Ich, du, wir – die innere Organisation der Allmende

                                                                                                                                                                                        

Schafft zwei, drei viele Allmenden!

Bericht vom 29. Treffen am 1.6.2013

 

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

ich, du, wir – ein unerschöpfliches Thema! Und letztlich doch auf einen einzigen Satz reduzierbar, den wir einander nicht oft und nicht einfach genug mitteilen können: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Dies und nicht mehr und nicht weniger ist die Essenz, auf die alle Gespräche zurückkommen.

    Aber dann geht es los: Wer bin ich? Wer bist Du? Wer ist der Nächste? Und was, bitte sehr, heißt lieben? Was heißt sich selbst zu lieben? Was heißt den Nächsten zu lieben?

    Max Stirner schrieb: „Mir geht nichts über mich.“ Emanuel Kant formulierte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Wie weit liegen diese Sätze – moralische Entrüstung beiseitegelassen – tatsächlich auseinander? Liegt nicht im Anspruch, so zu handeln, daß die Maxime des eigenen Handelns zum allgemeinen Gesetz werden möge, ein ebenso radikaler Subjektivismus wie in der Formulierung Stirners? – vorausgesetzt man nimmt beide, ihn und Kant, ernst und läßt es nicht bei den Worten, sondern fragt nach den inneren, lebendigen Zusammenhängen.

    Andere, etwas alltäglichere Varianten desselben Zusammenhangs sind uns vertraut: Nur wer sich selbst versteht, kann andere verstehen. Nur wer sich um sich selbst kümmert, kann sich auch um andere kümmern. Nur wer sich selbst als Mensch begreift, kann auch andere als Menschen begreifen usw. usf. Das sind Sätze, die wir so oder so, immer wieder wie selbstverständlich gebrauchen. Sie bedeuten nichts anderes als das, was heute auch so formuliert wird: Selbstwahrrnehmung ist Weltwahrrnehnung. Rudolf Steiner sprach so. Christiane Kessler spricht heute so. Hans Peter Dürr. Also, warum erschrecken wir immer noch so, wenn Stirner den radikalen Egoismus formuliert?

    Darf man solche Fragen in einer Welt stellen, deren Existenz durch radikale Egoismen bedroht ist? Wir denken ja, man muß sie sogar stellen, um auf den Kern der Bedrohung zu kommen. Ich muß die Frage nach den Wurzeln und Bedingungen der eigenen Existenz stellen, um zu verstehen, daß Ich nur Ich sein kann, weil und wenn du auch ein Ich sein kannst. Es heißt nur einfach zu begreifen, daß mein Ich nur ich sein kann, indem es sich als Ausdruck der Welt versteht, verantwortlich dafür, daß die Welt sich in mir verwirklichen, in mir ihren Sinn finden kann. Dies bedeutet den tiefen, untrennbaren Zusammenhang zwischen mir und allem, was ist und was lebt, zu erkennen, in der Weise, daß jede meiner Handlungen Auswirkungen auf das Ganze hat – und also auch auf mich. Radikaler Egoismus und Altruismus sind nur zwei Seiten desselben Zusammenhangs. Kant und Stirner – zwei Seiten einer Medaille, nämlich der Selbsterkenntnis des Ich als Werte setzendes Subjekt.

 

Tja, liebe Freunde, so ging das bei unserem letzten Treffen – und wo liegen die Grenzen der Identifikation meines Lebens mit der sozialen und der allgemeinen sachlichen (Um)Welt?

Was gehen mich die Nachbarn an? Was gehen mich die Türken an, die um einen Park streiten? Was die Brasilianer, denen die Tomaten zu teuer sind? Das sind auch wieder solche Fragen, die nur verständlich werden, wenn ich meine eigene Beziehung zu meinen eigenen Tomaten ernst nehme, zu meinem eigenen Erholungspark, zu meinem eigenen Arbeits- und Lebensplatz, der zerstört wird.

 

Wer sind die Türken, wer sind die Brasilianer, wer sind alle die anderen, die heute um den Erhalt ihrer Lebensqualität, ihrer Zukunftsperspektive auf die Straße gehen. Wutbürger? Oder vielleicht doch eher Mutbürger, um mit Robert Menassew zu sprechen? Und welchen Charakter haben die Proteste in Russland? Sind alles das “sie“, die anderen, mit denen ich nichts zu tun habe, oder sind wir das? Gibt es da ein Gemeinsames, das Ich sagen will?

    Also, es ist klar, wohin diese Frage führt: in den Ungehorsam, in den Protest gegen die gegenwärtige profitorientierte Normalität, in den Widerstand gegen eine lebenszerstörende Konformität. Und so kommen wir zu der Frage: Wogegen genau richtet sich eigentlich der Unmut der heute zu beobachtenden Proteste und Revolten? Wer sind ihre Träger? Haben die verschiedenen Ausbrüche etwas gemeinsam? Und wenn, was ist es?

 

Dieser Frage soll das nächste Treffen genauer nachgehen unter der Fragestellung

                   „Wutbürger, Mutbürger oder gar keine Bürger?“

P.S.

Mit diesen Fragen setzen wir selbstverständlich unsere Reise in die Welt der Commons und Allmenden fort, denn sicher ist, daß es auf jeden Fall um Selbstorganisation jenseits von Staat und Markt geht. Wir möchten Euch auch auf ein Ereignis hinweisen, das im November in Berlin stattfinden wird. Dort soll es auf einer „Demokratiekonferenz“ unter dem Stichwort „Europa der Regionen“ um die Frage gehen, wie wir wirklich in Europa – und nicht nur dort – leben wollen. Wer interessiert ist und nähere Informationen dazu braucht, möge sich bitte an uns wenden.

 

P.P.S.

Näheres zum Thema ‚Ich, Du, Wir’ bei:

– Amartya Sen, Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, dtv, München 2010

– Kai Ehlers, Die Kraft der ‚Überflüssigen’, Pahl-Rugenstein, 2013