Rußland hat gewählt. Eine neue Duma wird zusammentreten. In ihr wird die „Partei der Macht“, Einheitliches Rußland, die Partei Medwedews und Putins mit 238 von 450 Sitzen zwar noch die absolute Mehrheit haben. Ein Weiter-So auf einem von einem willigen Parlament abgestützten Tandem, auf dem Medwedew und Putin nach Belieben die Plätze tauschen, wird es dennoch nicht geben. Putins Rating war schon im November unter 50% gesunken, als er und Medwedew den unter sich ausgehandelten Ämtertausch der Öffentlichkeit vorstellten. Der Versuch, über Druck auf die Dumawahl den Abwärtstrend der „Partei der Macht“ aufzuhalten, verwandelte sich in Massenproteste gegen das „System Putin“. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) hat ihre Stimmen fast verdoppelt, auch „Gerechtes Russland“ und die rechtsextreme Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR) von Wladimir Schirinowski haben Stimmen zugelegt. Die bisher unangefochtenen Macher der „gelenkten Demokratie“ sehen sich gezwungen, über neue Koalitionen in der Duma nachzudenken und Wege zur Integration der jetzt aufgebrochenen Proteste zu finden.
Dieses Ergebnis ist als ein dynamisches Signal für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen wie auch für die bevorstehende neue Legislaturperiode Rußlands zu verstehen. Es bedeutet, daß die russische Gesellschaft wieder in Bewegung kommt, nachdem sie in den letzten Jahren allen Liberalisierungsankündigungen Medwedews und auch Putins zum Trotz in den Fesseln der autoritären Modernisierung der Nach-Jelzin-Ära gefangen blieb.
Von „Arabellion“, „weißer Revolution“ und dergleichen zu reden, wie man es in westlicher und westlich orientierter Presse nach den Massenprotesten vom 10.12. 2011 lesen konnte, dürfte allerdings nicht nur verfrüht, sondern überhaupt sinnlos sein. Förderlicher als solche Spekulationen anzustellen, ist es zweifellos, die aktuellen Vorgänge im Detail zu analysieren und vor dem Hintergrund der langen Wellen der Perestroika anzuschauen.
Beginnen wir mit der Wahl: „Gefälscht“ wurde schon immer, das heißt, seit im nach-sowjetischen Rußland sog. freie Wahlen eingeführt wurden. Basis möglicher Einflußnahmen waren die traditionellen Kollektive, betriebliche, kommunale und dörfliche Strukturen, in denen politische Meinungsbildung und –äußerung noch immer unter patriarchaler Aufsicht stattfindet. Bei früheren Wahlen, in denen die „Partei der Macht“ sich im Aufwind befand, hat sich nur niemand außer den kleinen Parteien darum bekümmert. Ihre Klagen blieben ohne Widerhall in der Bevölkerung. Nach Umfragen russischer Meinungsforschungsinstitute, interessieren sich 56% der Bevölkerung ohnehin nicht für die Duma-Wahlen. Selbst bei politisch Interessierten galten die Wahlen zur Duma bisher als Vorgeplänkel zu der „eigentlichen“ Wahl, der Wahl des Präsidenten im darauf folgenden Frühjahr.
Solange Putins Rating bei 70% und mehr lag, waren die Unregelmäßigkeiten der früheren Wahlen für die Mehrheit der russischen Bevölkerung uninteressant. Das galt auch noch, als Putin vor vier Jahren Medwedew als seinen Nachfolger präsentierte. Die ganze Aktion hatte zu der Zeit, obwohl ungewöhnlich, sogar für Kritiker Putins etwas Beruhigendes, insofern er in ausdrücklicher Anerkennung der Verfassung auf eine dritte Amtszeit verzichtete, die er sich problemlos hätte verschaffen können. Der damalige Ämtertausch weckte im Gegenteil Hoffnungen auf neue Bewegung.
Angesichts der unvermittelten Verwandlung des damaligen Ämtertausches in einen ohne öffentliche Beteiligung vorgenommenen Rücktausch und angesichts der Tatsache, daß Putin schon vor den Wahlen mit neuer Programmatik (Stichwort „Eurasische Union“) als Quasi-Präsident zu handeln begann, also die Funktion des Präsidenten unter Umgehung des eingespielten Wahlrituals von Duma- und darauffolgender Präsidentenwahl faktisch usurpierte, bekam diese Duma-Wahl 2011 jedoch unvermutet einen anderen Stellenwert. Sie wurde zum Glaubwürdigkeitstest für Putin und die ihn tragende politische Infrastruktur der „Partei der Macht“: Würde er es wagen, an der Bevölkerung vorbei zu regieren?
Zusätzliche Bedeutung wuchs den diesjährigen Wahlen in Rußland durch die „bunten Revolutionen“ in den arabischen Ländern zu. Sie aktualisierten die Reihe der „bunten Revolutionen“, die sich alle an vermeintlichen oder tatsächlichen Wahlfälschungen entzündeten. Die letzte dieser Revolutionen, die „orangene“ in der Ukraine 2004 wirkte eindeutig und nachgewiesener Maßen als Instrument US-amerikanischer Intervention in den geopolitischen Raum hinein, den Rußland generell als seine Einflußsphäre definiert.
Eine Eurasische Union, die Putin jetzt zu seinem Programm erklärt hat, ist aber ohne die Ukraine nicht realisierbar. Hier sind die verdeckten Konfrontationslinien, die auch in die russische Innenpolitik hineinwirken, für jeden erkennbar deutlich gezogen. Putins Vorwürfe, vom Ausland her werde versucht, über die Wahl in Rußlands Innenpolitik einzugreifen, sind von hier aus zu beurteilen. Unter den genannten Umständen ist es selbstverständlich bemerkenswert, wie unterschiedlich die Wahlvorgänge in Rußland bewertet wurden: Die Wahlbeobachtungsorganisation „Golos“ kam zu dem Ergebnis, daß diese Wahlen „weder frei noch fair“ verlaufen seien. Das betrifft nach den Erhebungen von „Golos“ sowohl die Vorwahlzeit als auch die Wahlabläufe selbst. Zu einer differenzierteren Bewertung kam die Wahlbeobachtung der OSZE. Sie registrierte ebenfalls Verstöße, konstatierte aber einen im Vergleich zu früheren Wahlen „verbesserten“ rechtlichen Rahmen, erklärte, die Fernsehdebatten, hätten eine „ausgeglichene Plattform für alle Kandidaten zur Verfügung gestellt“ usw. Noch anders äußerten sich die Beobachtermissionen der GUS, die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), sowie eine Gruppe internationaler Beobachter, die – wenn man der Erklärung des russischen Außenministeriums, die zugleich eine Untersuchung der beobachteten Verstöße ankündigte, glauben will, „die Legitimität der stattgefundenen Wahl, ihre Anpassung an die Wahlstandards nicht infrage“ gestellt hätten.
Anzumerken ist noch, daß die tatsächlichen amtlichen Ergebnisse der Wahlen allen möglichen Manipulationen zum Trotz nur wenig von den Exit-Polls, also den am Wahltag selbst ermittelten Hochrechnungen abwichen. Hier die Daten zweier Institute zu den vier in die Duma gewählten Parteien: „Einiges Rußland“, Hochrechnung am Wahltag: 48,5% / 45,5% – amtliches Ergebnis: 49,47%; KPRF, Hochrechnung: 19,8% / 21,0% – amtlich: 19,17%; „Gerechtes Rußland“, Hochrechnung: 12,8% / 14,0% – amtlich: 13,22%; LDPR, Hochrechnung: 11,67% / 13,2% – amtlich: 11,67% Diese Zahlen beweisen selbstverständlich nicht, daß es keine Fälschungen gegeben habe; sie grenzen jedoch die faktischen Erfolge der vermuteten Fälschungen ziemlich eng ein.
Das tatsächliche Ausmaß der möglichen Verfälschung des gesamtrussischen Wählerwillens, heißt dies alles, ist nicht genau meßbar; es wird auch bei nachträglichen Auszählungen nicht meßbarer sein werden. Eine große Interpretationsbreite gibt es auch für die Bewertung der Maßstäbe, nach denen die unterschiedlichen Wahlbeobachtergruppen vorgegangen sind. Was tatsächlich bleibt, ist das Mißtrauen der Menschen gegenüber der herrschenden Macht, der zugetraut wird, die Wahlen manipulieren zu wollen. In diesem Mißtrauen liegt der eigentliche Zündstoff, für den die dokumentierten Unregelmäßigkeiten der Funke waren, der gereicht hat reicht, um die Menschen auf die Straße zu bringen.
Damit stellt sich die nächste Frage: Wer ging auf die Straße und mit welchen Zielen? Waren die, die da auf Moskaus Plätzen und an einigen anderen Orten demonstrierten, der Kern der russischen Zivilgesellschaft, wie es die westliche und westorientierte Berichterstattung darstellt? Und wenn, welchen Charakter hat dieser Kern?
50.000 Menschen wie aus dem Nichts durch das Internet und systemkritische Kleinstmedien mobilisiert, die gerechte Wahlen, ein Ende der Korruption, Meinungsfreiheit und generell eine Ende der „gelenkten Demokratie“ fordern – das läßt Vorstellungen einer außerparlamentarischen Opposition nach westlichem Muster aufkommen.
Bei genauem Hinsehen trübt sich dieses schöne Bild aber bedauerlicherweise: Zwar war das Gesamtbild der Züge von liberalen Forderungen nach Freiheit, nach Beendigung der Korruption, nach Rücktritt Putins bestimmt, das ist eine wichtige Botschaft für Rußland – aber Freiheit für wen, Gerechtigkeit für wen, Herrschaft für wen? Ersten Analysen westlicher Beobachter nach zu urteilen, veröffentlicht beispielsweise in den renommierten „Rußland Analysen“ (231 vom 16.12.2011), entstammte die Mehrzahl der Demonstranten der „neuen Mittelklasse“ Rußlands. Presse und Bildmedien war zu entnehmen, daß so gut wie keine sozialen Forderungen auf den Plakaten und Spruchbändern der Demonstranten getragen worden seien. Einheimische Moskauer Beobachter berichten, man habe keine Arbeiter auf dem Platz gesehen. Sie sprechen von einer Demonstration der Satten, also derer, deren Grundbedarf an Konsum gedeckt ist, die aber zum Konsum jetzt auch das Recht auf Selbstverwirklichung fordern. So wie auf Plakaten etwa zu lesen war: „Ich will mein Recht!“
Massenhaft zu sehen waren aber, neben den liberalen Forderungen, anti-kaukasische, nationalistische Parolen und Embleme rechter Gruppen. Das gibt zu denken, nicht zuletzt deshalb, weil auch die KPRF mit zu den Protesten aufgerufen hatte.
In den Mainstream-Medien wird diese Seite der Proteste nicht wahrgenommen. Ein kleines Schlaglicht auf das, was da verschwiegen wird, wirft jedoch ein Miniabsatz in einem ansonsten strikt Putin-kritischen Artikel der FAZ-Kommentatorin Kerstin Holm. In diesem Absatz berichtet sie, daß der „patriotische Journalist Maxim Schewtschenko“ in der Talksendung „Ehrlicher Montag“ Folgendes geäußert habe: „Er verurteile die Wahlfälschungen, habe (aber – d.V.) nicht mitdemonstriert, weil viele der auf dem Bolotnaja-Platz Versammelten die Kaukasus-Republik am liebsten loswerden und die Russische Föderation zerfallen lassen würden.“ (FAZ, 16.12.2011)
Einen besonderen Platz in der Geschichte der rechten Ausleger der Poteste, die noch viel genauer untersucht und dargestellt werden müssen, als das hier zur Zeit möglich ist, nimmt der Blogger Aleksei Nawalny ein. In den Medien wird es als einer der wichtigsten Organisatoren der Proteste und als Held der demokratischen Opposition gefeiert. Die „taz“ nannte ihn gar eine „neue Kultfigur der Opposition“. Aber bitte, dies wenigstens kurz: Im Oktober 2011, also in aktuellem Zusammenhang zu heute, trat derselbe Nawalny in Moskau als Teilnehmer des diesjährigen „russischen Marsches“ hervor, zu dem sich Rußlands anti.-kaukasische, nationalistische und offen faschistische Rechte seit Jahren zusammenrottet. Unter Losungen wie „Es reicht den Kaukasus zu füttern!“ hatte er selbst zu dem Marsch aufgerufen und dort geredet. In einem Video vergleicht er militante Kaukasier mit Kakerlaken, die anders als die Schabe nicht mit einer Fliegenklatsche oder einen Pantoffel, sondern nur mit einer Pistole zu bekämpfen seien. (Wikipedia und für Russischsprachige: http://www.youtube.com/watch?v=oVNJiO10SWw)
Nawalnys Rolle wirft auch die Frage nach den übrigen Organisatoren der Proteste auf. Diese Frage führt tief in das zerstrittene und zugleich um ihr gemeinsames politisches Überleben kämpfende Kader einer Opposition, die seit dem Niedergang der Liberalen am Ausgang der Jelzin Ära und nach deren endgültigem Ausscheiden aus der Duma in den Wahlen 2004 nur noch ein Ziel kennt: den Sturz Putins und die Wiedereinführung jener „Freiheiten“, die Putin nach Jelzin im Zuge der von ihm eingeleiteten restaurativen Stabilisierungspolitik abschaffte. Spitze Zungen sprechen daher von einer Versammlung politischer Bankrotteure, die nur eines verbinde, das Scheitern ihrer liberalen Konzeptionen und ihr Haß auf Putin, der den Liberalismus der Jelzin Ära stoppte; ein über die Putin-Feindschaft hinausführendes gemeinsames Programm gebe es nicht.
Treibende Kraft dieser Gruppe ist Solidarnost, ein Bündnis von Ultra-Liberalen, Ex-Funktionären der Jelzin- und früher Putin-Zeit, führend darin Boris Nemzow, Minister unter Jelzin, Michail Kassianow, Minister unter Putin, Garry Kasparow, ehemaliger Schachweltmeister, der sich den Sturz Putins zum Lebensziel gesetzt hat. Sie agieren in einem Umfeld von in den Medien so genannten „heterogenen Kräften“. Deren Einzugsbereich reicht von linksradikalen und anarchistischen Putinfeinden, teils durchaus ehrbaren Leuten der menschenrechtlerischen und früheren dissidentischen Szenen, über die verbotenen National-Bolschewisten um Eduard Limonow bis weit in den nationalen rechtsliberalen bis rechtsradikalen Sumpf. Die meisten Personen dieser Szene sind aus dem „Marsch der Unzufriedenen“ (zwischen 2005 und 2007 mehrfach wiederholt) und dem 2008 aus dieser Gruppe heraus gegründeten „Komitee für freie Wahlen 2008“ sattsam bekannt.
Dies alles läßt sich übrigens, nicht anders als weitere Daten zu Nawalny, in Wikipedia, Facebook und Youtube Name für Name mit allen nötigen Verweisen auf das Netz der „heterogenen“ Freunde anhören, anschauen und nachlesen bis hin zu dem Hinweis Nemzows, die Revolution in Rußland werde nicht orange, sondern braun sein.
In die herrschende Berichterstattung zu den gegenwärtigen Protesten finden diese Informationen und Tatsachen bezeichnenderweise keinen Eingang.
Bleibt am Ende die Frage, ob aus den aktuellen Protesten eine allgemeine Bewegung hervorgehen werde und was daraus für die Zukunft Rußlands folgen könnte. Die Frage muß in doppelter Weise beantwortet werden: Zunächst Nein – es ist nicht zu erwarten, daß sich die Mehrheit der Bevölkerung mit den Protesten verbindet, auch wenn es jetzt noch weitere Demonstrationen zur Wahl geben wird. Der Liberalismus der Jelzintage ist nicht rückholbar; zu tief sitzt noch der Schock der sozialen und politischen Desintegration jener Zeit. Zu tief ist inzwischen auch, trotz relativer Stabilisierung unter Putin und Medwedew, die Spaltung zwischen den besser verdienenden und angenehmer lebenden Teilen der Bevölkerung und jenen, die noch immer damit beschäftigt sind, ihren Lebensstandard über der Armutsgrenze zu halten. Für die Mehrheit der russischen Bevölkerung steht die soziale Frage immer noch vor der politischen, das heißt, für sie ist soziale Sicherheit wichtiger als formale Freiheit. Anders und genauer gesagt: Für sie ist soziale Sicherheit Voraussetzung für ihre Freiheit.
Andererseits ist eine Generation von gut verdienenden Städtern und deren Kindern herangewachsen, die die Not der Transformationszeit schon nicht mehr kennen oder gar nicht erst kennengelernt haben. Ihnen reicht die relative Stabilität der Putinschen Restauration als Lebensperspektive nicht mehr aus, mehr noch und sehr problematisch, sie sehen ihren relativen Wohlstand durch Einwanderer aus den ärmeren Teilen der Föderation, aus dem Kaukasusus, aus Zentralasien sowie generell aus Süden und aus dem Osten bedroht.
Hier deutet sich eine politische Bewegung an, die bereit sein könnte, im Namen der Freiheit die eigenen Privilegien gegen ärmere Teile der Gesellschaft und vor allem gegen Einwanderer zu verteidigen. Beispiele für solche Verwandlungen des Liberalismus in eine fremdenfeindliche, rassistische, antiliberale Kraft sind aus Europa bereits bekannt. Diese Tendenz könnte auch Rußland erreichen.
Das vorsichtige Agieren der Staatsmacht gegenüber den Protesten vom 10.12.2011, die Signale Putins und Medwedews, man sei bereit zu neuen Koalitionen, die öffentlich geäußerten Überlegungen des Kreml-Ideologen Surkow, man brauche eine liberale Partei lassen erkennen, daß die herrschenden Kreise Rußlands die Gefahr des Auseinanderdriftens der Gesellschaft erkannt haben, wenn es ihnen nicht gelingt, die Proteste in einen neuen gesellschaftlichen Konsens zu integrieren. Der mag nationaler oder liberaler ausgerichtet sein als zur Zeit, eins aber ist unübersehbar: Die Zeiten, in denen es möglich war, von oben einen Blitzableiter zu installieren, an dem Proteste oder Alternativen sich totlaufen, sind mit Sicherheit vorbei, auch wenn die aktuellen Proteste vorläufig wieder abebben sollten.
Wer immer im Frühjahr 2012 Präsident werden wird, muß eine echte Integrationsleistung auf den Weg zu bringen. Recht verstanden, liegt darin Rußlands einzige Chance.
Kai Ehlers