Europa – Modell oder Festung? Gedanken zur Organisation von Vielfalt

Europa ist ins Gerede gekommen. Vom alten Europa wird
gesprochen, vom neuen, von europäischer Schwäche, von
notwendiger europäischer Stärke. Der Euro ist dabei, den
Dollar zu überholen, aber die europäischen
Kernwirtschaften sind in der Krise. Was ist los mit Europa?
Ist Europa das Modell für die Gesellschaft von morgen oder
ist es ein Überbleibsel von gestern, das sich gegen den
Fortschritt der Globalisierung abschottet?
Europäische Intellektuelle streiten: Der französische
Philosoph André Glucksmann nannte Europa einen Vogel
Strauß, der seinen Kopf vor der Realität in den Sand stecke.
Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger
kleidete seine Kritik an einem, wie er meint,
handlungsunfähigen Europa in das Bekenntnis, der Fall
Saddam Husseins habe ein Gefühl des Triumphes bei ihm
ausgelöst. Professor Jürgen Habermas erklärte, zugleich mit
dem Sieg über den IRAK hätten die USA ihre moralische
Autorität eingebüsst.
In der Welt der ehemaligen europäischen Kolonien sind die
Sympathien klar verteilt: Europa ist der Traum, die USA
sind die Wirklichkeit. „Europa“, sagte kürzlich der
Vorsitzende einer städtischen afghanischen Gemeinschaft
zu mir – einer von denen, die nach dem Rückzug der
Sowjets aus Afghanistan ins Exil gingen und heute von
Europa aus um den demokratischen Aufbau Afghanistans
bangen: „Europa, das war für uns in Afghanistan, seit ich
denken kann, immer der zivile Weg der Entwicklung: Das
war Wohlstand, Frieden und Toleranz, Pluralität. Die USA
stehen bei uns für das Gegenteil: Sie stehen für Gewalt, für
Zerstörung von Tradition und gewachsener Identität. Das
Problem mit Europa ist, dass es dabei zuschaut.“ Solche
Töne hört man nicht nur aus afghanischem Munde: „Ihr
wachst zusammen, wir dagegen zerfallen,“ so schallte es
dem europäischen Reisenden zu Hochzeiten der Perestroika
auch aus dem Kernland der Transformation, aus Russland
entgegen. Und auch in Russland wird klar zwischen Europa
und den USA unterschieden.
Ethnische Entmischung, kulturelle Differenzen,
wirtschaftliche Ungleichheiten sind in der globalen
Umbruchsituation, welche auf die Öffnung der bi-polaren
Welt zur Globalisierung folgte, heute weltweit das Problem
Nummer eins. Europa verkörpert die Vision einer Ordnung,
die über das gegenwärtige Chaos hinausweist – und zwar
nicht trotz, sondern wegen seiner Schwäche. Während der
Invasion in den IRAK wurde Europa gerade wegen seiner
mangelnden Kriegsbereitschaft für viele zur Hoffnung auf
einen zivilen Weg aus der Krise.
Ist Europa heute also der Träger des allgemeinen
demokratischen Impulses, während die USA das koloniale
Erbe des alten Europa in einem neuen Empire
globalisieren? Ist Europa der Phönix, der aus der Asche der
europäischen Kolonialordnung als Guru einer neuen
pluralistischen und kooperativen, kurz: demokratischen
Völkergemeinschaft wiedergeboren wird?
Regie: Musik
Zunächst muss man wohl wissen, was Europa nicht ist:
Europa ist keine feststehende Größe, Europa ist ein
Prozess: Europa – das war ein mühsamer, immer wieder
von Kriegen und Katastrophen zurückgeworfener Aufstieg
vom Spätentwickler der Menschheitsgeschichte zur
imperialen Vormacht der Welt, Europa – das ist der Fall
von dieser Höhe in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts –
die Weltkriege, der Faschismus, der Stalinismus – und
danach der mühsame Wiederaufstieg zum zivilen Partner
der Völkergemeinschaft in einer nachkolonialen Welt.
Europa ist die Kraft der Geschichte, welche die Welt
am nachhaltigsten umgestaltet hat, obwohl seine
natürlichen Wiegengaben dafür anfangs eher ungeeignet
waren: Die zerrissene Insellandschaft zwischen
Mittelmeer, Atlantik und den Nordmeeren war noch eine
Eis- und Sturmwüste, als andere Teile der Erde bereits erste
Kulturen hervorbrachten. Europas Geschichte beginnt erst,
als das Eis zurückweicht und Menschen aus wärmeren
Gegenden der Erde in die sich erwärmenden Gebiete
einwandern. Durch den Golfstrom wurde der europäische
Raum dann allerdings zum klimatischen Paradies. Mit
anderen Worten: Europa ist nicht erst heute zum
Einwanderungsland geworden, die Einwanderung ist der
Ursprung seiner Geschichte.
Die Impulse für Europas Entwicklung liegen
sämtlich außerhalb des heutigen europäischen
Kerngebietes: Aus dem Süden floss der mesopotamische
und ägyptische Kulturstrom; aus Zentralasien kamen die
Ionier, die Dorer, die Thraker und andere halbnomadische
Stämme geritten. In Kleinasien, Sparta, Athen,
Griechenland brachten sie ihre Kultur zur Blüte, als im
heutigen Europa noch die Bären brüllten Unter Alexander
I. drangen sie bis in den persischen Raum vor; die Barbaren
des Nordens interessierten sie nicht. Die Römer machten
das Mittelmeer zum Binnenraum ihres Imperiums, das sich
ebenfalls bis nach Asien erstreckte; die Völker des Nordens
grenzten auch sie als Wilde aus der römischen Welt aus.
Erst die Teilung in ein ost- und ein weströmisches Reich
gegen Ende des vierten Jahrhunderts westlicher
Zeitrechnung schuf die Voraussetzungen für den Beginn
einer zivilisatorischen Entwicklung des heutigen
europäischen Raums. Richtig los ging es sogar erst mit der
noch viel später erfolgten Teilung der christlich-römischen
Welt in die byzantinisch-orthodoxe und die lateinischfränkische
Entwicklungslinie. Zu dem Zeitpunkt zählte man
aber bereits das 8., 9. und 1o. Jahrhundert nach Christi
Geburt: Hochkulturen in anderen Teilen der Erde – die
mesopotamischen, die asiatischen, die amerikanischindianischen
– hatten schon mehrere Zyklen hinter sich; die
arabisch-islamische Kultur schaute von großer Kultur-Höhe
auf die unbehauenen Barbaren im europäischen Norden
herunter. Erst in den Kreuzzügen, mit denen es die
muslimische Expansion zurückdrängte, entwickelte Europa
den Ansatz einer eigenen Identität. Die Kreuzzüge waren
die eigentlichen Geburtswehen Europas.
Aber dem Sturm der Mongolen entkam dasselbe
Europa ein paar Generationen später dann nur durch einen
historischen Zufall: Der mongolische Großkhan starb just
zu der Zeit, als die vereinigten Ritterheere des westlichen
Europa in der Schlacht bei Liegnitz 1251 von den
mongolischen Angreifern vernichtend geschlagen waren.
Die europäischen Fürstentümer bis hinein nach Gibraltar
lagen offen vor dem mongolischen Heer. Nur durch die
Tatsache, daß die feindlichen Heerführer ins ferne
Karakorum zurückehren mussten, um bei der Wahl des
neuen Khan anwesend zu sein, verdanken die Europäer,
daß sie von mongolischer Fremdherrschaft verschont
blieben.
Im Treibhaus dieser Enklave am westlichen Rande
des mongolischen Großreiches entstand Europa, in einer
fränkischen und in einer Moskauer Variante, einer
westlichen und einer östlichen also. Verbindendes Element
war das Christentum, wenn auch in die byzantinischorthodoxe
und die lateinische Linie gespalten. Dazu kam
die gemeinsame Feindschaft gegen Asiaten und den Islam.
Versuche, das in dieser Weise halb vereinte halb geteilte
Europa zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden und
als Weltreich zu etablieren, blieben jedoch immer wieder
erfolglos, wenn nicht gar in Katastrophen endeten: Die
Bemühungen Karl V., ein einheitliches christliches Reich
zu schaffen, in dem die Sonne nie untergehen sollte,
scheiterten an der Reformation. Der darauf folgende
30jährige Krieg, verwüstete Europa nicht nur, sondern
zerstückelte es. Die napoleonischen Träume führten in die
mörderischen Kriege der europäischen Nationalstaaten. Mit
Hitler kamen die Versuche, Europa gewaltsam zu einen,
endgültig zum Abschluss: Der nationalsozialistische Traum
von Groß-Europa, das die Welt beherrschen sollte,
hinterließ nicht nur Deutschland, sondern weite Teile
Europas in Ruinen, entledigte es seiner Kolonien und
vertiefte seine historischen Ost-West-Bruchlinien zur
Spaltung in zwei getrennte Welten. Das brachte den
Kontinent an den Rand seiner Existenz, während der
Kampf um die Weltherrschaft an die beiden rivalisierenden
neuen Weltmächte USA und UdSSR überging.
Regie: Musik
Ungeachtet ihrer Zerrissenheit, vielleicht sogar gerade
deswegen entwickelte sich aus der Enklave Europas jedoch
eine Expansionsdynamik, die ihresgleichen in der
Geschichte der Menschheit bis dahin nicht hatte: Die
Chinesen, obwohl hochentwickelt, begnügten sich mit der
Sicherung des chinesischen Beckens; zu ihren Hochzeiten
hatten sie eine Flotte, sogar Ansätze einer Industrie, aber
sie schufen damit kein überseeisches Imperium. Die
Pharaonen begrenzten ihre Herrschaft auf ihre Verewigung
in den Pyramiden. Die Griechen kamen über die Polis und
deren philosophische Begründung letztlich nicht hinaus;
Alexander I. war bereits ein Usurpator ihrer Geschichte.
Die Römer beließen es bei der Ausgrenzung der von ihnen
unterworfenen Kulturen aus dem mediterranen Kern des
Imperiums, bis sie von ihnen überrannt wurden. Selbst die
überaus mobilen Mongolen erschöpften sich nach wenigen
Generationen in der Verwaltung des Eroberten. Darüber
hinaus gab es bei ihnen keine verbindende Ideologie. Nur
der Islam entwickelte zeitweilig eine annähernd
vergleichbare Dynamik wie Europa, bis er sich durch
Traditionalismus und Fatalismus ausbremste. In der
europäischen Entwicklung dagegen verband sich die
Vielfalt und die Enge des europäischen Kontinentes mit
dem missionarischen Impuls des Christentums zu einer
durchschlagenden und ungebremsten Herrschafts-Ideologie
– europäische Missionare trieb es an alle Höfe, in alle
Hütten, Zelte und Krale der Welt in dem Bemühen, auch
noch die letzte Seele für Gott zu gewinnen; Politiker und
Kaufleute aus Europa sorgten dafür, daß die notwendigen
Mittel dafür aus den Weiten des Globus herangeholt
wurden – im Westen Europas per Schiff über die Ozeane,
im Osten zu Pferde quer durch die Weiten der asiatischen
Steppen.
Bei allen Differenzen gleichen sich die zwei Seiten
des christlichen Abendlandes letztlich in einem: In dem
Willen zur Missionierung und kolonialen Unterwerfung der
Welt. Gerade weil er nicht aus einem einheitlichen
Kommando kam, sondern aus einem vielgliedrigen,
differenzierten und widersprüchlichen Prozess hervorging,
verwirklichte er sich umso nachhaltiger und totaler;
fünfhundert Jahre benötigte Europa für den ersten Schritt:
Das reichte von Karl I. bis Christopher Columbus im
Westen Europas, also vom Beginn des 9. Jahrhunderts bis
zum Jahre 1492, das reichte von der Kiewer Rus bis zum
Sieg Iwan III. über die Tataren, also von 882 bis 1480, im
europäischen Osten. Aber nach der Entdeckung Amerikas
durch Columbus und nach Iwans III. Sieg über die
Tataren-Mongolen expandierte der europäische
Kolonialismus geradezu explosionsartig, im Westen in
seiner maritimen, im Osten in seiner territorialen Variante.
Am Ende des 19. Jahrhunderts bedeutet Europa deshalb vor
allem eines: Herrschaft! Im Falle der Russen war es die
Selbstherrschaft innerhalb eines Imperiums, im Falle der
westlichen Europäer die Fremdherrschaft über Gebiete in
Übersee; das Verbindende aber war die Unterwerfung von
Kolonien.
Europa, das war bis hinauf zum 1.Weltkrieg der
Export des christlich-abendländischen Willens zur
Veränderung und zur Beherrschung der Welt. Materiell
bedeutete das: Ausbeutung der weltweiten Ressourcen
durch die Europäer; ideologisch bedeutete es:
Christianisierung oder Unterdrückung traditioneller
einheimischer Kulturen bis hin zu deren gezielter
Vernichtung. Es war eine rücksichtslose Expansion, die mit
brutaler Gewalt durchgesetzt wurde. Produkt dieser
Herrschaft war der weltweite Export der Industrialisierung
und der damit verbundenen Lebensweise.
Nichts schien diese Expansion aufhalten zu können.
Dann aber, im Übergang vom 19. auf das 20. Jahrhundert
wurde die Welt zu eng für Europas weitere Expansion: In
Afghanistan prallten die Landmacht Russland und die
Seemacht England aufeinander, in Nordafrika standen sich
Briten und Franzosen gegenüber. Als die Deutschen,
gestärkt durch die Reichseinigung von 1871, sich
anschickten, den Briten mit dem Bau einer eigenen
Hochseeflotte die Seehoheit streitig zu machen, war der 1.
Weltkrieg praktisch eröffnet. Es bedurfte nur noch des
Anlasses. Der Krieg wurde zur Festigung der entstandenen
kolonialen Ordnung geführt – was er brachte, war der erste
Schritt zur Emanzipation der Kolonien. Der 2. Weltkrieg
vollendete diesen Niedergang der europäischen
Kolonialmächte bis zur Unabhängigkeit der meisten
Kolonien und der Spaltung Europas. Mit Spaltung war
Europa allerdings nicht einfach geografisch geteilt, wie es
sich in Stammtisch-Erinnerungen darstellt, also
kommunistisch im Osten und kapitalistisch im Westen; es
teilte sich vielmehr in einen staatskapitalistischen Osten
und einen Westen, der sich auf soziale Marktwirtschaft
orientierte. Die eine Seite Europas war als deren Gegenbild
in der anderen enthalten; aber die beiden Seiten waren nicht
miteinander vermittelbar, weil jede Seite Vorposten ihres
jeweiligen Lagers war. In der Berliner Mauer fand diese
Konfrontation ihren schärfsten Ausdruck. Doch die Teilung
war nicht nur ein deutscher, sie war ein europäischer
Niedergang. Nach 1945 wurde Europa faktisch zum Vorhof
der Supermächte USA und UdSSR, Osteuropa und die
DDR wurden Satelliten der UDSSR, West-Deutschland und
Westeuropa wurden zu Juniorpartnern der USA. Aus
Herrenvölkern waren vom Kriege ermüdete mittlere
Mächte geworden.
Regie: Musik
Gerade in Europas Niedergang liegt aber auch der Keim
seiner Wiedergeburt als Hoffnungsträger für eine zivile
Weltordnung: Der Schock der beiden Weltkriege
manifestierte sich am radikalsten in der deutschen Formel:
Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz und in der
Entwicklung West-Deutschlands zum demokratischen
Vorzeigestaat der kapitalistischen Welt und
Ostdeutschlands zum Aushängeschild des demokratischen
Sozialismus. Dass die DDR noch weniger sozialistisch als
die BRD musterhaft demokratisch war, ändert nichts an der
Tatsache, daß beide Teile Deutschlands die Vorzeigestücke
des jeweiligen Systems waren. Mit der Vereinigung beider
Hälften 1989 kamen sie zu einem neuen Ganzen
zusammen, dessen Charakter, auch wenn die Vereinigung
unter der Dominanz des westlichen Teils stattfand, bis
heute noch nicht wirklich klar ist.
Die Wiedervereinigung Deutschlands war auch eine
Wiedervereinigung Europas. Sie beschloss den
schrittweisen Aufstieg West-Europas aus dem
Nachkriegschaos zu demokratischer Pluralität. Nie wieder
Hegemonie einer europäischen Macht war das treibende
Motiv dieses Integrationsprozesses, der 1949 mit der
Gründung des Europarates begann, 1957 in die Gründung
der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft überging und
zur Europäischen Union führte. Als Michael Gorbatschow
mit der Öffnung der Mauer 1989 der Integration
Westeuropas die Demokratisierung Osteuropas hinzufügte,
wurde Deutschland zum Verbindungsflur des neu
entstehenden gesamt-europäischen Hauses. Mit der
Osterweiterung der Europäischen Union sind inzwischen
weitere neue Mieter in dieses Haus eingezogen.
Ob dieses Haus sich allerdings bis nach Wladiwostok
erstreckt, wie manche meinen, darf bezweifelt werden.
Zwar ist Russland bis zum Ural zweifellos Teil der
europäischen Geschichte und dies begründet eine
besondere Beziehung Moskaus zur Europäischen Union,
aber Moskaus sibirische und zentralasiatische Territorien
gehören heute ebenso wenig zur Europäischen Union wie
die ehemaligen und verbliebenen Rest-Kolonien des
westlichen Europa. Die Zeiten, in denen sich Europa als
Herz einer weltweiten Kolonialordnung definierte, sind
endgültig vorbei.
Regie: Musik
Der Einfluss Europas auf die Welt ist heute nicht mehr
durch koloniale Bindungen vermittelt, sondern durch seine
wirtschaftlichen Beziehungen. Darüber hinaus liegt
Europas Anziehungskraft heute in seiner nach-kolonialen
Botschaft. Die Hausordnung in Europas Neubau, die oft
zitierte europäische Wertegemeinschaft, die aus den
Trümmern des alten imperialen Europa hervorgegangen ist,
enthält diesen Anspruch: Danach ist Europa die
Überwindung des Nachkriegs-Chaos durch wirtschaftliche
und zivile Kooperation in Europa selbst und darüber
hinaus. Europa ist ein Beispiel für die Möglichkeit von
Integration in schweren Zeiten. Europa ist Vielfalt der
Kulturen und Toleranz. Europa ist eine Gesellschaft, die
dem Prinzip des Sozialstaates verpflichtet ist. Europa ist
Demokratie. Europa ist Mobilität. Europa ist
Regionalmacht im globalen Geflecht. Europa ist
Katalysator einer neuen pluralen Weltordnung. In Europa
steht Pluralismus nicht nur in der Hausordnung, er wird
auch philosophisch, sozial- und bildungspolitisch gefördert.
Europas Philosophen treten für eine Kultur der Vielfalt ein,
die Europäische Union fördert Programme zum Schutz von
Minderheiten aller Art, eine „Pädagogik der Vielfalt“ wird
an den Universitäten, Lehr- und Bildungsanstalten auch auf
alltäglichem Niveau offiziell gefördert. Mit dem Titel
„Herausforderung Vielfalt“ ist beispielsweise eine
Internationale Konferenz überschrieben, die vom
Ministerium für Justiz, Frauen, Jugend und Familie des
Landes Schleswig-Holstein unter Beteiligung kirchlicher
Träger im Sommer 2003 durchgeführt wurde. Da geht es
um „Fremdheit und Differenz,, um „Pluralisierung und ihre
Folgen“, um “Strategien gegen Diskriminierung“, um
Perspektiven für die Entwicklung einer „Kultur der
Anerkennung“, die nicht nur das Fremde dulden und
akzeptieren, sondern das Fremde, das Andere als
Bereicherung des Menschseins erleben soll.
In Europa finden die Gegenbewegungen zur
Globalisierung, die in den USA zur Zeit entstehen, ihren
fruchtbarsten Boden: Die neueste US-Botschaft dieser Art
schwappt derzeit unter dem Stichwort „managing diversity“
nach Europa hinüber. Sie ersetzt das Leitwort von der
„corporate identity“, das bisher im Management gegolten
hat. Bemerkenswert daran ist nicht, daß die USA als
Stichwortgeber für Europa fungieren, bemerkenswert ist,
dass das Stichwort der „managing diversity“ gerade jetzt
aus den USA kommt und gerade jetzt in Europa Fuß fasst,
da sich eine konservative US-Regierung anschickt, den
gesamten Planeten gewaltsam unifizieren zu wollen.
Selbstbestimmung in einer Welt des bewusst
gestalteten Pluralismus, der gegenseitigen Anerkennung
und Hilfe der Menschen und der Völker, das ist heute
Europas gute Botschaft. Sie geht als Impuls auch in die
Globalisierung ein: Multipersonal, multikulturell und im
politischen Raum schließlich auch multipolar – das sind die
Begriffe, auf die sich diese Botschaft bringen lässt. Sie
schaffen Identität in Zeiten der Globalisierung, denn sie
helfen dem einzelnen Menschen, gleich welchen
Geschlechtes oder Alters, welcher Hautfarbe oder welchen
Standes den Ort ihrer Selbstverwirklichung und damit ihrer
Würde als Menschen zu finden. Politisch gilt das auch für
die Völker. Diese Botschaft ist eine echte Alternative zu
den Versuchen der unipolaren militärischen
Disziplinierung, die zur Zeit von den USA ausgehen.
Regie-Musik
Aber Europa hat auch ein anderes Gesicht. „Dieser Trend
zur Pluralisierung verläuft nicht geräuschlos und schon gar
nicht konfliktfrei“, heißt es z.B. in den Kommentaren der
an Vielfalt engagierten schleswig-hosteinischen
Pädagogen: „Es geht immer um Eingriffe in die bisherige
Verteilung von Macht. Prozesse der
Fundamentaldemokratisierung stoßen auf das Bestreben,
Privilegien zu verteidigen und jene Machtmittel möglichst
unsichtbar zu machen, mit denen sie aufrechterhalten
werden. Sie werden auch intrapsychisch so versteckt, dass
Angehörige des gesellschaftlichen „Mainstreams“ ihre
Privilegien überhaupt nicht mehr wahrnehmen.“. i
Die Botschaft der Pluralität, heißt das, kann sich in
die Verteidigung der Pluralität gegen tatsächliche oder
vermeintliche Gefährdungen von außen verwandeln.
Auch dies ist keineswegs neu für Europa: Als
Einwanderungsland entstanden, haben die in Europa
Ansässigen sich doch immer gegen neue Einwanderer
gewehrt: Bereits Rom baute den Limes gegen die Völker
des Ostens, gegen die Zuwanderung aus den asiatischen
Steppen, gegen die Hunnen Attilas; den Norden Europas
befriedete Cäsar durch Unterwerfung, welcher bekanntlich
nur ein kleines gallisches Dorf an der Küste der Normandie
widerstand… Spätestens mit den Kreuzzügen gräbt sich das
Verständnis von Europa als Bollwerk gegen die
Ungläubigen tief in dass kollektive europäische
Unterbewusstsein ein – in Ost-Europa nicht viel anders als
im Westen: Danach waren die Muslime, die Sarazenen, die
Türken oder wie immer man sie nannte, gottlose
Ungeheuer, welche die Christenheit verschlingen wollten.
Vor ihnen galt es die Menschheit zu retten. Die Aufrufe
Papst Urban II. und späterer Päpste, zum Töten der
Ungläubigen auszuziehen und dafür das ewige Leben zu
ernten, lassen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig.
Das ganze frühe Mittelalter, einschließlich der
Heldensagen, ist von der Totschlag-Romantik der
Kreuzritter geprägt.
Auf den Grundsteinen des Kreuzrittertums wurde
wenige Generationen später die Festung gegen die
Mongolen ausgebaut. Tschingis Chan galt ihren
Verteidigern als Kinderfresser, in ihm verschmolzen alle
bisherigen Feinde zur asiatischen Gefahr, zur Bedrohung
durch das Andere schlechthin, zum Anti-Christ;. Die
Kirche erklärte Tschingis Khan zur Geißel Gottes, die Gott
zur Prüfung der Menschheit geschickt habe. Besondere
Verdienste bei der Verteidigung gegen diese Gefahr nahm
dabei Russland für sich in Anspruch, das sich die Rettung
des christlichen Abendlandes vor den Mongolen zu gute
schrieb, ohne sich daran zu stören, dass dies die
historischen Tatsachen zurechtbog, da Europa, wie gesagt,
seine „Rettung“ lediglich dem Wechsel der Khane in
Karakorum zu verdanken hat. Ungeachtet solcher
Feinheiten konnte Joseph Goebbels die Skizzen des von
ihm geschaffenen russischen Untermenschen später nach
dem mittelalterlichen Klisché von Hunnen und Mongolen
fertigen lassen, die sich, krummbeinig, hässlich, mit einem
Säbel zwischen den Zähnen in die Mähnen ihrer ebenso
hässlichen Ponys klammern, um so das Abendland zu
überfluten.
Im Schreckensruf „Die Türken vor Wien“ festigte
sich das abendländische Bedrohungs-Syndrom im 17.
Jahrhundert weiter. Mit der Niederlage der Türken im Jahre
1683 löste sich zwar der Druck auf West-Europa; für Ost-
Europa wurden die Türken und alle mit ihnen verwandten
und verbundenen Völker in den folgenden Kriegen
zwischen Russland und der Türkei jedoch nicht nur zum
wichtigsten Gegner, sondern auch zum inneren Feind.
Diese Spur zieht sich bis ins heutige Russland, wo die
„Tschornije“, die Schwarzen, das rassistische Hassobjekt
für den russisch-orthodoxen christlichen Chauvinismus
sind. Auch der gegenwärtige westeuropäische Rassismus ist
nicht frei von diesem Klisché.
Im eisernen Vorhang, der West-Europa von Ost-
Europa, noch mehr aber den Westen von Asien trennte,
fand die Mär vom abendländischen Bollwerk gegen die
asiatische Bedrohung seine neuzeitliche Aktualisierung: Im
Bild des sowjetischen Kommunismus, der hinter dem
eisernen Vorhang nur darauf lauert, das verbliebene
christliche Abendland zu verschlucken, verwoben sich die
alten Klischés von Attila bis zu den Türken zum
kollektiven Wahnbild einer kommunistischen Bedrohung
aus dem Osten, für das der US-Präsident Ronald Reagan
noch kurz vor Gorbatschows Perestroika-Kurs schließlich
die schöne Bezeichnung vom „Reich des Bösen“ erfand,
vor dem die USA die Welt beschützen müssten.
Heute ist auch das Böse globalisiert. An die Stelle
des eisernen Vorhangs ist die weltweite Front gegen den
internationalen Terrorismus getreten. Das „Reich des
Bösen“ ist zur asymmetrischen „Achse des Bösen“
geworden. Aber ob asymmetrisch oder nicht, in dem Aufruf
gegen die „Achse des Bösen“ treten auch die traditionellen
europäischen Bedrohungs-Syndrome in neuer Gestalt
wieder hervor, aufgebaut von Ideologen, die den globalen
Kampf der Kulturen als Menetekel an die Wand malen und
durch einen US-Präsidenten, der zum Kreuzzug gegen das
Böse aufruft.
In diesem Kampf wird alles ausgegrenzt und
tabuisiert, wodurch sich die christlich-abendländische
Wertegemeinschaft bedroht fühlt; das ist, klar gesprochen,
alles, was nicht weißhäutig, nicht christlich und nicht
hochindustrialisiert ist. Ausnahmen machen die nichtweißen
US-Amerikaner und Amerikanerinnen, aber auch
nur, solange sie offizielle Repräsentanten der Supermacht
Nr. Eins sind. Ausnahmen machen auch die Menschen und
Völker, die man als Bündnispartner braucht, aber nur,
solange sie sich gebrauchen lassen. Das erinnert stark an
die Praktiken früherer Imperatoren, etwa jene der Römer,
welche Germanen, Hunnen und andere so lange hofierten,
wie sie als Grenztruppen andere Völker vor den Grenzen
aufhielten.
Im Namen von Vielfalt, Liberalität und
Selbstbestimmung, heißt das, beginnen sich Europäer
heute gegen eben diese Vielfalt, Liberalität und
Selbstbestimmung zu wenden. Ausdruck davon sind
politische Strömungen wie die Partei des ermordeten
Niederländers Pym Fortyn, die mit liberaler Argumentation
eine im Kern rassistische Ausgrenzungspolitik vertreten:
Wohlfahrt, Vielfalt und Selbstbestimmung ja, lauten ihre
Parolen, aber nur für Bürger Europas, nicht für Ausländer –
die sollen bleiben, wo sie geboren sind. Ausdruck dieser
Wende sind auch Positionen wie die des englischen
Premiers Tony Blair, der eher bereit ist, die demokratische
Grundsubstanz des europäischen Pluralismus den
Zentralisierungsforderungen der USA unterzuordnen, als
ein „multipolares Chaos“ zu riskieren. Wo diejenigen
stehen, die wie der deutsche Bundeskanzler Gerhard
Schröder oder der franzöische Statspräsident Jaque Chirac
auf der Höhe der IRAK-Krise kurzfristig den Begriff
„multipolar“ benutzten, muss sich noch zeigen.
Unter solchen Voraussetzungen droht sich die schöne
europäische Hausordnung in ihr Gegenteil zu verkehren:
Aus Freiheit für Europa könnte sehr bald Abschottung
gegenüber dem Rest der Welt resultieren. Das Schengener
Abkommen von 1985 und seine Folgevereinbarungen
hinterlassen bereits eine beängstigende Spur: Aus der
Garantie auf Gewährung von Asyl für politisch Verfolgte,
rassisch oder aus anderen Gründen Diskriminierte wird ein
ausgeklügeltes System zur Vermeidung von Asyl durch
Vorverlagerung der Asylentscheidungen in die Grenzländer
der Europäischen Union oder gleich ganz in die
Herkunftsländer von Flüchtlingen. Probestrecke für dieses
Verfahren war der Krieg im Kosovo, als Bosnische
Flüchtlinge gleich vor Ort interniert wurden. Eine
Fortsetzung fand das neue Verfahren in Afghanistan und
kürzlich wieder im IRAK.
Unbemerkt von der Öffentlichkeit entstehen
hässliche Lager in den Randzonen der Europäische Union.
Die tschechische Republik zum Beispiel musste sich bereit
erklären, wenn sie betrittsfähig für die Europäische Union
werden wollte, ein Auffang- und Abschiebelager in
Balkowa zu bauen, in dem die Lebensbedingungen bewusst
auf Abschreckung angelegt sind. Beobachter humanitärer
Organisationen scheuen sich nicht von diesen Lagern als
KZs zu sprechen. Ähnliche Lager entstehen in anderen
Grenzbereichen der erweiterten Europäischen Union. Die
europäische Öffentlichkeit erfährt in der Regel nichts
davon. Die Maßnahmen werden auf europäischen
Innenminister-Konferenzen vereinheitlicht, die sich der
parlamentarischen Kontrolle entziehen. Die Medien
berichten kaum. Noch schwerer erkennbar sind die
virtuellen Lager in den nicht-europäischen
Herkunftsländern potentieller Flüchtlinge oder
Einwanderer. Diese Länder werden über wirtschaftlichen
Druck zur Kontingentierung ihrer Auswanderer veranlasst,
um nicht zu sagen gezwungen; in der Folge sind die
Grenzen nur für eine Minderheit mit Geld oder mit
Beziehungen offen. Freizügigkeit und Selbstbestimmung,
eines der höchsten Güter im Wertekatalog der
Europäischen Union, bleiben bei diesem Verfahren glatt
auf der Strecke. Eine solche Politik kann auch für die
innere Verfassung Europas auf Dauer nicht ohne
Auswirkungen bleiben. Die Konzentration europäischer
Innenpolitik auf die Abwehr von Einwanderern und die
Bekämpfung des internationalen Terrorismus droht auch
Europa in die Sackgasse eines präventiven
Sicherheitsstaates zu führen, in dem die Rechte der Bürger
das Papier nicht mehr wert sind, auf dem sie stehen.
Regie: Musik
Was also ist Europa? Ein Modell oder eine Festung?
Als Modell für eine plurale Ordnung könnte Europa zeigen,
wie der Verzicht auf militärische Stärke bewusst zum
Ausgangspunkt eines zivilen Integrationsprozesses werden
kann. Es könnte Impulsgeber für den Weg zur Festigung
der pluralen Völkerbeziehungen und kooperativer
Entwicklungsstrategien sein, die sich faktisch im letzten
Jahrhundert herausgebildet haben. Damit läge im Modell
Europa gegenüber der gegenwärtigen Politik der USA eine
echte Alternative, die unter dem Motto: `Europa für alle´
Grundlage zukünftiger Politik Europas und der
Völkergemeinschaft sein könnte. Sie enthielte auch den
richtigen Ansatz zur Lösung der globalen Problems der
Migration. Ein Ausbau Europas als Festung dagegen
provoziert die Gefahr, dass die Ansätze zu einer
multipolaren Ordnung, die real bereits herangewachsen
sind, sich gegen den Willen Europas und der auf dieser
Linie mit ihm verbündeten USA und hinter deren Rücken
durchsetzen, dann aber in scharfen Konflikten, welche die
privilegierte Position des Westens mit Gewalt schwächen.
Das würde auch auf Kosten der zivilen Werte gehen, für die
Europa heute im Gegensatz zu den USA noch steht. Die
Wahl, die wir zu treffen haben, ist also nicht allzu schwer,
wenn das Modell Europa nicht die Vergangenheit, sondern
die Zukunft beschreiben soll.
©
Kai Ehlers
Transformationsforscher und Publizist
www.kai-ehlers.de
i Prof. Dr. Uwe Sielert in „Pädagogik der Vuelfalt, S. 7

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*