Auf der Tagesordnung des zurückliegenden Forums stand die Auseinandersetzung mit den dystopischen Gespenstern, die im Zuge des gegenwärtigen „Großen Umbruchs“ aus den Tiefen des letzten Jahrhunderts hochkommen: Aldous Huxleys, „Schöne neue Welt“ von 1933, George Orwells „1984“ aus dem Jahr 1949. In zahllosen Neuauflagen kommen die Visionen dieser Autoren heute auf den Buchmarkt und ins Gespräch. Was kommt uns da entgegen? Unbewältigte Vergangenheit? Gegenwart? Zukunft?
Huxley beschreibt eine Welt, in der die Gesellschaft durch Zuchtwahl und Glücksdrogen in einer Art eugenischer Betäubung ohne Krankheit und materielle Probleme in einer konsumgesättigten Wohlfühllage gehalten wird. Orwell dagegen beschreibt eine Welt des Überwachungsterrors in einem vom Mangel gezeichneten Dauerkriegszustand.
Unterschiedlicher, scheint es, könnten die Bedingungen, von denen ausgegangen wird, kaum sein. Aber auf einer Achse treffen sich beide Beschreibungen: in der totalen Ausschaltung des Einzelwillens. Bei Huxley geschieht das durch vorgeburtliche Selektion, durch bio-technologische Konditionierung und obligaten Gebrauch von Glückshormonen, „Soma“. Bei Orwell geschieht es durch die allgegenwärtige Gedankenpolizei und deren offenen Terror.
Individuen, die dann trotz allem noch nicht „funktionieren“, werden hier wie dort, in Huxleys „Schöner neuer Welt“ wie auch in der von Orwells „Großem Bruder“, ohne rituelle Umstände und ohne weiteren Nachhall anonym beseitigt – ganz zu schweigen von denen, die außerhalb der etablierten, normgebenden Gesellschaft als ausgegrenzte Gruppe ins Reservat der Zurückgebliebenen verdrängt werden. Das ist bei Huxley nicht anders als bei Orwell.
Eine Perspektive, die aus dieser Situation hinausführen könnte, wird nicht benannt, weder bei Huxley noch bei Orwell. Bei Huxley endet der Versuch, die Spaltung zwischen der Neuen Welt und dem Reservat zu überwinden, in einem Dialog zwischen einem „Wilden“ des Reservats und einem „Controller“ des Systems. Der „Controller“ erklärt dem „Wilden“, warum der „monatliche Adrenalinschub“ zur Erhaltung „vollkommener Gesundheit“ vom System zur Pflicht gemacht worden sei, nämlich, um das Leben „komfortabel“ zu machen. Als der „Wilde“ erklärt, er verzichte auf Komfort, entwickelt sich folgender Dialog:
„Kurzum“, bemerkte Mustafa Mond, „Sie fordern das Recht unglücklich zu sein.“
„Also gut“, bejahte der Wilde trotzig, „dann fordere ich eben das Recht, unglücklich zu sein.“
„Ganz zu schweigen von dem Recht zu altern, (fährt Wilde fort – ke), hässlich und impotent zu werden, dem Recht auf Syphilis und Krebs, dem Recht, zu wenig zu essen zu haben, dem Recht, verlaust zu sein, dem Recht, in ständiger Angst vor dem zu leben, was morgen wird, dem Recht auf Typhus, dem Recht, unaussprechliche Schmerzen aller Art zu erleiden.“
Es herrschte langes Schweigen.
„Ja, ich fordere diese Rechte, alle“, sagte der Wilde schließlich.
Mustapha Mond zuckte mit den Schultern. „Wie sie wollen.“, sagte er.“
Es folgt im Schlusskapitel dann nur noch der Freitod des „Wilden“, nachdem er erklärt hat, an der Zivilisation zu verzweifeln.
Die andere, offen gewaltsame Variante finden wir bei Orwell, dessen Hauptfigur direkt am Ende des Buches vor einem Bildschirm des „Großen Bruders“ sitzt, nachdem er im „Liebesministerium“ durch Terror soweit gebrochen worden ist, dass er seine Geliebte verriet:
„Er blickte zu einem riesigen Gesicht auf. Vierzig Jahre hatte er gebraucht, um zu begreifen, was für ein Lächeln sich unter dem dunklen Schnurrbart verbarg. Oh, grausames, unnötiges Missverständnis! Oh, widerspenstige, eigenwillige Verbannung aus der liebenden Brust! Zwei nach Gin duftende Tränen rannen an den Seiten seiner Nase herab. Aber jetzt war es gut, alles war jetzt gut, der Kampf war zu ende. Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Großen Bruder.“ Hier endet das Buch.
Es sind die mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts heraufziehenden eugenischen Theorien, gegen die der Humanist Huxley, selbst aus einer Familientradition von Eugenikern stammend, sich wandte. Für ihn stehen die Tendenzen der eugenisch definierten Pflicht zur „vollkommenen Gesundheit“ im Zentrum seiner Darstellung. Bei Orwell sind es die Erfahrungen der stalinistischen Perversion der sozialistischen Freiheitsversprechen in totalitären Terror, gegen die er sich mit seinem Roman wendet, wie übrigens zuvor schon, 1945, in seinem Roman „Farm der Tiere“. Für ihn steht das Brechen des selbständigen Denkens durch erzwungene Umkehrung aller Werte im Mittelpunkt.
Wie können wir, wie müssen wir diese Bücher heute verstehen? Wie wurden sie, wie werden sie jetzt wieder gelesen? Als überholte, an ihre Zeit gebundene Erfahrungsberichte? Als Warnungen? Als sich selbst erfüllende Prophezeiungen, die selbst zu dem beitragen, wovor sie warnen? An dieser Stelle gingen die Meinungen der sich anschließenden Debatte weit auseinander bis hin zu der Weigerung, sich überhaupt auf solche Schriften einzulassen. Es fehlten nicht Hinweise auf den überbordenden Science-Fiktion-Boom in den heutigen Medien. Dergleichen habe keine aufklärende Wirkung, sondern könne eher zur Verwirrung, Vergiftung und Abstumpfung des Denkens statt zur die Entwicklung von Alternativen zum herrschenden Chaos beitragen.
Das Hin und Her dieser Debatte, soll hier nicht ausgebreitet werden. Wichtig ist, was sich am Ende als Ergebnis herausschälte, wie weiter oben bereits angedeutet wurde:
Beide Visionen, zum einen die „komfortable“ Huxleys, zum anderen die nach dem Zweiten Weltkrieg darauf folgende, sagen wir, höchst unkomfortable Vision Orwells kreisen um die Auslöschung der Selbstbestimmung des Menschen und seiner Geistigkeit durch die Totalisierung des Kollektivs: Bei Huxley durch totalisiertes Glücksversprechen, bei Orwell durch totalisierte Kontrolle.
Was aber bei Huxley und Orwell noch Dystopien, also wohlgemerkt, kritische Visionen einer drohenden Entwicklung waren, die zudem noch zeitlich getrennt aufeinander folgten, das erscheint im „Zeitfenster“ des „Großen Umbruchs“ heute als „Projekt“ des internationalen Kapitals in dem beide Elemente, also das Glücksversprechen einer „vollkommenen Gesundheit“ zum Einen, die dazu gehörige bio-digitale Kontrolle zum Zweiten, zu einer noch nie dagewesenen totalen Realität zusammenzulaufen drohen.
Die Entwicklung eines digitalen globalen Impfregimes, dessen tendenzielle Verstetigung bei gleichzeitiger Ausgrenzung nicht Geimpfter oder Kritiker dieser Entwicklung, die wir gerade beobachten müssen, lässt Schritte in diese Richtung befürchten.
Wie wollen wir mit diesen Tendenzen umgehen? Bleiben wir bescheiden. Lassen wir ein weiteres, auf uns gekommenes Buch für uns sprechen – nein, nicht die Bibel und auch kein anderes heiliges Buch. Lassen wir uns von Michael Ende die „Unendliche Geschichte“ erzählen. Dort öffnet der Knabe Bastian Balthasar Bux ebenfalls ein Zeitfenster, in seinem Fall jedoch zur Rettung der vom Untergang bedrohten Welt der Fantasie, indem er Freundschaft zur „kindlichen Kaiserin“ dieser bedrohten Welt entwickelt und ihr einen neuen, selbst gefundenen Namen gibt. Nach seiner Reise durch Fantasia beleben sich alle sozialen Beziehungen von Balthasar. Auch der zuvor immer beschäftigte Vater und sein Sohn können sich neu begegnen. In Liebe. Das Stichwort, um das es hier geht, lautet: Entwicklung sozialer Fantasie – statt sozialer Distanz.
Mit dieser kleinen Geschichte entlassen wir Euch in die Auseinandersetzung mit den Gespenstern der auf uns zu rückenden Dystopien.
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Hier endete das Gespräch
mit der Verabredung, uns beim nächsten Mal unter der Frage zu treffen:
„Stand der Alternativen zur gegenwärtigen Krise – Neugliederung des sozialen Organismus, aber wie?“
Termin für den nächsten Austausch ist der 16.05.2021, 15.00 Uhr
Vorausgesetzt, es macht uns niemand einen Strich durch die Rechnung.
Erkundigt Euch also bitte elektronisch oder telefonisch, ob und wie wir den Termin halten können. Anfragen ggfls. auch über die Adresse www.kai-ehlers.de
Seid herzlich gegrüßt,
Kai Ehlers, Christoph Sträßner
P.S.
Von den vielen Hinweisen zu Themen, die zur Vorbereitung des kommenden Termins möglich wären, soll hier nur einer genannt werden: Dieser sehr lesenswerte Aufsatz über Giorgio Agamben in der Zeitschrift „Kernpunkte“ Nr. 5/2021.
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