Russland und der Westen stehen heute nicht nur in der politischen, sondern auch in der kulturellen Kontroverse. Die westliche Propaganda betrachtet Russland wie einen unterentwickelten Paria, mit dem auch nur freundschaftlich zu verkehren schon für eine Stigmatisierung und den Verlust eines hohen Amtes ausreicht.
Der folgende Text mag dazu beitragen, die russische ‚Unterentwicklung‘ von einer anderen Seite her zu betrachten. Er ist heute so wahr wie 2005, als er geschrieben wurde – angesichts der neueren Konfrontationen möglicherweise noch wahrer als zur Zeit seiner Entstehung.
Kai Ehlers
Mit Jefim Berschin[1] steige ich in die Fragen ein, die sich aus der Einsicht ergeben, dass Russland heute – zum wiederholten Male – zum globalen Entwicklungsland geworden ist, und das nicht etwa im Sinne von Rückständigkeit, sondern im Sinne des wirtschaftlichen, sozialen, ethischen und geistigen Umbruchs – ein Entwicklungsland neuen Typs. In Russland bleibt kein Stein auf dem anderen, auch im mentalen Bereich; es gibt keine Prioritären, keine eindeutigen, keine einseitigen Orientierungen nach Westen oder nach Osten, zum ‚Kapitalismus‘ oder (zurück) zum ‚Sozialismus‘, zum Christentum oder zum Islam, überhaupt zur Religion oder zum Atheismus usw. Es wirbelt vielmehr alles durcheinander, auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Wechselwirkung der Vielfalt pur!
Insofern wird Russland erneut – wie schon mehrere Male in der Geschichte – zum Entwicklungsland in dem Sinne, dass sich im Russischen Raum als Integrationsraum Euro-Asiens die Einflüsse aus allen Ecken der Welt überschneiden und neu gestalten. Das formuliert ja interessanter Weise auch Wladimir Putin. Die Form, die diese Entwicklung unter seiner Ägide zurzeit annimmt, ist höchst unglücklich – eine Wiederauflage des Paternalismus von der Art der Selbstherrschaft, im Wesen aber ist gar keine andere Politik möglich als die der Erneuerung der Integrationskräfte Russlands.
Das Ringen um neue Ziele, neue Kräfte, neue Methoden der Integration bestimmt das gesamte russische, genauer gesprochen, russländische Leben, also nicht nur das der slawischen Russen, sondern das der Völker- und Kulturgemeinschaft Russlands – nicht zuletzt und im tiefstgreifenden Maße im Bereich der Ethik, Moral und Religion. Ohne neue Ethik kann dieser Raum, können die Menschen dort nicht überleben. In der Vielgestaltigkeit, ja in der chaotischen Vielfalt des Raumes, der aber doch ein Gesamtraum ist, liegt, wie jedes Mal deutlich wird, wenn man sich mit offenen Augen in Russland aufhält, die tiefe Begründung für den ethischen Extremismus, mit dem und in dem die russische Bevölkerung lebt: Nur extreme Besinnung auf moralische Verbindlichkeiten kann den Menschen in diesem offenen Raum, der allen Zentralisierungs- und Isolierungsbemühungen und –phasen zum Trotz immer wieder durch von außen kommende Einflüsse (wie jetzt die Globalisierung) chaotisiert wird, so etwas wie einen Halt, eine Sicherheit, eine Heimat geben.
Die Heimat der russischen Menschen ist deshalb auch weniger – wie bei uns – die schöne Landschaft oder dergleichen, sondern die russische Kultur, was immer darunter verstanden wird, sind die Werte des Zusammenlebens, die Sprache, die Lieder usw. – letztlich die Moralität von Gemeinschaft, eben deswegen, weil in dieser Weite die Moral einer Gemeinschaft ein besonderes schützenswertes Gut ist, das nicht einfach existiert, sondern gegen die uferlose, grenzenlose Weite hergestellt und bewahrt werden muss. Einfach gesagt: Der europäische Mensch ist froh, einen Platz zu finden, an dem er allein sein kann; in Russland ist man froh, Gemeinschaft zu finden, die einen vor dem Alleinsein und Ausgesetzt-Sein schützt.
Jetzt sind eben diese traditionellen moralischen Werte, durch die siebzig Jahre des realen Sozialismus zugleich bewahrt und diskreditiert, wieder einmal fundamental in Frage stellt – ähnlich wie zu Zeiten des Mongolensturms, ähnlich wie zu Zeiten Iwans IV., ähnlich wie zu Zeiten der großen Bauernrevolten im 18. Jahrhundert, ähnlich wie zu Zeiten des einbrechenden Kapitalismus und der Revolutionsjahre Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Wieder einmal bricht die Außenwelt in das mühsam zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd des Kontinents hergestellte Gleichgewicht ein – dieses Mal als ‚Globalisierung‘. Wieder einmal muss Russland von Grund auf seine Moral des Überlebens zwischen den territorialen, ethnischen und geistigen Extremen neu definieren. Insofern Russland das Zentrum des euro-asiatischen Kontinentes bildet, der seinerseits die größte Land- und Bevölkerungsmasse des Globus konzentriert, betrifft diese Definition die gesamte existierende Welt. In Maßen war das auch früher so – mit Auswirkungen auf die europäische wie auf die asiatische Entwicklung; heute im Zuge der Entwicklung, ja einer neuen Stufe der Intensivierung des globalen Marktes und damit sich entwickelnder gegenseitiger Abhängigkeiten betrifft diese Definition den gesamten Globus, ob wir wollen oder nicht. Grob gesprochen: Es kann der Welt nicht gleichgültig sein, welche Seite der russischen Wirklichkeit heute auf sie einwirkt – die Brutalität der russischen Mafia oder die Kultur der russischen Gemeinschaftstraditionen, oder, noch exponierter formuliert, die asozialen oder die sozialen Impulse, die aus der Transformation, sagen wir auch ruhig, aus der Modernisierung der russischen Gemeinschaftsethik heute hervorgehen.
In Russland treffen heute Individualismus und Kollektivismus am härtesten, am schroffsten, im weitesten Maße und im tiefsten Sinne aufeinander; hier werden Neue Formen des Miteinanders von Einzelinteresse und Kollektivinteresse am extremsten ausprobiert, durchlitten, erfunden – auf allen Ebenen der menschlichen Existenz, vom Kindergarten bis zum Tod und bis zu den Vorstellungen vom Leben nach dem physischen Tode. In diesem Sinne ist Russland heute ein gewaltiges Feld schöpferischer Unruhe von globaler Bedeutung, das neue ethische Räume entstehen lässt.
Jefim Berschin spricht hier geradewegs von Religion, wobei er sich gleichzeitig von bestehenden Glaubensgemeinschaften distanziert: Sein Credo: Gott im Menschen finden. Vom Judaismus über die historischen Glaubensgemeinschaften des Christentums und des Islam zum Ego des heutigen Menschen – dies, meint er, sei Russlands historische Botschaft. Das ist ein großer Entwurf.
Ich möchte da vorsichtiger sein: Die Elemente einer Wissenschaft von der Transformation, die für mich aus der Entwicklung der letzten Jahrzehnte russischer Geschichte hervortreten – Krise der Pyramide als Gesellschaftsmodell, Erinnerung an das Labyrinth, Selbstorganisation in der Gemeinschaft – öffnen zwar neue mentale Räume, die ohne Zweifel auch über Russland hinaus gültig sind, aber sie sind doch noch nicht mehr als ein Gerüst, an dem neue Vorstellungen entstehen können. Eine neue Ethik ist das noch nicht.
Vor allem ist es kein Automatismus: Der gegenwärtige Kurs Putins treibt Russlands Entwicklung auf eine neue Weggabelung zu: In seiner TV-Rede zu Beslan[2], deren zentraler Gedanke ist: „Wir waren schwach und Schwache werden geschlagen“, fordert Wladimir Putin als Ausweg mehr Stärke durch größere Nationale Einheit und eine „organisierte Bürgergesellschaft“. Wie die Maßnahmen zeigen, die er vor und nach Beslan einleitete, meint er damit ganz offensichtlich nicht „Demokratie“ nach westlichem Vorbild, sondern etwas sehr Russisches, nämlich die Überwindung der gegenwärtigen Smuta, der Großen Unordnung, durch eine patriarchale Konsensgesellschaft. Die Smuta ist der Zustand des ungeordneten Pluralismus zwischen Asien und Europa, in den Russland im Lauf seiner Geschichte immer wieder versunken ist, wenn die Zentralmacht verfiel. In dieser Polarität zwischen Anarchie und Zentralismus ist Russland gewachsen. Putin macht den Versuch, diese Polarität zu modernisieren, nachdem Gorbatschow sie gekündigt und Jelzin sie ins pluralistische Chaos überführt hatte. Putins gegenwärtige Stärke ist dabei Voraussetzung und Bremse zugleich: Voraussetzung, weil sie Investitionsanreize für ausländisches Kapital und eine gewisse innere Sicherheit schafft, Bremse, wo sie die Selbstversorgungskräfte der russischen Gesellschaft im Interesse dieser Sicherheit bekämpft und die Mehrheit der Bevölkerung damit in die Verweigerung gegenüber diesem Staat treibt, der ihren vitalen ökonomischen und kulturellen Lebensinteressen entgegen handelt. Das lässt den angestrebten Konsens zur leeren Geste verkommen. Die Erklärung des Präventivkrieges gegen den internationalen Terrorismus verlangt eine ideologische Aufrüstung, zu der die Mehrheit der russischen Bevölkerung nicht motiviert ist.
Im Ergebnis vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft in eine herrschende politische Klasse auf der einen, eine Parallelgesellschaft, die sich auf ihre traditionellen Selbstversorgungsmöglichkeiten zurückzieht auf der anderen Seite. Putin steht vor der Wahl, diese Verweigerung zu akzeptieren oder sie mit Gewalt zu brechen. Sie akzeptieren heißt, den unabgesicherten Weg der Transformation fortzusetzen, dem Kapital die Symbiose mit einer agrarisch orientierten Selbstversorgung als Dauereinrichtung, ja, als Perspektive zuzumuten und Schritt für Schritt neue Beziehungen zwischen ihnen entstehen zulassen; sie brechen, würde bedeuten, einen Ausweg in neuen Fortschrittsillusionen und expansiven imperialen Abenteuern zu suchen. Welchen Weg Putin in Zukunft wählen wird, ist offen; zur Zeit versucht er sich auf der Mitte zu halten. Solange Putin aber – oder ein Nachfolger Putins – den Weg der Reformen geht, besteht die Chance, dass die Transformation des patriarchalen Fürsorgestaats allen Härten und Krisen zum Trotz nicht in die Katastrophe, sondern in eine Erneuerung der traditionellen Symbiose von Produktion und Selbstversorgung unter heutigen Bedingungen führt. Damit könnte Russland einen Weg der Modernisierung gehen, in dem sich individuelle Initiative westlichen Zuschnitts und traditionelle russische Gemeinschaftsstrukturen zu einem neuen Verständnis der Selbstbestimmung des Einzelnen in der Gemeinschaft verbinden, das auch für den Westen Impulse enthält. Möglich ist dies aber nur, wenn Russland bei der Entwicklung seines Weges nicht isoliert und angefeindet, sondern in seinen exemplarischen Werten erkannt und gefördert wird.
(Entnommen aus:
Kai Ehlers, Russland: Aufbruch oder Umbruch?, Pforte Entwürfe, 2005, zu beziehen über den Verlag oder direkt über den Autor www.kai-ehlers.de
Kai Ehlers
[1] Jefim Berschin, Journalist, Schriftsteller, Dichterin Moskau
Bücher von und mit ihm:
– Jefim Berschin, Kai Ehlers, Dikoe Pole, wildes Feld, Bod, 2016, 9,99 €
– Kai Ehlers, Russland – Herzschlag einer Weltmacht, Pforte 2009, 1990 €
(Bezug der Bücher über www.kai-ehlers.de).
[2] Bei der Geiselnahme von Beslan im September 2004 brachten nordkaukasische ‚Gotteskämpfer‘mehr als 1100 Kinder und Erwachsene in einer Schule in der nordossetischen Stadt Beslan in ihre Gewalt. Die Geiselnahme endete nach drei Tagen in einer Tragödie – bei der Erstürmung des Gebäudes durch russische Einsatzkräfte starben nach offiziellen Angaben 331 Geiseln. (Nach Wikipedia)
Siehe auch: http://kai-ehlers.de/2004/09/beslan-wer-sind-die-opfer-wer-sind-die-tter/