Ein, zwei, drei, viele Moskaus? oder moderner Zarismus?

Athmo 1: O-Ton Metro und Gesang (2,15)

Regie: Nach den ersten Takten der Musik abblenden, unterlegt laufen lassen, nach Textende kurz hochziehen, ausblenden.

Erzähler: Moskau, Sommer 1993. Metro-Unterführung. Das Lied             handelt von der Emigration. Die Leute bleiben stehen, hören zu. Das Lied passt zur Stimmung. Der Machtkampf im Land spitzt sich zu. Ein paradoxes Schauspiel steht bevor: Boris Jelzin hat den Föderationsrat, also die Chefs der Verwaltungsbezirke, der autonomen Republiken und Kreise zu Hilfe gerufen. Nach dem Willen des Präsidenten soll das Gremium statt des obersten Sowjet über die neue Verfassung der russischen Föderation beraten. So erhofft sich Jelzin Zustimmung zu seinem Entwurf. Der würde ihm nahezu unbeschränkte Vollmacht einräumen. U.a. dürfte er nicht nur das zukünftige Parlament auflösen, er dürfte auch die Beschlüsse des Föderationsrats aufheben. Mit Zugeständnissen an die Regionalmächte versucht Boris Jelzin die Sowjetstruktur auszuschalten, um eben die von ihnen ausgehende Regionalisierung wieder der Zentralmacht zu unterwerfen. Ist dies der Weg zu mehr Demokratie in dem zerfallenden Imperium wie allenthalben behauptet wird?

take 1: O-Ton „dom literatow“. (0,46)

Regie: Verblenden mit O-Ton 2, kurz stehen lassen, unterlegt laufen lassen bis Textende, in take 2 überführen.

Erzähler: Parallelen aus der Anfangszeit der Perestroika             drängen sich auf. September 1990. „Haus der Schriftsteller“. Gorbatschow in der Krise: Nach den baltischen Ländern hat soeben die russische Föderation ihre Souveränität erklärt. In den kaukasischen Gebieten entwickelt sich Krieg. Der Zug sei schon lange abgefahren, erklärt Andranik Migranjan, ein bekannter junger Analytiker der liberalen Opposition schon damals:

take 2: O-Ton Andranik Migranjan. (0,42)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann abblenden, Übersetzung darüber, am Textende etwas hochziehen.

Übersetzer: „Das heißt, dass man vom Zentrum, von Moskau aus die             Union als Gesamtes nicht mehr regieren kann und dass die Republiken selbstständig werden. Das heißt andererseits, dass der Konflikt zwischen Zentrum und Republik übertragen wird auf Konflikte innerhalb der einzelnen Republiken. Als erstes wird das der Konflikt zwischen den Republiken und verschiedenen Verwaltungseinheiten, autonomen Republiken usw. sein. Zweitens führt das zum Auseinanderfallen Russlands. Dazu hat vor allem die Idee Jelzins beigetragen, die er bei seiner Rundreise durch die RFSSR zum Programm erklärt hat, dass alle, die es wollen, ihre eigene Souveränität bekommen können.“

Erzähler:     Alles, so Migranjan, hänge von der Entwicklung des             russischen Nationalbewusstseins ab. Als gebürtiger Armenier ist Migranjan besonders hellhörig für diese Fragen. Der Gedanke der russischen Überlegenheit habe durch die Geschichte eine Niederlage erlitten: leere Regale, uneffektive Wirtschaft. Das erkenne die Bevölkerung heute. Für die Zukunft erwartet er nichts Gutes:

tanke 3: Migranjan, Forts.  (0,42)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, der Übersetzung unterlegen, mit Ende des Textes hochziehen.

Übersetzer:   „Unter den Bedingungen des jetzigen, einfach nicht             mehr verwaltbaren Chaos, werden die Demokraten, die jetzt an die Macht gekommen sind, nicht ein einziges Problem lösen können. Dann wird im Volk, das einfach enttäuscht worden ist von diesen Demokraten, von diesem Markt usw. eine neue, sich konsolidierende Idee des großen Russland entstehen, die Nationalismus und Sozialismus irgendwie wieder zu vereinigen versucht. Dann kann es durchaus sein, dass diese Kräfte ein starkes einiges Russland schaffen wollen wie man früher eine starke einige Sowjetunion wollte. “

Erzähler:     Tatsächlich kann aus Teilen der russischen             Föederation schon damals radikale Forderungen nach Unabhängig hören. So bei den Tschuwaschen an der mittleren Wolga:

take 4: O-Ton Atner Chusangai (1,19)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unter dem Text weiterlaufen lassen, am Schluss hochziehen.

Übersetzer:   „Was wir anstreben, ist eine sowjetische             tschuwaschische Republik – jedoch ohne vollständige Autonomie und ohne Sozialismus. Was heißt das? Natürlich reicht es nicht, die beiden Wörter „Autonomie“ und „Sozialismus“ in der Bezeichnung der Republik zu streichen; uns scheint es da eine bestimmte Logik zu geben. Die Struktur der russischen Föderation ändert sich ja gerade, eine neue Formel des Zusammenlebens wird in Moskau ausgearbeitet. Was dies für eine Formel wird, kann im Moment noch niemand sagen, aber natürlich haben auch wir unsere Vorstellungen: Die gegenwärtige Struktur ist, wie Sie wissen, eine fünfstufige, das heißt, es gibt Sowjetrepubliken, autonome Republiken, autonome Gebiete, autonome Kreise und einfache Kreise. Das ist also eine Hierarchie, die natürlich Konflikte herausfordert. Autonome Republiken streben z.B. den höheren Status der Sowjetrepubliken an, weil die dann mehr Hilfen vom Zentrum erwarten können. Autonome Gebiete wollen autonome Republiken werden usw. So gibt es immer + wieder kleine Ungerechtigkeiten. Wir vertreten die Meinung, dass diese Hierarchie ganz abgeschafft werden muss und jedes staatliche Gebilde selbst entscheiden sollte, welchen Status es haben möchte. Das scheint uns logischer zu sein, um so mehr weil die erste Verfassung der russischen Föderation vom 10. Juli 1918 die Föderation als freien Bund freier Nationen definierte, als Föderation sowjetischer nationaler Republiken, also ohne Autonomie und ohne Sozialismus.“

Erzähler:  Der so redet, ist Atner Chusangai, Tschuwasche aus             Tscheboksary an der mittleren Wolga. In einem Raum von der Größe Deutschlands leben dort sechs Völker in sechs autonomen Republiken mit Russen zusammen – Tschuwaschen, Tataren, Utmurten, Marisken, Baschkiren  und Mordawzen. Sie alle sind Nachkommen der großen Völkerwanderungen turkmenischer und mongolischer Völker, die hier hängengeblieben sind. Chusangai ist einer der Köpfe der neu entstehenden tschuwaschischen Unabhängigkeitsbewegung. Gleichberechtigte Zweisprachigkeit ist eine seiner Hauptforderungen. Von extremen Formen des Nationalismus, wie sie sich damals unter Gorbatschows Augen in Kaukasien entwickeln, grenzt er sich entschieden ab:

take 5: Atner Chusangai, Forts. (1,28)

Regie:     O-Ton kurz stehen lassen, am Ende des Textes hochziehen, verblenden.

Übersetzer:   „Mir scheint, man kann unter Wiedergeburt einfach             eine verstärkte Aktivität auf dem Gebiet der Kultur verstehen, unter der Bevölkerung entsteht ein neues Interesse an der eigenen Kultur unabhängig davon, wo die Bevölkerung lebt. Andererseits wird die Bevölkerung dadurch natürlich politisiert. Es gibt den Begriff nationale Energie, das ist vielleicht ein etwas theoretischer Begriff, aber ich glaube es gibt diese Energie in jeder Nation. Diese Energie hat sich bei uns über eine lange Zeit aufgestaut, über Jahrhunderte. Sie hatte kein Ventil. Wenn sie sich nun entlädt, kann das zerstörerische Formen annehmen, was überall deutlich wird. Das ist die negative Seite des Nationalismus, deswegen meine ich, dass man diese Energie in normale, zivile Ausdrucksformen umwandeln muss, damit sie positiv genutzt werden kann und nicht zerstörerisch wirkt.“

Athmo 2: Kongress in Tscheboksary.

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann unter dem Text des Erzählers weiter laufen lassen.

Erzähler:     Zwei Jahre später: Oktober 1992. Erster all-            tschuwaschischer Kongress. Die Sowjetunion ist zerfallen. Jetzt gärt es in der russischen Föderation. Aus allen Teilen der früheren Union, Russlands und auch aus westlichen Ländern sind Delegierte gekommen.

Regie: Athmo kurz hochziehen, Musik dann unterlegen, am             Ende des Erzählertextes langsam höher ziehen.

Erzähler      Das Wort führt Atner Chusangai. Inzwischen rückt er             den Kampf um die politische Macht in den Vordergrund. Aus Worten sollen Taten werden: Nicht mehr kulturelle Wiedergeburt, sondern staatliche Souveränität fordert er jetzt. Statt Zweisprachigkeit beschließen die Delegierten die Einführung des Tschuwaschischen als Staatssprache für die Republik. Die Vertreter und Vertreterinnen des tschuwaschischen Kulturzentrums, die Wiedergeburt nach wie vor als kulturellen Prozess verstehen und für den Dialog zwischen Russen und Tschuwaschen, bzw. zwischen Tschuwaschen und anderen Völkern eintreten, sind nicht eingeladen, mehr noch, man hat sie ausdrücklich von der Teilnahme ausgeschlossen. Die Bewegung für die nationale Widergeburt hat sich gespalten.

Regie: Athmo kurz frei stehen lassen, dann mit take 6 verblenden.

Erzähler:     Atner Chusangai ist ungeduldig geworden:

take 6: Atner Chusangai.  (0,52)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, der Übersetzung unterlegen, am Ende kurz hochziehen;

Übersetzer:    „Das System muss anders werden, das Budgetsystem,             das Steuersystem, nicht so wie jetzt, nicht so zentralisiert. Nun, bestimmte Vollmachten sind wir ja bereit der russischen Föderation zu geben, bitte sehr – aber wir sollten selber bestimmen, was wir geben: Das, das, das, das! Jetzt läuft es genau umgekehrt, von oben. Oben sagen sie: Das, das, das ist euers; das ist unsers usw. Aber sie kennen unsere Situation hier nicht. Es muss umgekehrt sein: Das ist euer, das fassen wir nicht an. Das müssen sein: Straßen, Verkehr, Fabriken der Militärindustrie: Das ist euers, aber das da ist unsers! unsers! unsers! Das heißt, es muss eine härtere, unbeugsamere Position für die Realisierung des Schutzes unserer Souveränität der Republik her. Diese Position gibt es zurzeit leider nicht.“

Regie: Athmo 2 noch einmal kurz hochziehen, Text des Erzählers darüber legen.

Erzähler: Vor den Türen des Kongress-Saales werden weitere             Dimensionen erahnbar: Valentin Tusendik, zur Hälfte Tschuwasche, zur anderen Hälfte Tatare, stellt sich mir vor. Der bäurisch wirkender Eigenbrödler, Mitglied einer noch nicht existierenden Akademie der Wissenschaften einer noch zu gründenden Wolga-Ural Republik, wie er sagt, bittet mich, mir ein Pamphlet für die Gründung dieser neuen Republik auf Band lesen zu dürfen:

take 7: Valentin Tusendik deklamiert (2,05)

Regie: O-Ton 7 kurz laufen lassen, Text des Übersetzers und Erzählertext darüber legen, dann kurz hoch ziehen.

Übersetzer:   „Wir Leute am Ende des 20. Jahrhunderts, hier in             der Wolga-Ural-Region, auf dieser Erde im Sonnensystem der galaktischen Spirale befinden uns im Zentrum der Welt, auf dem Kontinent Euro-Asien, in der Mitte zwischen Osten und Westen, die man das `Kleine Europa‘ oder das `Kleine Asien‘ nennen kann. Hier treffen sich zwei slawische Kulturen, außerdem die türkische und die finnisch-ugrische; hier treffen sich die drei Hauptreligionen der Menschheit: Christentum, Islam und Buddhismus, außerdem Atheismus und Nicht-Christlicher Glauben, die sich – gemessen an den erschreckenden Auseinandersetzungen anderer Nationen – seit über zweihundert Jahren ohne Konflikte und Exzesse miteinander verbinden. Deshalb ist für die menschliche Gesellschaft nur hier echte Demokratie möglich. Voraussetzung dafür ist eine Bevölkerung vom Typ der großen bulgarischen Zivilisation mit einer Geschichte der Amazonen und Vertretern wie Lenin, außerdem ein besonderes Klima und Wetter…

Erzähler    Die Forderung nach Vereinigung der             Wolgavölkerschaften in einer Wolga-Ural-Republik ist Valentins Konsequenz.

Regie: Ende von take 7 kurz hochziehen und auslaufen lassen.

Erzähler: Sie kommt verschroben daher. Das Reich der             Wolgabolgaren existierte aber immerhin vom Anfang des siebten Jahrhunderts bis ins zwölfte, als es vom Mongolensturm hinweggefegt wurde. Danach übernahmen die tatarischen Khanate, insbesondere Kasan, seine Stelle. Der Raum blieb unruhig. Die sechs Völker leben dort nach eigenem Verständnis in sechs Diasporen auf engstem Raum miteinander vermischt. Im Zusammenbruch des Zarismus Anfang dieses Jahrhunderts erlebte die Idee eines Wolga-Ural-Staates eine neue Blüte. Die Bolschewiki schoben sie beiseite. Stalin unterdrückte sie endgültig als nationalistisch.

Athmo 3:Kasan, Büro des „ToZ“  (0,57)

Regie: O-Ton allmählich kommen lassen, kurz stehen lassen, dem Text unterlegen, mit take 8 verblenden.

Erzähler:   Im Büro des „tatarischen gesellschaftlichen             Zentrums“. Zweihundert Kilometer wolgaabwärts in Kasan. Freundlich wird der ausländische Journalist begrüßt. Man bemüht sich, die friedlichen Absichten der tatarischen Unabhängigkeitsbewegung zu betonen, pocht aber auch selbstbewusst auf die Erfolge: Erklärung der tatarischen Souveränität im August ’91, alltatarischer Kongress vom Juni ’92,  – noch vor dem tschuwaschischen, wie betont wird – Verabschiedung eines Sprachengesetzes. Nach seinen Vorstellungen über eine mögliche Wolga-Ural-Republik befragt, antwortet Vizepräsident Raschit Jegefarow schließlich ohne Scheu:

take8:Vizepräsident „ToZ“. (0,30)

Regie: O- Ton kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzer:   „Ich glaube, das wäre sehr gut, wenn man eine             solche Vereinigung zustande bekäme. Sehr gut wäre das, selbstverständlich! Wie das konkret sein müsste, als Konföderation oder wie, darüber haben wir hier natürlich noch nicht gesprochen. Aber jedes Volk muss erst seine eigene Souveränität haben, bevor man sich wirklich vereinigen kann. Das ist klar.“

Athmo 4: Geländewagen im Altai. (O,32)

Regie: Athmo langsam kommen dann kurz stehen lassen, unterlegen, mit take 9 verblenden.

Erzähler:     Zweitausend Kilometer weiter im Osten. Unterwegs im             Altai, der sibirischen Schweiz, wie die Einwohner im Dreieck zwischen Mongolei, China und Kasachstan an der Nordseite des Pamir ihr Gebirgsland stolz bezeichnen. Seit Sommer 1991 genießt Altai den Status einer selbstständigen Republik. Mit mir im Geländewagen Vincenti Tengerekow, Vizepräsident des republikanischen „Agro-Prom“, also des landwirtschaftlichen Verwaltungs-Monopols. Er zeigt mir die Entwicklung der Privatisierung auf den Dörfern. Vincenti ist kritisch:

take 9: O-Ton Tengerekow Vincenti, Altai:  (0,22)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzer:   „Wir haben schon viele Reformen erlebt. Das ging             immer auf Kosten der Bevölkerung, immer auf Knochen der Bauern. Das gilt auch für die Reform, die Ruzkoi jetzt durchführt. Die Bauern sind ohne Schutz.“

Erzähler:      Der Bauer könne nicht streiken wie beispielsweise             die Minenarbeiter. Aber die Preise für Industrieprodukte, für Autos, für Maschinen, für Mähdrescher und anderes stiegen. Daraus ergebe sich ein gestörtes Gleichgewicht. Ruzkoi müsse die Landwirtschaft subventionieren. Überall auf der Welt werde sie subventioniert. Jelzin habe erklärt, das solle lokal geschehen, aber lokal geschehe nichts. Wenn aber keine Unterstützung komme, könne der Bauer nichts kaufen: Keine Land-Maschinen, kein Inventar, keine Düngemittel. Ohne das sei keine landwirtschaftliche Produktion möglich.
Aber Vincentis Hoffnung liegt nicht in der Rückkehr zu alten Führungsmethoden. Vizepräsident Ruzkoi ist für ihn nichts weiter als ein Soldat, der die Landwirtschaft mit den ihm vertrauten Methoden kommandieren wolle, statt sie zu entwickeln.

take10: O-Ton Vincenti, Forts.: (0,21)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, der Übersetzung unterlegen, danach hochziehen.

Übersetzer:    „Die Landwirtschafts-Gewerkschaft nützt auch nur             ihren Führern und klüngelt mit der Macht zusammen. Was die Vertreter des obersten Sowjet oder der Regierung sagen, das ist für sie Gesetz. Nötig wäre eine unabhängige Gewerkschaft.“

Erzähler:     Und nicht nur das: Gebraucht werde eine echte             Demonopolisierung, fährt er fort, in der die Arbeit vor Ort und nicht in Moskau organisiert werde. Die Ausrufung des Altai zu einer souveränen Republik im Juni 1991 ist für Vincenti Tengerekow ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Regie: Athmo 4 noch einmal kurz einspielen, dann abblenden.
Erzähler:     Die Altaizis sind nicht die einzigen, die ihr Heil             vor dem Zusammenbruch des großen Bruders in der Flucht suchen. Die Tuwinzen und die Chakasen, kleine turkstämmige Völker an der Grenze zwischen Mongolei und Südsibirien, haben sich für unabhängig erklärt. Die Burjaten, ebenfalls dort zuhause, streben nach kultureller Autonomie. Die Jakuten, die den gewaltigen Raum Ostsibiriens besiedeln, fordern Selbstständigkeit. Faktisch bei allen nicht-russischen Völkern des Raums haben sich Wiedergeburtsbewegungen gebildet.
Aber nicht nur das: Auch in den mehrheitlich russisch besiedelten Verwaltungsbezirken selbst entwickeln sich regionale Unabhängigkeitswünsche. Bei Oleg Woronin, Dozent für Geschichte im alten sibirischen Handelzentrum Irkutsk und Mitglied der reformsozialistischen gesamtrussischen „Partei der Arbeit, wird deutlich, dass auch die neulinke Opposition sich diesem Prozess nicht verschließen kann:

take 11:  O-Ton Oleg Woronin. (1,06)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegen, am Schluss hochziehen und auslaufen lassen.

Übersetzer: „In dieser Beziehung ist der Kampf schon im Gange.             Allem voran gründete sich Frühjahr dieses Jahres die „sibirische Versammlung“ in Krasnojarsk. Als Ergebnis dieser Versammlung wurden die Forderungen nach „föderativem Dialog“ zwischen dem Präsidenten und den Vorsitzenden der Verwaltungen sowie der Republiken unterschrieben. Worum geht der Kampf? Darum wie das Budget zusammengesetzt wird. Also: Welche Steuern gehen nach Moskau und welche Mittel bleiben hier. Weiter: Ob die Region mit dem Westen, dem Osten, mit Japan, mit China, mit Deutschland, mit Amerika selbstständig Handel treiben darf, oder ob das über Moskau zu geschehen hat. Das ist eine ziemlich schwierige Frage, sowohl für die Bürokraten als auch für die geschäftlichen Strukturen. Und schließlich: Die Verteilung des Eigentums! Das ist der zentrale Punkt! Aus meiner Sicht sollte das Eigentum, rund gesagt, zu 90 Prozent fö-de-ra-li-siert werden – außer Flughäfen, Atomkraftwerken und dergl.“

Erzähler  Theoretisch wird die Notwendigkeit der             Föderalisierung des alten Kommandosystems heute von niemand in der ehemaligen Sowjetunion ernsthaft bestritten. Die Wirklichkeit allerdings spricht eine andere Sprache. Allzu offensichtlich klaffen Theorie und Praxis auseinander. Es fehlt die notwendige Infrastruktur vor Ort. Es fehlt ein entwickelter Binnenmarkt. Es fehlen die Mechanismen horizontaler Regelung von Interessenskonflikten.

Athmo 5:Im Büro des Käse-Butter-Kombinats, Altai. 0,36)

Regie: O-Ton langsam kommen und kurz stehen lassen, unterlegen, mit take 12 verblenden.

Erzähler: Im Büro des Butter-Käse-Kombinats der Republik             Altai empfängt uns Edmund Voll, Deutscher russischer Abstammung. Als Vorsitzender des Kombinats ist er unbestrittener Monopolist der Republik. Von der Tierkultur bis zur Energiebewirtschaftung geht alles durch seine Hände, was mit Milchwirtschaft zu tun hat. Auf die Frage, wie es mit der Autonomie gehe, antwortet er mit einem russischen Sprichwort:

take12: O-Ton Butter-Käse-Kombinat, Forts. (0,40)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, nach dem deutsch gesprochenen Satz runterblenden, unterlegen, mit take 13 verblenden.

Erzähler:     Dann berichtet er über die Schwierigkeiten der             Privatisierung, die man nicht einfach von oben verordnen könne. Um die Leute zu Eigeninitiative, gar zu eigenen Herstellung von Milchprodukten und deren Verkauf zu bewegen, müssten sie selber verstehen, was ihr Nutzen davon sei. Wovon aber sollten sie ihr Vieh ernähren? Womit sollten sie vor Ort Milch und Fleisch verarbeiten? Wie sollten sie ihre Produkte nach Moskau oder in andere Städte bekommen, nachdem alle Verbindungen zerrissen seien?
Seine Bilanz ist hart:

take 13: O-Ton Butter-Käse, Forts.. (1,12)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen. Den Text des Erzählers auf Zwischenfrage legen, danach kurz hochziehen, dann weiter unterlegt laufen lassen.

Übersetzer:   „So wie ich jetzt hier sitze, die Möglichkeit habe             zu reden, was ich will, wie ich es will, zu denken – das ist jetzt Freiheit. Aber mit der Entwicklung stehe ich hier auf der Stelle. Ich rede viel, aber ich bewirke nichts.“

Erzähler: Und die Unabhängigkeit?

Regie: Nach der Zwischenfrage kurz hochziehen, unterlegen, am Schluss hochziehen.

Übersetzer:   „Unabhängigkeit hat die Republik erst seit einem             Jahr. Und eben gerade erst beginnen wir nach den Gesetzen zu operieren, die die Republik schützen, die ihr den Ausweg nach außen, auf weltweite Geschäftsverbindungen öffnen. Wir hatten viele Einladungen nach Hamburg, nach Oldenburg. Ich habe Ihren Leuten gesagt: `Greifen Sie zu! Ich will, dass sie hier eine Fabrik für Tee bauen, auf der Basis von Heilkräutern, die hier einzig in der Welt blieben.‘ Sie Alle: `Ja! Ja!‘. Aber wenn sie hier sind: `Nein! Nein!‘ Sie scheuen sich einfach, Kapital zu investieren. Sie haben kein Vertrauen. Mir geht es nicht anders: Was weiß ich, was morgen sein wird.“

Erzähler:     Mit Milch, schließt Edmund Voll seine Klage, wolle             sich sowieso niemand beschäftigen. Ein schreckliches Abschlachten kollektiven Viehbestandes greife um sich. Privat nehme die Zahl zu, aber angesichts nicht vorhandener Möglichkeiten der Weiterverarbeitung in kleineren Orten, der unterentwickelten Transportwege usw., auf Grund derer viele Orte nur mit dem Flugzeug oder Hubschrauber erreichbar seien, hätten die Privaten kaum eine Chance.

Athmo 6: O-Ton Traktoren-Fabrik in Tscheboksary. (1,51)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, dann unterlegen.

Erzähler: Wieder an der Wolga. Traktorenwerk in             Tscheboksary. Spezialität: Schwere Geländemaschinen. 25.000 Beschäftigte. Monopolist. Der Lärm täuscht. Nur wenige Arbeitsplätze sind besetzt. „Keine Rohstoffe!“ erklärt Gonzajew. „Das Werk wird nur mit Notbesetzung gefahren. Die anderen ruhen sich aus.“ Unterproduktion. Eine Schande, natürlich. Man könne mehr leisten.
Viktor Gonzajew, Verantwortlicher für Außen- und Auslandskontakte des Werkes, führt mich herum. Lange Reihen fertiger Maschinen stehen unabgedeckt im Gelände. „Einsatzbereit“, erklärt mein Führer. Es fehle nur ein letztes Detail. Eine Zulieferfirma könne nicht liefern. Rohstoffmangel. „Millionen stehen da“, bemerkt Viktor Gonzajew trocken. Wie viel genau, weiß er nicht. „Das ist nicht meine Verantwortung.“ „Das Alte wird runtergerissen, Neues nicht aufgebaut“, sagt er.

Regie: O-Ton hochziehen, dann ausblenden

take 14: O-Ton Traktoren-Fabrik. (0,32)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Erzähler:     Im Konferenzraum. Gonzajew beschönigt nicht:

Übersetzer: „Die Situation der Fabrik ist heute schwierig.             Aufgrund des Zerfalls der Verbindungen, die es früher gegeben hat, ist alles komplizierter geworden: Lieferungen. Zusatzbauteile. Material. Metall. Die Schwierigkeit Verbindungen herzustellen. Das bringt die Fabrik heute in eine Grenzsituation. Sie haben die Lager ja gesehen. Massenweise stehen unrealisierte Werte auf dem Gelände. “

Erzähler: Siebzig Prozent der Belegschaft seien in den             „administrativen Urlaub“ geschickt worden, berichtet Gonzajew weiter. Sie bekämen eine Kompensation in Höhe eines Minimallohns. Das liege unterhalb des Existenzminimums. Wenn es so weiter gehe, sei der Bankrott absehbar. Streiks habe es schon gegeben, aber die Belegschaft begreife, dass die Werksleitung nichts machen könne. Selbst die Republik sei überfordert. Was für das Traktorenwerk gelte, gelte auch für die anderen Großunternehmen Tscheboksarys, das Stahlwerk mit 30.000 z.B. und andere. Aus Moskau wären Subventionen notwendig. Gonzajews Hoffnungen liegen auf der politischen Vereinigung der Direktoren, der Bürgerunion, die im obersten Sowjet und in der Regierung für eine Politik sorgen sollen. die die Betriebe wieder flott macht und den sozialen Frieden erhält.

take 15: O-Ton Traktoren-Fabrik, Fortsetzung. (0,20)

Regie:  O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzer:   „Gerade heute soll ein Treffen zwischen den             Regierenden der tschuwaschischen Republik und dem Präsidenten stattfinden. Eins der Probleme dieses Treffens ist nun gerade die Traktorenfabrik. Von ihr hängen große Teile der Stadt ab. Wenn sie profitabel arbeitet, erhalten alle etwas, die Stadt und die Republik.“

Erzähler: Prof. Alfred Xwalikow, Archäologe und             Ethnologe in Kasan, bringt die Probleme der Neuordnung der russischen Föderation auf den Punkt:

take 16: Alfred Xwalikow, Straßengeräusche (1,25)
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzer:  „Russland wird eine Wolga-Ural Republik, niemals             zulassen. Eine Abspaltung des Gebietes als eigene Föderation von Russland wird es nicht geben. Das ist klar. Es ist einfach alles zu sehr vermischt. Auch in Sibirien bemüht sich ja Republik zu werden. Auch das ist sehr schwierig, die ethnischen Vermischungen, die ökonomischen… Ich sehe das alles nicht. Alles, womit ich mich befasse, spricht davon, dass nicht eins der Völker im Wolga-Ural-Gebiet, und zwar weder die Bulgar-Tataren, noch die hier lebenden Russen, jemals einen eigenen Staat besessen haben. Niemals. Das sind gute, interessante Völker, jedes auf seine Weise entwickelt, aber sie haben sich immer unter irgendeiner fremden Ordnung bewegt.“

Erzähler: „Sie hatten ihre Sitten, ihre Dörfer, ihr eigenes             Leben“, erläutert er. Der Staat sei für sie immer das andere, das Fremde gewesen, dem man Tribut zahlte und das einen dafür beschützte. Eigene Strukturen dagegen habe man nicht entwickelt.

take 17: Alfred Xwalikow, Forts. (0,50)

Regie: O-Ton verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzer:     „Was für eine Konföderation könnte das schon             sein? Nehmen Sie die Schweizer. Das ist eine absolut andere. Das ist in erster Linie eine ökonomische Konföderation: Wirtschaftliche, konkrete Infrastruktur! Darin werden die nationalen Besonderheiten bewahrt, Autonomie usw., eine nationale Föderation, aber auf der Grundlage einer ökonomischen Konföderation. Bei uns dagegen will man die Konföderation jetzt, ich möchte sagen, auf bloßer politischer Ebene errichten. Auf politische Ebene hat es solche Konföderationen bei uns aber bereits zu Hauf gegeben – gerade in der `großen Sowjetunion‘, die ja jetzt buchstäblich in ihre Teile zerfällt.“

Erzähler:  Nein, er sei nicht skeptisch, nur Realist,             Wissenschaftler. Natürlich könne er sich mit anderen Ansichten befreunden. „Mir ist eine schlechte Freundschaft immer noch lieber als ein guter Krieg“, lacht er. Aber am Ende zähle doch das Material.

Athmo 23: Bahnhofsplatz in Nowosibirsk. (1,20)

Regie: O-Ton langsam kommen lassen, kurz stehen lassen, unterlegen.

Erzähler      Der Moloch des sowjetischen Superstaates ist             geköpft. Aber statt sich in eine Föderation gleichberechtigter Staaten zu verwandeln, droht der weitere Zerfall, Chaos. Die Mehrheit der Menschen fürchtet für ihre Zukunft. Es ist die Stunde der Demagogen. Auf dem Bahnhofsplatz in Nowosibirsk agitiert die „Nationale Rettungsfront“. Der „Jude“ Jelzin wird beschimpft, der das Land an die Mafia und an das Ausland verkaufe. Im Namen der Sicherung von Brot, Wurst, sozialer Versorgung, Ordnung und Sicherheit wird landesweit zur Widerherstellung des Imperiums aufgerufen. Führer der „nationalen Rettungsfront“, in der sich neo-sowjetische Kräfte wie Nina Andrejewa und zaristisch-patriotische wie Alexander Prochanow miteinander für die Verteidigung des Vaterlandes verbinden, bekennen sich darüber hinaus offen als nationale Sozialisten, sogar Faschisten.

take 18: Alexander Prochanow. (1,10)

Regie: Verblenden, kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzer:    Ich bin traditioneller russischer Imperialist.
Das ideale Russland, das ist für mich ein
euroasiatischer Staat, der aus der Regulierung der
Völkervielfalt hervorgeht, — das zentrale Volk
jedoch, das regulierende Volk, das sind die
Russen. Sie sind die Mehrheit, sie sind
kommunikativer und sie leben überall. Die heutige
russische Föderation ist ein totes Stück Holz,
sinnlos, Nonsens. Es kann kein Russland geben, wo
dreißig Millionen Russen jenseits der Grenzen
ihrer Heimat leben.
Die Ideologie, die die auseinanderfallende
russische Gesellschaft vereinen kann, enthält zwei
Komponenten. Das ist die Komponente der sozialen
Gerechtigkeit – das ist die sozialistische
Komponente – und die nationale Gerechtigkeit, also
die nationale Komponente. Das ist also eine
zukünftige nationalsozialistische Ideologie oder
sozialnationalistische, wie beliebt. Im Kern wird
das möglicherweise Faschismus – ohne rassistische
Aspekte, natürlich. Innerhalb dieser Ideologie
kann es verschiedene Formen der politischen Kultur
geben.“

Athmo 8: Moskauer Metro. (0,57)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegen, verblenden.

Erzähler:  Wieder in Moskau. Wieder im Gespräch mit Andranik             Migranjan. Er sieht sich in seinen Prognosen von 1990 bestätigt. Nur geht es jetzt nicht mehr um Gorbatschows, sondern um Jelzins Krise. Genau könne niemand die Situation definieren. Klar sei nur:

take19: Andranik Migranjan. (1,37)

Regie: O-Ton kurz stehen lassen, unterlegen, am Ende des Textes hochziehen.

Übersetzer:   „Wir befinden uns Zeit in einem Prozess der             Bildung von Nationalstaaten. Das machen wir mit großer Verspätung im Vergleich zu den europäischen Nationen. Zum erstenmal sind wir Zeuge einer sehr interessanten Situation. Die Russen zusammen mit all den anderen, Tartaren, Baschkiren und so weiter sind ebenfalls in diesen Prozess verwickelt. Ursprünglich, vor der Sowjetunion, hielten diese Völker sich selbst für Russen, für Mitglieder des russischen Imperiums. Jetzt kommen sie in einen Prozess der Neubewertung, was das ist: Russland, der russische Staat und wo die Grenzen dieses Staates liegen. Im Moment gehen wir durch diesen schmerzhaften Prozess. Das ist ein Ergebnis der Tatsache, dass keine dieser Grenzen auf normale Weise, auf der Basis von Vereinbarungen gezogen wurde. Die Grenzen sind willkürlich. Das ist der Grund, warum wir in einen Konflikt jeder gegen jeden kommen. Es ist so wie Hobbes es nannte: Der Krieg aller gegen alle.“

Erzähler:     Die innenpolitischen Erwartungen Migranjans haben             sich gegenüber 1990 noch weiter verdüstert.

take 20: Migranjan, Forts.  (0,41)

Regie: Verblenden, kurz stehen lasse, unterlegen, am Ende hochziehen.

Übersetzung:  „In der sozialen Sphäre wird es ihnen nicht             gelingen, die Situation durch weitere demokratische Mittel zu stabilisieren. Als Ergebnis kann ich die Entstehung dieser Art nationalsozialistischen Regimes nicht ausschließen, dass den Prozess der vollkommenen Privatisierung stoppt und eine Art korporatives Staatsmodell des politischen und ökonomischen Lebens entwickelt.“

Erzähler:     Angesichts dieser Situation sind Zugeständnisse an             die Regionalkräfte für Boris Jelzin mit Sicherheit der einzig mögliche Weg. Ob sein Versuch, durch mehr Rechte an die nationale Opposition die soziale im obersten Sowjet auszuschalten, zu mehr Demokratie führen wird, darf bezweifelt werden. Im besten Falle führt die Entwicklung zur weiteren Schwächung Moskaus und damit zu größerer Manövrierfähigkeit der Regionalmächte. Zu befürchten ist, dass mit der Annahme einer Verfassung, die den Präsidenten gegen die Volksvertretung stärkt, nur der Weg für eine schärfere Konfrontation zwischen dem Zentrum und den Regionalmächten freigemacht wird.
*

Von Kai Ehlers erschienen:
– „Gorbatschow ist kein Programm – Gespräche mit Kritikern der Perestroika“, Konkret Literatur Verlag, Hamburg, 1990, 26,00 DM.

– „Sowjetunion: Gewaltsam zur Demokratie? – Im Labyrinth der nationalen Wiedergeburt zwischen Asien und Europa.“, Verlag am Galgenberg, Hamburg, 1991, 19,80 DM.

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