Was kommt nach Putin? Kai Ehlers im Gespräch mit Boris Kagarlitzki

Russland geht auf die nächsten Präsidentenwahlen im Jahr 2018 zu. Es gibt eine Stimmung im Lande, die befürchtet, dass den Zeiten der relativen Stabilität nunmehr Zeiten sozialer Probleme folgen könnten, dass Putin die von ihm betriebene Politik des Krisenmanagers, des Lavierens im Konsens zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften nicht mehr in der gleichen Weise wie bisher halten könne, dass eine Zeit der Instabilität bevorstehe, die entweder Putin selbst oder einen Nachfolger zwingen könne, zu einer „wirklichen Diktatur“ überzugehen, um die von ihm auf dem Weg der „gelenkten Demokratie“ nach Ansicht seiner Kritiker in Korruption steckenbleibende Kapitalisierung  nunmehr mit Gewalt sauber durchzusetzen. Alexei Nawalny ist hier der Stichwortgeber.

Die provokanteste Position zu diesen Fragen vertritt Boris Kagarlitzki, Russlands prominentester Neulinker, Direktor des Institutes für Erforschung der Globalisierung und der Sozialen Bewegungen. Das Gespräch wurde unmittelbar vor der letzten großen Massendemonstration vom 12.Juni geführt.

Kai Ehlers: Meine Frage: was kommt nach der Stabilitätspolitik Putins??

Boris Kagarlitzki: Nach Stabilität kommt nicht-Stabilität. Wenn der Prozess weitergeht, wenn nicht überhaupt das ganze System zerfällt, dann werden wir 2018 Nawalny als Präsidenten haben.

Kai Ehlers: Nawalny Präsident?! Nicht doch! Du machst Witze!

Boris Kagarlitzki: Er ist der einzige Mensch, der heute in Russland wirklich an die Macht will. Sogar die Macht selbst kämpft nicht. Sie kann sich selbst nicht mehr schützen. Diese Menschen sind schon auf dem Weg nach draußen. Früher war der einzige Stimulus in die Politik zu gehen, dass man Geld klauen konnte. Vor fünf Jahren ging das noch. Das geht jetzt nicht mehr. Deshalb will auch keiner mehr in die Politik. Es ist äußerst schwierig Kandidaten für Gouverneursposten zu finden.

Kai Ehlers: Im Zentrum steht also die Frage der Korruption?

Boris Kagarlitzki: Nein, das sieht Nawalny so. Ich denke, die Korruption ist nur die Folge des Zerfalls. Aber der Zerfall ist so weit fortgeschritten, dass die Staatsmacht keine andere Motivation mehr anzubieten hat als die Bereicherung.

Kai Ehlers: Das ist kein gewöhnlicher Kapitalismus bei euch…

Boris Kagarlitzki: Das ist Kapitalismus in der Krise. Also, was muss Putin tun, nicht Putin, seine ganze Gruppe? Ihm ist ja tatsächlich eine Modernisierung des russischen Kapitalismus gelungen. Man ist vom oligarchischen zum korporativen Kapitalismus vorgedrungen, man hat vertikale Korporationen nach amerikanischem und europäischen Vorbild aufgebaut, hat eine Schicht von Managern geschaffen,  die dem Kapital dienen können, das heißt, man hat einen mehr oder weniger einen heutigen Kapitalismus, geschaffen, mehr oder weniger unter Kontrolle. Was wir  jetzt sehen, ist eine  schnelle Degradation des Landes, buchstäblich innerhalb eines Jahres, zurück vom korporativen zum oligarchischen Kapitalismus. Das heißt, wir sind in die Jelzinsche Zeit zurückgefallen. Putin ist ja im Massenbewusstsein die Alternative zu Jelzin, aber Putin wird Jelzin immer ähnlicher. Umgekehrt wird Nawalny immer ähnlicher wie Putin. Das heißt, Nawalny füllt die psychologische Nische aus, die im Massenbewusstsein früher Putin eingenommen hat, nämlich die eines Menschen, der für Ordnung sorgen will. Das ist vollkommen offensichtlich.

Kai Ehlers: Du sprichst im Ernst?

Boris Kagarlitzki: Natürlich. Nawalny ist der Mann, der die Diebe einlocht und einen normalen Kapitalismus installiert, einen normalen, tätigen, nicht korrumpierten, nicht räuberischen  Kapitalismus.  Das wird so natürlich nicht sein. Aber das ist das, was die Gesellschaft versteht. Und jetzt entwickelt sich dieser Prozess buchstäblich täglich. Schau dir das Rating von Putin an. Noch 2016 lag sein Rating bei 70 Prozent. Am Anfang dieses Jahres bei 55, jetzt nach Angaben von ZIOM, obwohl es von Staatsgeldern lebt und starke Furcht hat, staatliche Aufträge zu verlieren, bei 49 Prozent.

Kai Ehlers: Meine Information ist,  88 Prozent der Bevölkerung seien bereit Putin zu wählen.

Boris Kagarlitzki: Das hat überhaupt nichts zu bedeuten. ZIOM, wie gesagt, total auf Kremllinie, gibt 49 Prozent an, tendenziell, buchstäblich täglich fallend. Der Zerfall geht vor unseren Augen vor sich. Die vom Lewada-Zentrum lügen einfach. Ihre einzige Sorge ist, den Makel des ausländischen Agenten wieder loszuwerden. Etwas anderes interessiert sie nicht. Ich habe aktuelle Daten in Woronow  gesehen, die mir örtliche Beamte gezeigt haben. Da hat Putin 37 Prozent bekommen.

Kai Ehlers: Das ist ja ein vollkommen anderes Bild …

Boris Kagarlitzki: … in großen Städten hat die Macht vollkommen verspielt. Klar ist,  dass Putin trotzdem gewinnen wird.  Er kann sich auf eine Basis in den Dörfern und Regional-Zentren stützen. Dort wird man wie früher für ‚Einheitliches Russland‘ und für Putin stimmen. Aber da entsteht für sie ein Problem: Die Wahl 2018 müssen sie im ersten Anlauf gewinnen. Das Paradoxon besteht darin, dass Putin die Wahl gewinnen kann, aber er hat keine Chance, sie im ersten Anlauf zu gewinnen. Was heißt das?  Das heißt, dass  diese Chance durch Fälschungen herbeigeführt werden muss, denn wenn es einen zweiten Wahlgang  geben müsste, dann müsste Nawalny entweder an einer Teilnahme gehindert werden, was Proteste auslösen würde oder sogar zum Wahlboykott  führen würde. Wenn er zugelassen wird, dann könnte er die Bevölkerung der großen Städte hinter sich bringen. So oder so ist das für die herrschende Macht eine fatale Situation, selbst wenn Putin 98 Prozent der Stimmen bekommen sollte.

Kai Ehlers: Was wollen die jungen Leute, die mit Nawalny stimmen könnten?

Boris Kagarlitzki: Einen Machtwechsel.

Kai Ehlers: Einfach nur: Nieder mit Putin?

Boris Kagarlitzki: Es geht nicht um Putin. Putin regt schon niemanden mehr auf. Es geht um die Beamtenklicken. Putin ist nur eine odiose Figur geworden, weil er andere deckt. Putin selbst ist nicht wichtig. Der kann im Kreml bleiben. Die Menschen regen sich über andere auf: Medwedew, Sobtschanin, ihre Gouverneure..,

Kai Ehlers: Putin als  Zar über allen…?

Boris Kagarlitzki: Ja, sein Problem ist aber, dass er seine Umgebung schützt und so ggfls. mit ihnen fällt. Putin könnte als Flagge, als Symbol weiter bestehen, als Sonne am Himmel, das ist so, wie es ist, einfach eine Gegebenheit, die niemanden wirklich interessiert, wie der spanische König, wie Queen Elisabeth. Wenn sie sich nicht einmischen, ist alles o.k. Aber sobald er sich einmischt, dann teilt er das Schicksal derer, die nicht populär sind.

Kai Ehlers: Du hältst die Demonstration, die zur Zeit hier stattfinden, für eine echte Opposition?

Boris Kagarlitzki: Natürlich, Nawalny wird von einem Teil der regierenden Elite unterstützt, von einem sehr einflussreichen Teil der Elite. Klar. Anders könnte er das, was es tut, gar nicht schaffen. Aber das heißt nicht, dass das nicht echt ist. Schau dir an, was vor sich geht: 2011/2012 gab es Unruhen in Moskau, da hat niemand im Lande reagiert. 2005 gab es soziale Proteste überall außer in Moskau. Moskau hat nicht reagiert. 2011/2012 gab es Proteste in Moskau, in der Provinz reagierte niemand. Heute wächst da etwas zusammen. Nawalny initiiert einen politischen Prozess in ganz Russland, auf der anderen Seite gibt es in Moskau äußerst  starke Proteste gegen Sobtschanin, den Bürgermeister, denn der plündert nicht nur Moskau aus, sondern das ganze Land. Diese beiden Prozesse wirken aufeinander, obgleich der größte Teil der Leute, die gegen Sobtschanin demonstrieren, sich nicht für Nawalny interessieren.

Kai Ehlers: Mir wurde berichtet, dass sie Nawalny sogar von ihrer Demonstration ausgeschlossen  hätten.

Boris Kagarlitzki: Ja, klar. Gleich welche sozialen Bewegungen du ansiehst, sie sind alle nicht interessiert, mit Nawalny zusammenzuarbeiten. Aber bei der übermorgen und bei nächsten Demonstrationen werden natürlich eine ganze Menge Leute, die vorher für Teilziele demonstriert haben, auf die Straße gehen, nur einfach in einer anderen  Qualität, mit einem anderen Hut, verstehst du. Physisch die gleichen Leute.

Kai Ehlers: Aber politisch sind das verschiedene Bewegungen.

Boris Kagarlitzki: Klar, politisch sind das getrennte Bewegungen. Und mehr noch: Politisch tun wir alles dafür, dass sich diese Bewegungen nicht vereinigen.

Kai Ehlers: Na, bitte, also so ist das doch!

Boris Kagarlitzki: Selbstverständlich, weil wir wissen, dass Nawalny keine Lösung ist. Wir können es nicht gebrauchen, dass Teile der linken Kräfte durch die Zusammenarbeit mit Nawalny diskreditiert werden. Aber Nawalny wird sein Territorium sehr erfolgreich besetzen. Er ist ein normaler, sehr erfolgreicher politischer Demagoge. Er benutzt linke Rhetorik. Sein Programm ist nicht links, sondern rechts. Aber seine Rhetorik ist links. Das macht er sehr gut. Er ist eine Übergangsfigur, deren Demagogie von anderen aufgenommen werden kann. Eine Figur wie Trump. Aber es gibt zwei Varianten: Entweder, die Macht lässt diesen Prozess zu, oder sie wird ihn gewaltsam unterdrücken. Wenn sie ihn zulässt, ist Nawalny kaum zu stoppen, wenn sie ihn unterdrückt, haben man ein Problem, denn die Bevölkerung ist für gewaltsame Unterdrückung nicht bereit.

Kai Ehlers: Wenn die Proteste unterdrückt werden, wird das sehr schlecht werden…

Boris Kagarlitzki: Selbstverständlich. Aber sie denken natürlich anders. Sie glauben, sie können mit irgendwelchen politischen Kombinationen durchkommen. Das wird jedoch nichts. Dem Patienten ist schon nicht mehr zu helfen.

Kai Ehlers: Noch einmal: Ich bin sehr erstaunt über das, was Du mir erzählst…

Boris Kagarlitzki: Klar, aus Deutschland gesehen, ist Russland das Land der Sklaven, alle sitzen und beten Putin an, oder umgekehrt, Putin hat sie alle eingeschüchtert. In Wirklichkeit ist das alles nicht so. Verstehst Du, meine Tochter geht auf ein Institut, Was machen sie da? Da versammeln sich die Studenten. Wer geht zum Meeting? Alle heben die Hände, das ganze Institut. Wer kann, geht mit auf die Straße. Zum Meeting. Und so im ganzen Land. Wenn noch, sagen wir vor einem halben Jahr, die meisten Einwohner des Landes nicht wussten, was für einer Nawalny ist, nicht einmal seinen Namen kannten, nicht gehört hatten, dann wissen sie es jetzt. Und hinter ihm stehen, wie gesagt, mächtige Strukturen.

Kai Ehlers: Wer konkret steht hinter ihm?

Boris Kagarlitzki: Nun, ich denke, gewisse Kreise des FSB, also, des Geheimdienstes, woher hat er sonst seine Kenntnisse über verschiedene Korruptionäre… Oder glaubst Du, das sich in seinem ‚Fond zum Kampf gegen Korruption‘ alle diese Daten befinden?

Kai Ehlers: Nicht Chodorkowski?

Boris Kagarlitzki: Nein, sehr unwahrscheinlich, Nawalny und Chodorkowski, das sind sehr unterschiedliche Kräfte. Nein, das ist der FSB, natürlich, oder frühere Geheimdienstkräfte, die jetzt mit dem FSB kooperieren. Sieh doch hin: Seine Beobachtungsdrohnen fliegen einmal, zweimal, dreimal und niemand kann sie abschießen? Wie das? Da gibt es überall Sicherheitskräfte. Nawalny selbst hat erklärt, dass er in verbotene Zonen eingedrungen ist. Sie fliegen, wie es ihnen passt. Sie fotografieren geheime Objekte, stellen das ins Internet, niemand unternimmt etwas dagegen. Es ist offensichtlich, dass er gedeckt wird.

Kai Ehlers: Hat Nawalny ein Programm?

Boris Kagarlitzki: Das Programm ist sehr einfach: schlechte Oligarchen durch gute austauschen. Klar ist da noch vieles geschrieben, aber das ist der Kern. Wir werfen die schlechten hinaus, setzen unsere guten ein und werden Ordnung herstellen. Nawalnys Programm erinnert ein bisschen an Stalin, er kommt, sorgt für Ordnung, setzt die Leute fest, konfisziert, ansonsten bleibt alles beim alten. Das entspricht ganz der gegenwärtigen Stimmung der Bevölkerung. Niemand will eine radikale Umwälzung. Aber man will die Leute bestraft sehen, die man für schuldig hält.

Kai Ehlers: Aber wenn Putins Kommando gegenwärtig gegen die Korruption vorgeht – ist das nichts?

Boris Kagarlitzki: Richtig, wenn er konsequent vorginge wie Mao Tse Tung, wie Stalin, dann gäbe es keinen Nawalny. Aber das tut er nicht.

Kai Ehlers: Gut, Boris, innenpolitisch siehst Du Putins Stabilitätspolitik auf dem Prüfstand. Wie sieht es mit seiner Rolle als Krisenmanager in der Außenpolitik aus?

Boris Kagarlitzki: Putin ist ganz und gar kein Krisenmanager, er ist Manager guten Wetters. Er arbeitet bei gutem Wetter, bei schlechtem Wetter arbeitet er nicht.

Kai Ehlers:  Aber er ist der Mensch, der gegen die Vorherrschaft der USA auftritt…

Boris Kagarlitzki: Putin hat im Gegenteil tödliche Angst davor, das zu tun. Er hat alles versucht, die Krim nicht übernehmen zu müssen. Das Militär hat ihn gezwungen zu handeln. Zwei oder drei Tage gab es Skandal im Kreml, der Kreml wurde vom Militär bestürmt, eine Entscheidung zu treffen. Putin wollte keine Entscheidungen treffen…

Kai Ehlers: Aber wenn du auf Syrien schaust…

Boris Kagarlitzki: … Syrien ist ein Spielzeug, das ist PR, Public Relations, da fliegen unsere Flugzeuge, unsere Raketen, da kann man schöne Bilder im Fernsehen zeigen, das ist alles. Das ist sehr teuer, aber nicht mehr. Warum hat unsere Presse jetzt aufgehört über Syrien zu sprechen? Das ist schon alles nicht mehr interessant. Das Problem Syrien hätte man entschieden früher angehen müssen. Noch vor dem Krieg kam die syrische Opposition nach Moskau, mit der Bitte, dass Moskau als Vermittler zwischen Assad und der Opposition aktiv werden möge. Da gab es noch keinen Krieg. Damals hätte man handeln müssen. Das ist nicht geschehen. Im Weiteren haben sich dann Quatar, Saudi-Arabien usw. eingemischt.

Kai Ehlers: Du verblüffst mich schon wieder.  Wenn ich auf unsere globale Welt schaue, dann sehe ich, dass Russland zurzeit einen sehr guten Platz einnimmt.

Boris Kagarlitzki: Russland, ja, aber das ist nicht Putins Verdienst.  Das ist einfach die Geographie….

Kai Ehlers: ..aber das ist doch die Politik eures Präsidenten…

Boris Kagarlitzki: Nein, wir haben einfach noch viele Panzer, viele Flugzeuge, wir haben noch die Atombombe, im Vergleich zu Quatar, im Vergleich zu Estland, sehr viel…

Kai Ehlers: …aber im Vergleich zu den USA…

Boris Kagarlitzki: das spielt keine Rolle, denn mit den USA kann sich niemand vergleichen. Also noch einmal, es gibt einen gewissen Rüstungsstand, es gibt einen gewissen Status, etwa den Platz in der UNO. 2014 hatte unsere Regierung noch globale Ambitionen, hatte auch den Willen zur ökonomischen Expansion auf dem Weltmarkt, jetzt ist das alles niedergegangen.  Selbst das, was man ihnen hingeworfen hat, haben sie nicht geschluckt. Eine Art Raubtier ohne Zähne.

Kai Ehlers: Aber das ist ja nicht einfach Russland – es ist die Regierung, die Politik macht.

Boris Kagarlitzki: Ja, sicher, aber sie haben den Donbass praktisch lahmgelegt, so dass die Ukraine machen kann, was sie will. Der Krieg findet statt, jeden Tag. Aber Russland unternimmt nichts. Im Prinzip, wenn es einen politischen Willen gäbe, dann könnte der Spuk in wenigen Stunden beendet sein. Man müsste nicht einmal einmarschieren, man müsste ihnen nur noch die ausreichenden Waffen geben…

Kai Ehlers: Aber wozu riskieren?

Boris Kagarlitzki: Was wäre der Unterschied, selbst wenn sie die ganze Ukraine einnähmen? Nachdem die Krim eingenommen wurde, würde es so oder so nur dieselben Probleme geben, Sanktionen usw. Man könnte die Ukraine an Russland anschließen und Galizien dem Westen überlassen. Das sind ja die eigentlichen Separatisten. Das Ganze ist so, als ob du eine Bank überfällst und 200 Dollar mitnimmst. Da ist es im Prinzip das Gleiche, ob du 200 oder gleich 200.000 oder mehr nimmt. Du hast die Bank überfallen. Also, warum dann nicht gleich richtig. Sie verstehen den Westen einfach nicht, der gar nicht in der Lage ist, die Bank zu schützen.

Kai Ehlers: Du meinst, dass die russische Regierung den Konflikt fürchtet?

Boris Kagarlitzki: Ja, sie fürchten den Konflikt tödlich. Das sind Leute, die den Kompromiss suchen. Sie verstehen einfach nicht, warum Merkel und Co nicht zu einem Kompromiss kommen können. Die EU braucht die Expansion; ohne Expansion wird sie in eine innere Krise kommen. Der einzige Ausweg ist ein äußerer Feind, sind Expansionen, sind neue Ressourcen…

Kai Ehlers: Aber die Politik des Konsenses, die Putin verfolgt ist doch seine Stärke, gerade weil sie aus der Schwäche Russlands erfolgt.

Boris Kagarlitzki: Ja, schon, aber jetzt gibt es da ein Problem. Jetzt ist er in eine Situation gekommen, in der ein Konsens nicht mehr möglich ist. Er und seine Leute sind in der Situation, dass sie Druck ausüben müssen oder verlieren. Ohne jeden Kompromiss. Wer auf Kompromisse setzen will, wird geschlagen. Das ist der Grund, warum sie gegen Nawalny verlieren. Sie haben es nicht gelernt zu unterdrücken, sie brauchen die demokratische Fassade, während sie gleichzeitig nicht bereit sind, nach demokratischen Regeln zu spielen. Deshalb wissen sie nicht, wie sie sich verhalten sollen. Trump weiß, wie er sich verhalten muss, er macht das richtig. Sobald er auf einen Kompromiss ausgeht, hat er verloren. Solange er draufgängerisch ist, aggressiv, solange kann er gewinnen. Sobald er zu Kompromissen schreitet, verliert er.

Kai Ehlers: Boris, was bedeutet das alles aus deiner Sicht, Krieg?

Boris Kagarlitzki: Nicht unbedingt Krieg, aber es heißt, das die Epoche der friedlichen Entwicklung des Kapitalismus zu Ende gegangen ist. Der Krieg findet ja auch schon statt.

Kai Ehlers: Das ist wahr, rundum, und zunehmend, allerdings wohl eher nicht in der Form des allgemeinen Weltkrieges.

Boris Kagarlitzki: Ich denke auch, dass es den großen Krieg nicht geben wird. Es wird viele lokale Konflikte geben, Das reicht vollkommen aus. Zur Entscheidung der Probleme muss nicht unbedingt die Atombombe eingesetzt werden.

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An der Demonstration am 12.06. nahmen Boris Kagarlitzki und seine politischen Freunde dann teil, „selbstverständlich“, wie Boris es formulierte, „aber ohne eigene Flagge zu zeigen, so wie wir prinzipiell Nawalny auch nicht auf unsere Veranstaltungen lassen.“ Und auf die letzte Frage, ob sie gegen Nawalny etwas unternähmen, antwortete Boris: „Nun ja, ich kritisiere ihn regelmäßig. Aber wir haben da eine Regel: Wenn mich eine offizielle Zeitung anruft und von mir eine kritische Stellungnahme zu Nawalny haben will, gebe ich sie nicht – dir gebe ich sie. Es ist eine schwierige Situation: Mit der Macht spielen, nein – mit Nawalny aber auch nicht. Man muss auf den eigenen Moment warten.“

 

Zur Vertiefung

Kai Ehlers, 25 Jahre Perestroika, Gespräche mit Boris Kagarlitzki, zwei Bände, Laika, 2014/2015 (zu beziehen über den Buchhandel oder den Autor)