Landreform in Rußland (Text)

Landreform in Rußland

Im Frühjahr 1997, nach seiner Wiederwahl als Präsident und genesen von seiner Herzopration, kündigte der russische Präsident Boris Jelzin eine neue Phase der Reformen an. Nachdem die erste Phase der Privatisierung in der Industrie und auf dem Lande nunmehr erfolgreich abgeschlossen worden sei, sei nun die Privatisierung der „natürlichen Monopole“ an der Reihe. Gemeint waren damit die Versorgung mit Gas, Öl, Elektrizität, das Verkehrs- und das Bauwesen, der Dienstleistungsbereich und auch das Bildungswesen. Besonders hob der Präsident hervor, daß nun endlich auch mit der Verkaufbarkeit von Grund und Boden ernst gemacht werden müsse.
Damit war erneut das Stichwort gefallen, um das es auch in diesem Stück zur „Landreform in Rußland“ geht: Die Umwandlung des landwirtschaftlichen Gemeineigentums in Privateigentum und die der kollektiv produzierenden Landwirtschaft in eine nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten wirtschaftende.
Ich sage „erneut“, weil diese Ankündigung des russischen Präsidenten nicht die erste dieser Art war. Sechs der gleichen Art sind ihr spätestens seit 1991 vorausgegangen, nachdem schon Michail Gorbatschow an dieser Frage scheiterte war und seinem Nachfolger Boris Jelzin mit der ungelösten Landfrage ein explosives Problem hinterließ.
Die Ankündigung einer sofortigen Privatisierung auf dem Lande, insbesondere der Umwandlung des unverkäuflichen Gemeineigentums in handelbares Land war einer der entscheidenen Programmpunkte, mit denen
Boris Jelzin und sein „Kommando“, wie die jeweilige Regierung in Rußland genannt wird, 1991/92 zur sog. demokratischen Revolution antraten.
Bis Ende 1993 sollten die Sowchosen und Kolchosen, als die Kollektivbetriebe in Aktiengesellschaften oder andere Gesellschaften bürgerlichen Rechts umgewandelt worden sein und das gemeinsame Eigentum nach Anteilen auf die Mitglieder der Gemeinschaft aufgeteilt sein. Jedes ihrer Mitglieder – vom Baby bis zum Rentner oder der Rentnerin, selbst solchen, die nur noch formal auf dem Dorf lebten – sollte das Recht erhalten, sich seinen Anteil entweder zur eigenen Bearbeitung als privater Bauer aushändigen, sich auszahlen zu lassen oder es selbst weiter zu verkaufen. Offen blieb, unter welchen Bedingungen das einzelne Mitglied ihr oder seinen Anteil verkaufen durfte. Gut 400.000 private Hofgründungen erwartete die Regierung bis Ende 1993. In ihnen sah man den Motor der Modernisierung für die in die Krise geratene Landwirtschaft.
Mehr als die Hälfte der kollektiven Betriebe war am Ende des Jahres tatsächlich zu Aktiengesellschaften umregistriert. Die einen als offene Aktiengesellschaften, in die auch Städter sich einkaufen konnten, die anderen als sogenannte „AGs geschlossenen Typs“, in denen die Anteile nur innerhalb der Gemeinschaft weitergegeben werden durften.
In einem war die Mehrheit der Betroffenen sich zu der Zeit einig, daß nur an solche Menschen verkauft werden dürfe, die das Land auch landwirtschaftlich nutzen wollten. „Spekulanten“ wollte man auf den Dörfern nicht sehen. Und auch die Städte zögerten mit der Freigabe der Grundstücke. So konnten inländische oder auch ausländische Gesellschaften zwar Anteile von Fabriken kaufen, konnten sogar Mehrheitsbesitzer von Aktien werden – aber der Grund und Boden, auf dem die Betriebe sich befinden, blieb nach wie vor Staatsbesitz, eben Gemeineigentum.
Nicht 400.000 private Höfe, wie angekündigt, sondern gut 200.000 waren Ende 1993 auf diese Weise entstanden. 1993 erhöhte sich die Zahl noch einmal auf 270.000. Schon jetzt war die Fluktuation ein erkennbares Problem, d.h. gut 10.000 Höfe waren bereits wieder aufgegeben worden. Seit 1994 geht die Zahl der Höfe auch absolut zurück.
Inzwischen wird der private Hof auch von der Regierung nicht mehr als der Weg zur Modernisierung der Landwirtschaft betrachtet. Das Schlagwort der Privatisierung ist schon lange durch das der „gemischten Wirtschaft“ ersetzt worden. Aber auch die kollektiven Wirtschaften befinden sich in der Krise. Ähnlich wie die Industrieproduktion so sinkt auch die landwirtschaftliche seit 1990/91 jährlich zwischen 8 und 10 Prozent. Die Tierhaltung ist rückläufig, Tiere werden geschlachtet und gleichzeitig die Aufzucht junger Tiere eingeschränkt.
Einen Boom, sofern man das so nennen kann, verzeichnet lediglich die private Garten- und Hoflandwirtschaft. Das betrifft die sog. Datschen, auf deutsch Schrebergärten vor den Städten, bzw. auch einfach nur die Beackerung eines von der Stadt vor den Toren zur Verfügung gestellten Stückchen Landes mit Kohl oder Kartoffeln. Es betrifft auch die Gärten, welche die in Kolchosen oder Sowchosen auch in deren neuer Form als Aktiengesellschaften lebenden Familien privat bewirtschaften. Dazu gehören in der Regel Hühner, ein paar Schweine, ein, zwei Kühe oder andere Tiere, deren Zahl im Hoflandbereich in den letzten Jahren kontinuierlich wächst. Hier, geschützt durch die Mitgliedschaft im Kollektivbetrieb, kann findet eine heimliche Privatisierung von unten statt.
Die von oben verordnete Linie der Privatisierung dagegen muß man heute als gescheitert betrachten. Das Fehlen der Ausführungsbestimmungen war nur das äußere Anzeichen dafür, daß die Regierung nicht in der Lage sein würde, die Auflösung der Gemeinschaftsstrukturen durchzusetzen. Die Mehrheit der Kollektivbetriebe hat sich zwar brav in AGs umbenannt, die Arbeitsverhältnisse innerhalb der Gemeinschaften sind dadurch aber nicht effektiver, sondern uneffektiver geworden, sie arbeiten nicht profitabler, sondern weniger profitabel – gemessen an der Menge von Produkten, die sie der Gesellschaft zur Verfügung stellen können.
Einzelne, vor allem leitende Mitglieder der Gemeinschaften mögen sich an der Umwandlung bereichert haben. Auf solche Gedanken muß man bekommen, wenn man beim Besuch der Dörfer die neu aus dem Boden schießenden ein oder zweistöckigen gemauerten Häuser sieht, die dort in den letzten Jahren – außerhalb jeder, wie soll ich sagen? – ästhetischen Dimension mitten zwischen die Holzbauten gesetzt werden.
Aber insgesamt kann die Landwirtschaft nur noch mit massivsten Subventionen überleben. Die wiederum gehen, entsprechend der neuen „privatwirtschaftlichen“ Mentalität oft nicht in die Produktion oder bitter notwendige Verbesserung der maschinellen Ausstattung oder Infrastruktur der Landkreise ein, sondern versickern irgendwo in den Strukturen der örtlichen Macht.
Die Situation der Einzelbauern ist nahezu aussichtslos. Ausgegliedert aus der vorher alles umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Gemeinschaft, kämpfen sie sich, oft auch noch am Rande des früheren Sowchosgebietes, als Familienbetriebe durch den bäuerlichen Jahresrythmus. Aber es reicht nicht hinten und nicht vorne. Es fehlt der Machinenenpark, es fehlt das Saatgut, es fehlt die Möglichkeit der Weiterverarbeitung, es fehlen die Wege – alles war auf arbeitsteilige Großproduktion eingestellt; da fällen die Einzelbauern einfach zurück. Sie können ihre Milch nicht verarbeiten, sie können ihr Korn nicht trocknen. Manche sammeln ihre Kartoffeln mit der ganzen Familie wieder im Handbetrieb oder verzichten gleich darauf und bauen nur noch an, was sie grad für die eigene Versorgung noch brauchen. Die Kredite, die man ihnen versprochen hat, sind ausgeblieben, bzw. hat sich deren Rückzahlung derart verteuert, daß die privaten Bauern praktisch für ihr Leben in einer Höhe verschuldet sind, von der keine Aussicht haben, jemals wieder herunterzukommen.
„Flankierende Maßnahmen“, die Anfang 1992 unter dem Titel eines Programms „Zum Ausbau des Dorfes“ angekündigt waren, blieben ebenfalls aus. Sie fielen der von der Regierung betriebenen Sparpolitik zum Opfer.
So kann es nicht wundern, daß sich schon ab Mitte 1992 der Widerstand gegen die von der Regierung betriebene Agrarreform regte. Er fand seinen Ausdruck vor allem in den örtlichen und regionalen Sowjets, repräsentiert durch den Oberstens Sowjet in Moskau. Seit Mitte 1993 lähmten sich Regierung und Oberster Sowjet gegenseitig. In den Dörfern stapelten sich die Verordnungen der einen und der anderen Seite, die sich gegenseitig negierten. Wo sie übereinstimmten, fehlten in der Regel die Ausführungsbestimmungen; wenn diese gegeben waren, scheiterte die Umsetzung der angeordneten Maßnahmen am Geld.
Mit der gewaltsamen Auflösung des Obersten Sowjet versuchte Präsident Boris Jelzin sich den Weg frei zu machen für die Durchsetzung seiner Vorstellungen von der Landreform. Auch danach hat sich nichts geändert. Exakte Durchführungsbestimmungen fehlen bis heute, bis heute ist unklar, ob Land auch dann verkauft werden darf, wenn es nicht landwirtschaftlich genutzt wird. Nicht nur, daß die Duma, das Nachfolgeorgan des Obersten Sowjet, die Verordnungen des Präsidenten in dieser Frage regelmäßig außer Kraft setzt. Durch die tendenzielle, aber im Einzeln en noch undurchschaubare Umwandlung des Zentralstaats in einen Föderalstaat, gelten auch unterschiedliche regionale und lokale Zusatzverordnungen. So dürfte auch von der neuerlichen Initiave des Präsidenten keine Lösung dieser Frage zu erwarten sein.
Um zu verstehen, warum das alles so ist, muß man sich für einen Moment von den gewohnten westlichen Vorstellungen lösen. Selbst der kürzeste Besuch in einer Sowchose, Kolchose, jetzt AG läßt erkennen, daß deren von oben verordnete Umwandlung in privat wirtschaftende Einheiten nicht funktionieren kann.

Was ist solch eine Sowchose? Das sind drei, vier oder mehr Dörfer, die eine soziale und wirtschaftliche Einheit bilden. Das sind Traditionen des Gemeinschaftsbesitzes, die sich in der russischen Geschichte allmählich herausgebildet haben, lange bevor sie von den Sowjets nach der Revolution von 1917 verstaatlicht wurden. In einer solchen Gemeinschaft hat das einzelne Mitglied seinen festen Platz, es ist wirtschaftlich versorgt, es hat den Hof, bzw. auch den Garten für die Absicherung der privaten Grundbedürfnisse, für Kindergarten, Schule, Kultur, für Strom, Wasser und Wege und dergl. sorgt die Sowchose, für das Alter bietet sie einen sicheren Platz. Welches Interesse sollte ein Sowchosmitglied an einer Auflösung eines solchen Verbandes haben? Keines, das ist klar. Deswegen werden alle Versuche, eine solche Art der Privatisierung von oben zu erzwingen, auch in Zukunft am Widerstand der Mehrheit der Landbevölkerung scheitern.

Begleittext zur Schulfunksendung des bayerischen Rundfunks

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