Erinnern wir uns: der Maidan war eine Revolte gegen das Kapital in seiner primitivsten Form, der offenen oligarchischen Willkür. Seine Grundimpulse richteten sich, ungeachtet seiner Ost-West-Färbungen und seines späteren Missbrauchs, auf die Überwindung des Oligarchentums, auf soziale Grundsicherung, auf Selbstbestimmung, auf Autonomie und Demokratisierung der Gesellschaft.
Erinnern wir uns weiter, wie der ursprüngliche soziale Protest sehr schnell ins Fahrwasser einer nationalistischen Radikalisierung gelenkt wurde, die zu einer Polarisierung der Bevölkerung entlang „pro-westlicher“ und „prorussischer“ Teile der Bevölkerung führte, Maidan und Anti Maidan. Mehr noch, wie er zu einer Wiederbelebung historischer Frontstellungen von „Faschisten“ auf westlicher Seite und „Antifaschisten“ auf der östlichen führte, die keine andere Sprache mehr miteinander fanden als die der Waffen.
Erinnern wir uns schließlich, wie der Aufbruch der ukrainischen Bevölkerung gegen die oligarchische Ausbeutung und Unterdrückung durch die Einflussnahme ausländischer Kräfte Zug um Zug zu einem stellvertretenden geopolitischen Kriegsschauplatz pervertiert wurde, auf dem Russland, genauer Putin in der westlichen Propaganda schrittweise vom Verletzer des Völkerrechtes zum „Aggressor“, vom „Aggressor“ zur Kriegspartei gegen die Ukraine, vom Kriegsgegner der Ukraine am Ende zum „Völkermörder“ aufrückte, während auf der anderen Seite die atlantischen Unterstützer Kiews in der russischen Propaganda nicht weniger holzschnittartig zu „Interventionisten“, „Kriegstreibern“ und „Faschisten“ wurden.
Lassen wir uns nicht einschläfern durch den Nebel, der allenthalben über diese Szene ausgebreitet wird – die immer wieder vor alles andere geschobenen „Friedensvereinbarungen“ von Minsk, Minsk eins, Minsk zwei d,emnächst vielleicht drei, die von keiner Seite eingehalten werden. Tatsächlich stehen die Zeichen in der ukrainischen Bevölkerung, und dies nicht nur im separierten Osten, erneut auf Sturm gegen die neuerlich gefestigte Oligarchie, welche die Spardiktate und Privatisierungen der EU, des IWF und der USA gegen eine Bevölkerung in Angriff bringt, die eben diese Oligarchie abschaffen wollte.
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Jetzt auch noch die Griechen
Lassen wir uns auch nicht durch die Ereignisse täuschen, die sich inzwischen in der Europäischen Union selbst abspielen. Der Grundkonflikt ist der gleiche: Die griechische Bevölkerung wehrt sich gegen die Spardiktate und Privatisierungsforderungen der Euro-Mafia. Das Referendum spricht eine klare Sprache, wo die Bevölkerung steht. Diesmal musste die nue griechische Regierung sich trotz des Referendums beugen; sie hat es jedenfalls getan. Der Konflikt ist jedoch keineswegs gelöst. Und er hat so wenig wie in der Ukraine nur regionale Dimensionen. Der Kampf Griechenlands um seine Selbstbestimmung ist ein weiterer Tropfen auf das bereits randvolle Fass der gegenwärtigen geopolitischen Spannungen, die wieder einmal in Europa zusammenlaufen.
Beides zusammen, Ukraine und Griechenland kennzeichnet eine aktuelle Bruchlinie in der Expansionspolitik der EU – Griechenland von innerhalb, die Ukraine von außerhalb der Union. Im Hintergrund versuchen die USA die Situation für die Festigung ihrer gefährdeten Hegemonie zu nutzen. Sowohl im ukrainischen als auch im griechischen Konflikt geht es für die USA gegen Russland und zugleich gegen die Europäische Union, genau gesagt gegen ein mögliches Bündnis von Russland und EU/Deutschland: Mit dem ukrainischen Bürgerkrieg schüren die USA die Differenzen zwischen EU und Russland, die von ihnen forcierte Sanktionspolitik schlägt gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie schwächt Russland ebenso wie die EU, darin im besonderen Deutschland. In der Griechenland-Krise übt Washington Druck aus, das Land unter allen Umständen in der Eurozone zu halten; Zweck ist, ein Wegbrechen der gegen Russland gerichteten Südflanke der NATO, Balkan-Türkei, zu verhindern.
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Die großen Transformationslinien
Ungeachtet der Nebelschwaden, die unablässig aus dem gegenwärtigen Informationskrieg aufsteigen, treten hinter all diesen Vorgängen die Grundströme des heutigen Transformationsgeschehens immer deutlicher hervor, die sich schon lange, spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes 1991 herausgebildet haben, und man tut gut daran, sie sich wieder und wieder vor Augen zu führen, um wenigstens ein Minimum an Orientierung in dieser Wirrnis zu finden.
Diese Grundströme sind, in aller gebotenen Knappheit skizziert:
• Das nachsowjetische Trauma – wie wollen wir leben?
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erweist sich der Kapitalismus als Fortsetzung der sozialistischen Krise unter anderen Vorzeichen. Die prinzipielle Krise der kapitalistischen Produktionsweise ist unübersehbar: Grenzen des Wachstums, Überproduktion, die steigende Zahl der „Überflüssigen“ in den abhängig produzierenden Ländern, Expansionskonkurrenz der großen „Player“. Es stellt sich die Frage: Wenn wir so nicht so leben können, wie der Sozialismus es versprach, aber auch nicht so, wie sich der Kapitalismus jetzt entwickelt, dann also wie? Was ansteht, ist die Wiedergeburt des Sozialen in einer nach-sozialistischen und nach-kapitalistischen Welt.
• Die Krise des Nationalstaats – wo findet der Mensch wieder eine Heimat? Das Ende der Sowjetunion, genauer der bipolaren Welt hat große Unsicherheiten, hat die Suche nach neuen Identitäten in der Welt hinterlassen, hat damit Kräfte einer nachholenden Nationenbildung freigesetzt. In ihrer nachholenden Dynamik haben diese Kräfte starke nationalistische Tendenzen entwickelt. So an den Rändern der ehemaligen Sowjetunion in Usbekistan, Aserbeidschan, Armenien, Aserbeidschan, sogar im nachsowjetischen Russland, Tschetschenien und im südlichen Kaukasus. Aber auch die nachholende Nationenbildung beschränkt sich keinesfalls nur auf den Bereich der ehemaligen Sowjetunion und auch nicht nur auf die Zeit direkt nach deren Auflösung. Das neue Selbstbewusstsein bei den Neuzugängen der EU seit 1991 ist ebenso Ausdruck dieses Prozesses wie aktuell der Bürgerkrieg in der Ukraine und – als Extrem in anderen Teilen der Welt – des „IS“ mit seinem gottesstaatlichen Fundamentalismus. Zugleich jedoch wird der Nationalstaat von einer das Leben ganz umfassenden Einheit heute zunehmend auf ein Hilfsorgan globaler Korporationen, Institutionen und Konzerne reduziert. Man denke nur an die Freihandelszonen, insbesondere die neueren Varianten der TTIP und TTP. Man denke an das Internet, an Google, an Facebook. Man denke an Microsoft, Apple, Monsanto, um nur einige der überstaatlichen Imperien zu benennen. In diesem Widerspruch entwickeln sich Tendenzen neuer kommunaler, lokaler und regionaler Identitäten.
• Der Übergang aus der unipolaren in eine multipolare Welt:
Die Herausbildung neuer Regionalmächte unter der Bedingung begrenzter Ressourcen erzwingt einen Übergang aus der bestehenden US-dominierten Hegemonialordnung unkontrollierter Expansionskonkurrenz zu einer die Ressourcen gemeinsam verwaltenden Ordnung globaler Kooperation. Dieser Übergang vollzieht sich, aber er vollzieht sich nur gegen den zu Abenteuern neigenden Widerstand der bisherigen Hegemonialmacht USA und unter erheblichem Druck der neu antretenden globalen Kräfte eines widererstarkten Russlands, eines wachsenden Chinas, Indiens, Brasiliens, Südafrikas und anderer Regionen und Staaten des globalen Südens – und nicht zuletzt, wenn auch in äußerst widersprüchlicher Weise, auch Europas, genauer der Europäischen Union.
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Europa wieder Brennpunkt
Die Agonie Europas zwischen Russland und den USA, zwischen Ost und West, zwischen alter und neuer Welt ist der aktuelle Ausdruck der allgemeinen Transformationskrise. Eine paradoxe Situation ist entstanden: als Protagonist des Übergangs zur multipolaren Weltordnung steht Russlands traditionalistische Gesellschaft an der Spitze der globalen Erneuerer, die auf ihre Modernität pochende Europäische Union dagegen, selbst Bestandteil der neu entstandenen multipolaren Konstellation, steht als Juniorpartner der USA auf der Seite derer, die die alte unipolare Ordnung mit Gewalt, selbst unter Inkaufnahme eines Kriegsrisikos, zu verteidigen suchen.
Die alte Welt – das ist die Krise, die sich aus dem Zusammenwirken der drei genannten Grundfragen der Wiedergeburt des Sozialen, der Transformation des Nationalstaats und der geopolitischen Neuordnung ergibt. Für die EU bedeutet das: Die Krise des Sozialen verbindet sich mit der des Nationalstaats; das Integrationsangebot der EU wird zum Integrationsdruck gegenüber schwächeren Mitgliedern und provoziert rückwärtsgewandte nationalistische Reflexe, die ihrerseits zentralistische herausfordert. Das ist eine Eskalation, die auf eine Zerreisprobe der gegenwärtigen Verfassung der EU hinausläuft. Und weiter: Die geopolitische Dynamik droht in neue Blöcke zu führen, deren Konkurrenz auf europäischem Boden ausgetragen werden könnte. Revolten gegen die kapitalistische Produktion und Forderungen nach Selbstorganisation werden in diesem Klima als „Rückfall“, als „Regionalismus“, als „Separatismus“, als „Terrorismus“ und ähnliches denunziert und verfolgt – oder demagogisch benutzt, um die bestehenden Verhältnisse aufrechtzuerhalten. „Stabilität“, „Sicherheit“, „Wettbewerbsfähigkeit“ treten an die Stelle der Werte, für die Europa in der Welt steht, die aber in zunehmendem Maße als Instrument der Propaganda einer ökonomischen und machtpolitischen Expansion missbraucht und in diesem Zuge auch verbraucht und in Misskredit gebracht werden. Wohin diese Politik führt, ist innerhalb der EU heute an Griechenland, in ihren „assoziierten“ Randbereichen an der Ukraine zu studieren. Morgen kann es andere Mitglieder der Union oder weitere „assoziierte“ Nachbarn treffen.
Die neue Welt – die aus den Konflikten hervorgehen könnte, zeigt sich rund um den Globus in den wachsenden Protesten gegen die zunehmende Peripherisierung der Welt, sie zeigt sich in dem von Strategen wie Zbigniew Brzezinski als eines der heutigen Grundprobleme beschriebenen „awakening of people“. In Europa und an seinen Rändern zeigt sie sich nicht nur im offenen Widerstand Griechenlands, sondern auch den zunehmenden Alleingängern der Mitgliedstaaten, wachsenden Protestpotentialen alternativer Bewegungen, die nach Teilhabe, nach Selbstbestimmung, nach einem anderen, demokratischen Europa verlangen, in dem die vielbeschworenen Werte Europas verwirklicht oder weiterentwickelt werden. Zukünftiges zeigt sich auch in Bestrebungen nach Autonomie wie denen der Schotten, der Katalanen oder anderer, die nach mehr Rechten, nach Autonomie in einem Europa selbstverwalteter Regionen verlangen. Anders gesagt: es gärt in der Europäischen Union, die ihre eigenen Werte des demokratischen Wohlstands und gleichberechtigter Kooperation der europäischen Völker und Kulturen in Verfolgung ihres imperialen Wettbewerbswahns zunehmend missachtet.
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Perspektiven
Programme, wohin der Zug gehen soll, sind noch nicht formuliert, jedenfalls nicht im verbindlichen Klartext einer EU-weiten oder gar Europa übergreifenden neuen sozialen Bewegung, die sich die Wiedergeburt des Sozialen, die Transformation des Nationalstaats und den aktiven Einsatz für einen Übergang in eine multipolare Welt bereits zu eigen gemacht hätte. Grundzüge aber lassen sich angesichts solcher Bewegungen wie der europäischen und internationalen Sozialforen, der „Empörten“ Spaniens und ihrer „Podemos“-Nachfolger, der „Occupy“ und „Bloccupy“ Aktivitäten, der aktuellen anti-oligarchischen Impulse des Ukraine und jetzt des antikapitalistischen Schubs hinter dem griechischen Referendum immerhin in allgemeinen Strichen skizzieren. Ein Versuch soll hier jedenfalls gewagt werden, ohne an dieser Stelle dabei ins Detail gehen zu wollen, versteht sich, das ist der offenen Diskussion vorbehalten:
Auf der langfristigen Agenda der Protestbewegungen werden sichtbar:
• Bestrebungen zur Beendigung des Lohndiktats – in Perspektive geht es um einen Übergang vom Lohnvertrag zu einem Teilungsvertrag als Basis der gesellschaftlichen Arbeit. Dabei geht es um die Schaffung einer Arbeits- und Lebensorganisation, bei der sich das „Kapital“ nicht wie heute Menschen als „Arbeitskräfte“ kauft und damit das Recht über die Verwertung des Arbeitsproduktes besitzt, sondern um eine neue Form des miteinander Arbeitens und Lebens, bei der alle an einem Arbeitsprozess Interessierten mit gleichem Recht zum gegenseitigen Nutzen an dem gemeinsamen Arbeitsprozess und der Verteilung der darin geschaffenen Produkte beteiligt sind.
• Aktivitäten zur Weiterentwicklung der heute praktizierten parlamentarischen Demokratie unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung in kooperativer Gemeinschaft: Dabei geht es darum, den Dualismus von Selbstbestimmung o d e r Gemeinschaft zu überwinden, der in der Geschichte immer wieder in zerstörerischer Weise aufgetreten ist.
• Initiativen und Experimente zur Stärkung kommunaler, lokaler und regionaler Autonomie in föderaler Verbindung und Verantwortung der Gemeinwesen füreinander. Das beinhaltet strenge Beachtung der Subsidiarität und der Wiederbelebung lokaler und regionaler Wirtschafts- und Lebensräume – dies jedoch nicht als Rückzug auf „Kirchtumpolitik“, sondern aktiv im globalen Netz.
• Wachsende Aufmerksamkeit für die Gefahren, die von der unipolaren Weltordnung ausgehen und zunehmende Bereitschaft sich für die multipolare Organisation der Weltordnung zu engagieren.
Es ist klar, dass eine Organisation der Arbeit und des Lebens nach den genannten Gesichtspunkten eine andere Grundeinstellung der einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft bedingt als die heutige an Wachstum und Profit orientierte. Diese Art der Organisation ist selbstverständlich auch nicht von heute auf morgen einführbar, sondern wird in einem Prozess von Versuch und Irrtum wachsen müssen, dessen Ergebnisse hier noch nicht zu beschreiben sind. Auch Misserfolge gehören dazu.
Eine wesentliche Bedingung ist aber sicher die tendenzielle Entflechtung der heute vorherrschenden Einheit von Wirtschaft, rechtlichen Beziehungen und geistig-kulturellem Leben, die im gegenwärtigen Nationalstaat bis zur ununterscheidbaren Verfilzung einer übermächtig werdenden Bürokratie miteinander verkoppelt sind und daher immer wieder und immer mehr staatliche Bevormundung hervorbringen. Nur im Zuge einer vorangehenden Entflechtung werden sich die genannten Bereiche des Lebens in einem Netz lokaler wie globaler gesellschaftlicher Organismen in neuer Qualität miteinander verbinden können. Ein anderer Staat, Selbstbestimmung ist möglich – aber nur so.
Eine Tendenz der Entflechtung wirtschaftlicher, rechtlicher und kultureller Aktivitäten und Kompetenzen deutet sich in der Krise des Nationalstaates ja bereits an, wie weiter vorne schon ausgeführt, wenn seine Entscheidungen auf den genannten Gebieten immer häufiger von außen bestimmt werden. Man muss nur genau hinschauen, dann ist die Funktionalisierung der Nationalstaaten für die Belange der großen Korporationen ja bereits klar zu erkennen – wenn nicht versucht wird, das Modell des alles umfassenden Nationalstaates mit Gewalt zu zementieren, wie der „IS“ es betreibt, oder das alte Modell als Superstaat zu retten, dessen „nationale Interessen“ weltweit militärisch durchgesetzt werden, wie die US-Politik es versucht. Solche Versuche sind nur dazu angetan im Chaos zu enden, statt in kooperative Vielfalt zu führen. Die Krise der EU, die als zentralistischer Fiskalpakt soeben an ihre Grenzen stößt, ist dafür ein nicht zu übertreffendes Beispiel.
Das eben Skizzierte ist natürlich ein Programm für Generationen. Aber es setzt hier und jetzt und heute an. Es wächst im Schoß der ukrainischen Revolte wie auch des griechischen Aufbegehrens, wie auch, um das klar zu sagen, in allen für die nächste Zukunft absehbaren „Maidans“, sofern deren Kern das Streben der Menschen nach Selbstbestimmung in kooperativer Gemeinschaft ist. Im Übergang von der gegenwärtigen EU zu Europa, genauer von dem EU-Fiskalpakt zu einem Bund autonomer Regionen Europas, die in ihrer Verschiedenheit föderativ miteinander verbunden sind, liegt die historische Chance eines Paradigmawechsels, der durch die gegenwärtige Krise aufleuchtet und dies nicht beschränkt auf die EU. Diese Chance wahrzunehmen – sie zu schützen und aufzugreifen – ist der Kern der europäischen, darin der deutschen „Verantwortung“. D a s ist „alternativlos“.
Kai Ehlers www.kai-ehlers.de 12.07.2015
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