Zum Frieden? Ja, bitte!

Anmerkungen zu Macrons Kritik des Nationalismus

Zum Gedenken an den hundertsten Jahrestag des Kriegsendes von 1918 ist der neue Nationalismus, der sich mit Donald Trumps „America first“ beschleunigt verbreitet, scharf in die Kritik gekommen, allen voran durch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron.

Bei der Gedenkfeier in Paris verurteilte Macron den neuen Nationalismus in Gegenwart Wladimir Putins und Donald Trumps und weiterer 60 internationaler Gäste als Gefährdung des Weltfriedens. Nicht neuer Nationalismus, sondern Solidarität, vor allem die Europas müsse die Botschaft der Kriegsergebnisse von 1918 sein.

In seiner Rede zum Volkstrauertag vor dem Deutschen Bundestag eine Woche später steigerte Macron sich zur Forderung nach der Entwicklung einer europäischen „Souveränität“, „durchaus in Verschiedenheit“, wie er betonte, die an die Stelle des neuerlich wieder aufkommenden Nationalismus gesetzt werden müsse. Europa, so Macron, „lebt heute vor, wozu die Welt imstande ist, wenn die Hoffnung stärker ist als das Schicksal.“ Europa habe die Aufgabe, „die Welt auf einen friedlichen Kurs zu bringen.“ Kanzlerin Merkel lobte Macrons „beeindruckende“ und großartige“ Rede gleich zweimal hintereinander, wie die FAZ süffisant anmerkte, und erklärte, sie empfinde wie der französische Präsident.

Die Welt ist beeindruckt. Wie gern möchte man aufatmen. Wie gern zustimmen. Ein vielfältiges Europa der Solidarität als Impulsgeber einer weltweiten Friedensordnung! Packen wir es an! Ja, endlich – wäre da nicht der Nachsatz Macrons, mehrmals in letzter Zeit wiederholt, dass ‚wir‘ für diesen Weg zum Frieden eine Europäische Armee bräuchten, um Europa vor der russischen Aggression zu schützen.

Nicht auf die USA ziele diese Forderung, stellte er nach Mahnungen Donald Trumps klar; Europa stehe zum westlichen Bündnis.

Mit diesen Auftritten ist die europäische Politik an einem Punkt angekommen, an dem sich das Gedenken an die 100jährige Wiederkehr des Kriegsendes von 1918 als die 100ste  Wiederkehr fundamentaler politischer Doppelzüngigkeit, wenn nicht unglaublicher und gefährlicher Ignoranz  offenbart.

Statt der Frage nachzuspüren, wie die Dynamik des Nationalismus  überwunden werden kann, die bereits in zwei Weltkriege geführt hat, wird Nationalismus schlicht umdefiniert: Künftig soll Nationalismus nicht mehr Nationalismus heißen, sondern Patriotismus oder als „Souveränität“ Europas auf eine höhere Ebene verschoben werden. Kriegsbereitschaft kann so wie eh und je als Notwendigkeit zur Verteidigung deklariert werden, nur jetzt auf gesamteuropäischem Niveau.

Bemerkenswert, dass selbst der Adressat der von Macron geforderten europäischen Verteidigung, Wladimir Putin, gelassen reagierte. Russland ist, wie es scheint, nach der Zeit des Wiederaufbaus, die dem Ende der Sowjetunion folgte, wieder in der Normalität der internationalen Konkurrenz angekommen. Ein aufgerüstetes Europa wird eher als Schutz gegen die Bedrohung durch die USA, denn als direkte Bedrohung für Russland gesehen. Anders selbstverständlich Trump. Er wies die aufsässigen Europäer erwartungsgemäß auf ihre NATO-Verpflichtungen hin.

An einer kritischen Aufarbeitung der kriegstreibenden Dynamik des Nationalstaats, der als Beschleuniger der imperialen Konkurrenz in die Katastrophe des ersten Weltkrieges führte, gehen all diese Auftritte vorbei. Vor dem Hintergrund der realen Konfrontationen zwischen den nationalen bis nationalistischen Interessen der gegenwärtigen Weltmächte, ist das Gerede vom „Patriotismus“ und „europäischer Souveränität“ eine grandiose Augenwischerei, angetan dazu, die aktuelle Konkurrenz, insbesondere das Streben europäischer Mächte nach neuer Weltgeltung zwischen den übrigen Großmächten zu verschleiern. Ein abenteuerliches Vorhaben. Da klingen diese Friedensreden wie ein überlautes Pfeifen im Walde.

Tatsächlich ist die Weltordnung, die aus dem 1918 zum Credo erhobenen einheitlichen Nationalstaat hervorging, die nach dem zweiten Weltkrieg trotz des vorangegangenen erneuten Zusammenpralls noch einmal erneuert wurde, heute in einem desolaten Zustand. Er ist noch weitaus desolater als es der Völkerbund vor dem zweiten Weltkrieg war. Ein prekäres globales Patt ist entstanden – nur gehalten durch die Konkurrenz zwischen den beiden zurzeit führenden Atommächten, USA und Russland.  Im Hintergrund wachsen ein zur neuen Weltmacht aufschließendes China und weitere Prätendenten rund um den Globus heran.  Die niedergehende Weltmacht USA versucht mit Gewalt den Übergang in eine neue Völkerordnung zu verhindern, indem sie die Autorität der Vereinten Nationen durch wirtschaftliche und militärische Alleingänge schwächt.  Russland, in einer aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer noch nachklingenden eigenen Schwäche, versucht eben diese Ordnung als Minimalgerüst globaler Sicherheit aufrecht zu erhalten. Das erklärt, wie gesagt, auch Putins Verständnis gegenüber einem sich aufrüstenden Europa.

Paradox, aber wahr, stützen sich Trump und Putin beide – wie auch China als dritte Kraft und alle anderen Staaten, die sich hinter den führenden Staaten aufreihen – auf das immer noch geltende Credo des einheitlichen Nationalstaates, auch wenn die tatsächlichen inneren Verhältnisse der heutigen Staaten dem ‚eigentlich‘ nicht mehr gerecht werden, jedenfalls noch weniger als schon zuvor.  Die USA sind ihrer Natur nach ein multi-nationalistischer Überstaat, treten aber unter dem Signal von „America first“ als Nationalist auf. Russland ist ein pluraler Vielvölkerorganismus, der sich unter den gegebenen Umständen in die nationale Verteidigungshaltung drängen lässt. China steht nicht mehr weit davor den Slogan „Amerika first“ durch „China first“ ablösen zu können.

Schließlich kann nicht oft genug wiederholt werden, dass der einheitliche Monopolstaat von der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtung und der globalen geistigen Entwicklung, einschließlich Internet, längst überholt ist. Eine nationale, selbst eine europäische Digitalisierungsoffensive, wie sie neben der europäischen Armee von Macron und Merkel als Garant für ein starkes Europa gefordert wird, ist kein Weg in eine friedliche Zukunft. Unter der Zielvorgabe, den Vorsprung der USA und Chinas einholen zu wollen, ist dies vielmehr der direkte Weg in die Verschärfung nationalistischer Konkurrenz statt in eine offene Welt.

Kurz, die so bestehende ‚Weltordnung‘ ist in sich durch und durch widersprüchlich und mit keinem Begriff mehr zu fassen. Ein Übergang in eine andere als die globale Nationalstaatsordnung ist absolut überfällig. Schon nach dem ersten Weltkrieg war klar, dass die Konkurrenz der Nationalstaaten, aus dem das Schlachten hervorgegangen war, durch deren Entflechtung überwunden werden müsse, weil sonst jeder Nationalstaat, um alle Lebensbereiche ‚seiner‘ Bevölkerung befriedigen zu können, seinen Anspruch auf die Ressourcen und die Präsenz auf den Märkten der Welt gegen alle anderen Nationalstaaten durchsetzen muss. Faschismus und Stalinismus haben diese Erfahrung noch einmal potenziert. Es ist an der Zeit, diese Dynamik zu durchschauen und ihre erneute Wiederholung  zu überwinden.

Möglichkeiten gibt es. Unter der herrschenden Struktur haben sich vielfältige Ansätze herausgebildet, an denen anzuknüpfen wäre. Grenzüberschreitende Kooperation in selbstverwalteten Assoziationen im wirtschaftlichen und geistigen Leben, welche die heutigen wirtschaftlichen und staatlichen Monopole ablösen, öffnen den Weg dafür, dass ‚Staat´ auf die rechtliche Organisation des Lebens beschränkt werden kann. Solche Staaten, die sich auf die Wahrung der gleichberechtigten Beziehung zwischen den Menschen beschränken, bzw., konzentrieren, statt ein allseitiges Machtmonopol gegenüber allen anderen gleichartigen Machtmonopolen konkurrierender Nationalstaaten behaupten zu müssen, könnten auch in gleichberechtigte, lockere, föderale Beziehungen zueinander treten. Für eine solche Entwicklung braucht es weder den Rückgriff auf Nationalismen noch den scheinbaren Vorgriff auf eine „Europäische Souveränität“. Dafür reichte die Bereitschaft, die  Weiterentwicklung der europäischen Demokratien in Richtung auf Selbstbestimmung und Selbstverwaltung auf allen Ebenen zu fördern. Das wäre ein Weg in eine friedlichere Welt.

 

Kai Ehlers,

www.kai-ehlers.de

 

Für Interessierte, die hier weiterdenken wollen,

verweise ich auf meinen kürzlich veröffentlichen Text:

„Krise des Nationalstaats und neue Gliederung des sozialen Organismus.

Blick auf eine mögliche Alternative zur multipolaren Unordnung

Website: www.kai-ehlers.de

Direkt zum Artikel: https://kai-ehlers.de/2018/06/krise-des-nationalstaats-und-neue-gliederung-des-sozialen-organismus-blick-auf-eine-moegliche-alternative-zur-multipolaren-unordnung/