlimmste am neuen Gesicht des Verbrechens aber sei:

O-Ton 6: Zynism pojawilsja… (1,00)
… wot tak menjaetsja u nas prestubnik
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblenden, unterlegen, hochziehen, abblenden

Übersetzerin:  „Zynismus hat sich entwickelt! Dem Menschen ist                 sein Glaube an eine helle Zukunft genommen worden. Früher wusste der Mensch: dass bei uns alles gut ist, dass bei uns alles gerecht ist; bei uns bist Du versorgt, der Staat kümmert sich um dich. Wenn Du ehrlich arbeitest, kannst Du das und das erreichen. Jetzt ist dieser Glaube zerstört und wird durch andere Werte ersetzt. Aber nicht alle können ihn durch den Glauben an Gott, nicht alle durch Vertrauen in die eigene Kraft ersetzen. Einige sind auch einfach zu faul, sich mit eigenen Händen eine Zukunft aufzubauen. Und so kommt es, das die Leute runterkommen, anfangen zu saufen, Drogen nehmen, dass ein Leben nichts mehr gilt. Eine große Zahl von Verbrechen hängt ja auch mit der ansteigenden Zahl von Drogensüchtigen zusammen. In dieser Weise ändert sich bei uns das Bild des Verbrechers.“

Erzähler: Diese düstere Klage der Richterin wird nur noch dadurch gemildert, dass sie mich am Ende freundlich kritisiert, ich hätte sie vergessen danach zu fragen, wie sie persönlich mit ihrer Tätigkeit zurechtkomme. Das nämlich falle ihr am schwersten: Menschen verurteilen zu müssen, die sie als Opfer der Verhältnisse nur allzu gut verstehen könne verstehen könne.

Ton 7: …Schlussworte (0,17)

Regie: O-Ton auf der Mitte des Zitats allmählich hochziehen, mit dem Lachen ausblenden

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