Tschuwaschisches Epos: „Ylttanbik – der letzte Zar der Bolgaren – Verschiebung der Mitte der Welt im Mongolensturm des 13. Jahrhunderts“ “ ist angekommen

Kai Ehlers (Hrsg.)
Ylttanbik – letzter Zar der Wolgabolgaren (Tschuwaschisches Epos).
Verschiebung der Mitte der Welt im Mongolensturm des 13. Jahrhunderts
Zusammengetragen von Mischi Juchma. Ins Deutsche übertragen und herausgegeben von Kai Ehlers. In Zusammenarbeit mit Christoph Sträßner und Eike Seidel.
1. Aufl. 2016, 392 Seiten, Format B5, Hardcover, ISBN 978-3-944101-25-5, Preis: 39,80 Euro, Rhombos-Verlag, Berlin, 15. Januar 2016

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Das Buch
Migration ist das Thema unserer Zeit.. Migration war auch das Thema des 13. Jahrhunderts, von der das Epos berichtet, das in diesem Buch vorgestellt wird. Erzählt wird die Geschichte von Ylttanbik. Er war der letzte Zar des Bolgarischen Reiches, einer für die damalige Zeit hochentwickelten Gesellschaft im Gebiet zwischen Ural und Kaspischem Meer. Das Reich unterhielt intensive Beziehungen des Handels und der Diplomatie mit allen Fürstenhäusern im damaligen europäischen Raum und verstand sich darüber hinaus als Teil des islamischen Kulturraumes, der zu der Zeit als der Mittelpunkt der Welt galt. Gegen das Bolgarische Reich richtete sich der erste Stoß der mongolischen Eroberer auf ihrem Weg nach Westen. Dreißig Jahre vermochte das Reich dem Ansturm aus eigener Kraft zu widerstehen. Mit seiner Zerstörung war der Weg für die mongolischen Eroberer nach Westen frei. Nach dem Fall des Reiches erlagen die vereinigten westlichen Heere ebenfalls der mongolischen Übermacht. Aber statt Europa zu besetzen, wandten die Eroberer sich nach Süden, wo sie das Bagdader Kalifat zerschlugen. So konnte Westeuropa zu dem aufsteigen, was es heute ist, während der muslimische Kulturraum zurückblieb und der Osten Europas für lange Zeit unter mongolische Herrschaft kam. Warum die Eroberer sich dem Süden zuwandten statt den Westen Europas zu besetzen, und wie sich die Mitte der Welt dadurch verschob, wird in ausführlichen begleitenden Kommentaren dieses Buches beleuchtet.

Vorwort
Das tschuwaschische Original „Ylttanbik“ wurde zusammengetragen und herausgegeben von Michail Juchma, tschuwaschischer Volksschriftsteller. Eine wortgetreue Rohübersetzung des tschuwaschischen Originals aus dem Tschuwaschischen ins Deutsche erstellte Tatjana Philippowa Nikolajewna, Studentin der Germanistik in Tscheboksary/Tschuwaschien. Eine russische Übersetzung, von Michail Juchma autorisiert, erstellte Wladimir Nikolaew in Tscheboksary. Aus dem Russischen ins Deutsche wurde der Text von Kai Ehlers und Christoph Sträßner übersetzt. Die Zusammenführung der tschuwaschischen Rohübersetzung und der russischen Fassung ins Deutsche und die endgültige Form der deutschsprachigen Ausgabe des Epos, der Kommentare, der Anmerkungen und der Bebilderung besorgte Kai Ehlers. Historische Hintergründe lieferten Christoph Sträßner und Eike Seidel, soweit sie nicht aus Schriften von Michail Juchma entnommen werden konnten.

Einleitung
Liebe Leserinnen, lieber Leser
In dem Buch, das Sie jetzt zur Hand genommen haben, wird ihnen das Epos von Ylttanbik, dem letzten Zaren der Bolgaren, erzählt. Zeitrahmen 1223 – 1236 nach Christi Geburt.
Erzählt wird aus der Sicht der Tschuwaschen, die sich als Nachkommen der Bolgaren sehen. Die Tschuwaschen leben in einer nach ihnen benannten autonomen Republik der Russischen Föderation an der Wolga mit der Hauptstadt Tscheboksary. Sie sprechen neben dem Russischen auch heute ihre eigene Sprache. Für sie ist der Untergang Bolgarstans Teil ihrer eigenen Geschichte; geschichtsbewußte Menschen unter ihnen nennen sich deswegen auch Bolgar-Tschuwaschen oder Tschuwasch-Bolgaren.
Die Legende von Ylttanbik ist ein Erzählstoff, der bis ins 19. Jahrhundert hinein mündlich von tschuwaschischen Legendenerzählern überliefert und erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts von Michail Juchma, „Tschuwaschischer Nationaldichter“, der sein Leben der Bewahrung der tschuwaschischen Kultur geweiht hat, verschriftlicht wurde.
Zu Stalins Zeiten waren solche Aktivitäten verboten und nicht wenige Menschen, die es wagten, sich mit ihnen zu befassen, erlitten Verfolgung und sogar den Tod. Auch nach Stalins Tod stand die Befassung mit Fragen der kulturellen Selbstbesinnung „kleinerer Völker“ in der Sowjetunion immer noch unter dem Generalverdacht des Nationalismus.
Heute, nach Perestroika, steht der Pflege der eigenen Kultur nur noch die Tatsache entgegen, dass sie bei den Nachkommenden in Vergessenheit geraten könnte. Dass das Epos von Legenden- und Märchenerzählern überliefert wurde, heißt jedoch nicht etwa, dass es sich bei dem Epos nur um Märchen handelt. Das Epos überliefert vielmehr tatsächliche historische Vorgänge, konkret die Ereignisse beim Einfall der Mongolen in den Westen Eurasiens am Anfang des 13. Jahrhunderts.
Erzählt wird die ins Mythische verdichtete Geschichte des Kampfes, den die Wolgabolgaren gegen die von Osten heranstürmenden mongolischen Eroberer führten – also, um es von der weltgeschichtlichen Bedeutung her zu sagen, erzählt wird, wie die zweite Welle nomadischer Völkerbewegungen Eurasiens, die des 13. Jahrhunderts, auf die erste, die hunnische aus dem vierten und fünften Jahrhundert prallt, die zu der Zeit bei Beibehaltung vieler nomadischer Traditionen, schon längst in Ackerbau und Städtebildung ausgelaufen war.
In der tschuwaschischen Geschichte treffen sich diese beiden Bewegungen – mongolische Reiterheere gegen sesshaft gewordene Nachkommen der Hunnen, Steppennomaden gegen Reichsnomaden, im Kern also Verwandte.
Gern wird in der Geschichtswissenschaft deshalb von hunnischer und mongolischer Völkerwanderung gleichermaßen gesprochen, obwohl sich beide Bewegungen im Wesen sehr unterscheiden. Die eine, die hunnische, vollzog sich als spontaner Prozess eruptiver Expansion mit der wenige Jahre währenden Herrschaft Attilas als kurzfristige Krönung, die andere war als systematischer militärischer und politischer Eroberungsfeldzug mit dem Ziel einer Weltherrschaft angelegt, die sich, mit Differenzierungen in Teilreichen, über einen Zeitraum von mehreren hundert Jahren hielt. Mit Erstaunen kann man hören, wie die Nachkommen der einen von dem als Held verehrten Führer der jeweils anderen Seite – Attila hier, Dschingis Khan da – noch heute als Verbrecher, Henker oder Völkermörder sprechen.
„Ylttanbik“ ist das zweite tschuwaschische Epos neben dem anderen, früheren unter dem Namen „Attil und Krimkilte“, das vom tschuwaschischen Kulturzentrum veröffentlich wurde und das auch in deutscher Sprache bereits vorliegt.1 Im Epos „Attil und Krimkilte“ wird der Gründungsmythos des Bolgarischen Staates aus der Zeit der Hunnenstürme erzählt, als Teile der hunnischen Völkerschaften, unter ihnen die Bolgaren, die nach Attilas Tod aus dem westlichen Europa zurückfluteten und sich zunächst an der Donau, nach der Teilung des Donabulgarischen Reiches dann auch an der Wolga als Wolgabolgaren ansiedelten – zu beachten: Bulgaren die einen, Bolgaren die anderen.2 Der Zusammenstoß zwischen den Nachkommen der hunnischen Völkerbewegungen des 4. und 5. Jahrhunderts und der von den Mongolen im 13. Jahrhundert angetriebenen Bewegung endete mit der Zerschlagung des Wolgabolgarischen Reiches. Er öffnete den Mongolen den Weg in den Westen, ins heutige Russland und in die Ukraine und von dort in den muslimischen Kulturraum im Süden, wo sie Bagdad in Flammen aufgehen ließen. Für die Bolgaren führte er zu ihrer Integration ins russische Imperium.
Das Epos beschreibt diesen Übergang an der Gestalt Ylttanbiks. In der Gestalt Ylttanbiks verkörpern sich die damaligen Tugenden eines Reiches zwischen Ural und Kaspischem Meer, das sich in seiner Lage zwischen Ost und West, zwischen den Nordländern und in enger Verbindung zum islamischen Kulturraum, wie es Ylttanbik im Epos in den Mund gelegt wird, selbst als „Mitte der Welt“ verstand. Nach der Zerschlagung Bolgariens und der darauf folgenden Eroberung Kiews, der sich daran anschließenden Zerstörung Bagdads verschob sich diese Mitte nach Europa, das trotz der Niederlage der vereinten europäischen Kräfte in der Schlacht bei Liegnitz 1241 von den mongolischen Eroberern nicht besetzt wurde. In der Folge dieser Ereignisse konnte Europa sich zur neuen Mitte der Welt entwickeln, entstand ein abgetrenntes Moskowien, das spätere Russland, das seinen eigenen Weg nach Osten suchte, auf dem es das vorherige Bolgarien wie auch andere Völkerschaften unwiederbringlich absorbierte; der muslimische Kulturraum dagegen stagnierte. Er konnte, auch wenn er unter den Osmanen wieder auflebte, seine frühere Blüte nicht wieder erreichen.
Es stellt sich die Frage: Welche Rolle die mongolische Expansion am Anfang des 13. Jahrhunderts für den Niedergang der mittelalterlichen islamischen Kultur, für den Aufstieg der westlichen Zivilisation und für die Entstehung von Russland gespielt hat. Anders gefragt: Was war der Grund für die Teilung des Eurasischen Kontinentes in Europa als „Westen“ und als sich herausbildende neue „Mitte der Welt“ auf der einen und den verbleibenden Teil Eurasiens als „Osten“ auf der anderen Seite? Der Osten ging ja unter dem Stichwort des Sammelns der russischen Erde einen vom westlichen Europa getrennten Weg einer ganz eigenen Kolonisation. Wie ging das vor sich – und schließlich, aber nicht zuletzt: kann diese Teilung der Welt heute überwunden werden – oder wird sie in einer erneuten, dieses Mal globalen Völkerbewegung einfach fortgespült werden?
Es war Wolgabolgarien, das nach dem Tod Attilas und dem Rückzug der hunnischen Völker zum stärksten Reich im Gebiet zwischen Wolga, Ural und kaspischem Meer anwuchs. Wolgabolgarien war stark verbunden mit dem Kalifat von Bagdad, der Hauptstadt des islamischen Imperiums, das sich – nach Mohammed – zur führenden Kultur in der westlichen Hemisphäre jener Zeit entwickelt hatte. Wer sich dem damaligen Wolgabolgarien nähert, wird finden, dass nicht die Russen die erste Welle der mongolischen Eroberer stoppten, wie im gängigen westlichen, von den Russen gezeichneten Geschichtsbild verankert, sondern die Bolgaren, nachdem die Russen an der Kalka bereits vernichtend von den Mongolen geschlagen worden waren.
Am interessantesten ist die Tatsache, dass es nur einen sehr kurzen Zeitabschnitt gibt, eine Art Korridor am Eingang zum 13. Jahrhundert, in dem sich nicht nur die zukünftige Entwicklung Eurasiens, sondern die unserer Welt als Ganzes entschied: Der Korridor beginnt mit der Niederlage der Russen an der Kalka 1223, setzt sich fort in dem zwölfjährigen blutigen Krieg zwischen Mongolen und Bolgaren von 1224, in dem die Bolgaren den mongolischen Eroberern Widerstand leisteten. Er endete mit der völligen Zerstörung des Bolgarischen Reiches 1236, das für die Mongolen eine Art Pfropfen im Flaschenhals auf ihrem Weg in den Westen war. Erst jetzt konnten die mongolischen Truppen weiter nach Westen ziehen. 1241 schlugen sie bei Liegnitz die westlichen Heere, 1258 zerstörten sie Bagdad.
Warum dies? Warum besetzten die mongolischen Eroberer nach der Schlacht bei Liegnitz den Westen Europas nicht, obwohl nach der katastrophalen Niederlage der westlichen Heere das west-europäische Gebiet vollkommen schutzlos vor ihnen lag? Die Mehrheit der westlichen Historiker spricht von einem Rätsel, das nicht erklärt werden könne. Die herrschende Meinung ist bis heute, dass die mongolischen Heerführer wegen des Todes ihres höchsten Khans nach Karakorum hätten zurückkehren müssen. – Das klingt plausibel, weil Herrschaftsfragen bei den Mongolen durch Akklamation im Großen Kurultai3 entschieden wurden. Blicke auf die Geschichte Wolgabolgariens lassen jedoch einen weiteren möglichen Grund erkennen, der nicht alternativ zu dem schon genannten stehen muss: Gegen 1240/41 ging die Bevölkerung Wolgabolgariens noch einmal in einen Aufstand gegen die mongolische Fremdherrschaft, nachdem sie schon in den Jahren davor den Partisanenkrieg gegen die Fremdherrschaft entwickelt hatte. Das bedeutete, dass die mongolischen Truppen, wenn sie über Liegnitz hinaus vorgerückt wären, von ihrem Hinterland hätten abgeschnitten werden können. So mögen denn die mongolischen Führer sich auch aus diesem Grunde zum Rückzug entschieden haben, um den Aufstand niederzuschlagen und im nächsten Schritt dann vorgezogen haben, Bagdad zu erobern und niederzubrennen, das ein „engerer“ Feind für sie war als die damaligen Gebiete des heutigen Europa.
Es gibt zu diesen Vorgängen einige neuere archäologische Funde in der Nähe Pensas im heutigen Süden Zentralrusslands aus dem Zeitraum 1237 – 1241 über blutige Schlachten zwischen Mongolen und dem bolgarischen Widerstand, die zu berücksichtigen sind. Darüber berichtet Michail Juchma im dritten Teil dieses Buches. Zu berücksichtigen ist auch die Tatsache, dass es den Mongolen offenbar wichtiger schien, die hochentwickelten islamischen Länder zu unterwerfen, als das gering entwickelte Europa. Schließlich ging es auch um Beute, und davon war in den hochentwickelten Kulturen des muslimischen Raumes damals wesentlich mehr zu holen als in den gering entwickelten westlichen Fürstentümern.
Sagen wir es so: Die Ereignisse rund um die beiden Daten – 1241 Liegnitz und 1258 Bagdad – veränderten die Beziehungen zwischen Ost und West fundamental: Niedergang des islamischen Kulturraums, Aufstieg Europas: Europa übernahm tendenziell den Platz des Kalifates als neuer globaler Hegemon, Russland wurde zur Grenze zwischen Osten und Westen. Die Mitte der Welt wanderte vom Zentrum Eurasiens an seinen äußersten westlichen Rand. Von dort aus wurde, nach dem Einbruch der großen Pest, die den globalen Verwüstungen am Eingang des 13. Jahrhunderts folgte, in den kommenden Jahrhunderten die gesamte Welt bis auf die Völker Eurasiens kolonisiert, die sich mit Moskau zu einem eurasischen Vielvölkerorganismus verbanden. Stellvertretend für diese Verbindung steht der „Gang nach Moskau“4, mit dem sich die tschuwaschischen Nachfahren der Bolgaren im 16. Jahrhundert „auf ewig“ mit Moskau verbanden.5
Und heute? Es scheinen lange Wellen der Geschichte zu wirken, was besser zu verstehen sein kann, wenn wir untersuchen, wenn wir begreifen, was der Ursprung der früheren Wellen war – Hunnensturm, Mongolensturm – wie sie aufeinander folgten und – nicht zuletzt – in welcher Weise sie in der Erinnerung der Völker gegenwärtig sind.
Zu ergänzen ist selbstverständlich, dass die Wandlungen im 13. Jahrhundert nicht nur als Ergebnis der mongolischen Invasion zu verstehen sind! Es gab weiter und tiefer zurückliegende Gründe, die diese Entwicklung möglich machten: die Nachwirkung des Zerfalls des Römischen Reiches in Ost-und West-Rom, die Herausbildung der muslimischen „Umma“ seit dem siebten Jahrhundert als neue einigende Weltmacht, dem gegenüber die Spaltung der christlichen Ökomene in Ost- und Westkirche, generell gesprochen, die Herausbildung eines muslimischen Einheitsanspruches zum einen, einer sich differenzierenden und individualisierenden, tendenziell nationale Eigenheiten herausbildenden christlichen Welt zum anderen. Mit der Zerstörung Wolgabolgariens und Kiews zugleich konnte Moskowien sich als Puffer, als Alternative, als Ordnungsnacht ganz besonderer Art zwischen dem mongolischen Großreich und dem westlichen Europa entwickeln.
Diese und noch eine Menge weiterer Tendenzen hatten sich herausgebildet. Sie müssen bedacht werden, wenn man verstehen will, warum und wie die Teilung des Eurasischen Kontinentes in ein westliches Europa und den „verbleibenden Rest“ nach dem Sturm der Mongolen stattfand. So oder so aber steht als Tatsache zweifelsfrei fest: Hätten die mongolischen Eroberer n i c h t erst Wolgabolgarien zerstört, hätten sie n i c h t Europa von einer Besetzung ausgespart und stattdessen zugleich Bagdad zerstört, dann hätte die innere Dynamik des Eurasischen Kontinentes einen sehr anderen Weg genommen. Und das bedeutet, dass sie in Zukunft auch wieder einen anderen Weg nehmen kann.
Alle diese Ereignisse und Tendenzen, die mit der Konfrontation der Kinder Attilas und den mongolischen Eroberern im 13. Jahrhundert zusammenhängen, können an der epischen Erzählung über den letzten Zaren Bolgariens gezeigt werden. Man könnte sagen, der Untergang Bolgariens ist das historische Opfer auf dem Weg zur Entstehung der europäisch dominierten Weltordnung. Hätten die Bolgaren dem Ansturm widerstanden, hätte der Freundschaftsvertrag, mit den westlichen Völkern, vor allem den russischen, aber auch den muslimischen „auf ewig“ Bestand gehabt, wie er in dem Epos beschworen wird … aber er hat es nicht. Die Geschichte ist anders verlaufen.
Wie auch immer – für die Tschuwaschen ist das Epos ein Teil ihrer Geschichte, für Russland ist es ein Teil seiner Völkervielfalt, für Muslime eine Erinnerung an frühere Größe ihrer Kultur. Für westliche Leserinnen und Leser kann es eine Gelegenheit sein, die dritte große Völkerbewegung unserer Menschheitsgeschichte, die sich heute in der weltweiten Migrationsbewegung ankündigt, unter der Frage zu betrachten, wohin sich die Mitte der Erde heute verschiebt. Oder anders gefragt, ob es nicht in Zukunft mehrere „Mitten“ geben könnte, die auf andere Art als in der traditionellen Hackordnung miteinander leben könnten.
Und noch etwas schließlich: Auch wenn in den Gesängen des Epos Krieg und Schlachten geschildert, wenn Schwerter und Helden gepriesen werden, ist es doch nicht als Aufforderung zu militaristischem Heldentum zu verstehen. Es ist vielmehr eine Tragödie, die zeigt, wie schwer es ist in Frieden zu leben und die zum friedlichen Miteinander auffordert.
Wichtig erschien es deswegen auch, nicht nur die kriegerischen Fanfaren des Epos ertönen zu lassen, sondern auch die Hintergründe der Zeit auszuleuchten – einschließlich der mongolischen Seite. Ohne miteinander in einen offenen Dialog um die Geschichte zu gehen, wird es keine Heilung historischer Traumata und keinen Dialog für eine gemeinsame menschenwürdige Zukunft geben können. Davon sind alle, die am Zustandekommen des vorliegenden Buches beteiligt waren, zutiefst überzeugt.
Zum Abschluss noch ein paar Hinweise zur Übertragung des Epos in die deutsche Sprache:
Zur Übersetzung lagen zwei Varianten vor – eine tschuwaschische aus dem Jahre 1992 und eine danach veröffentlichte russische. Wir haben uns entschieden, die zuerst verschriftlichte tschuwaschische Variante als „Original“ zu betrachten – und sie durch den einen oder anderen schönen Satz aus der später veröffentlichten russischen Fassung zu ergänzen. Im Grunde stellt sich die Frage des Originals ohnehin nicht. Im Kern erzählen beide Varianten den gleichen Stoff. Sie unterscheiden sich in Details der Darstellung, wie es in der mündlichen Überlieferung von Generationen unermüdlicher Legendenerzähler in den tschuwaschischen Dörfern nicht anders war. Das schließt die Form mit ein, die der Sänger Jemendei dem epischen Gesang im 19. Jahrhundert schließlich gab und auch das, was der tschuwaschische Schriftsteller Michail Juchma, darin den deutschen Brüdern Grimm vergleichbar, in der Erforschung der Überlieferungen jetzt schriftlich zusammenstellen konnte.
Und so haben wir, Entdecker des Epos, Übersetzer, Historiker und Herausgeber uns auch bemüht, die Form zu finden, die dem Stoff authentisch gerecht wird und zugleich auch im Deutschen der lebendigen Gesangsform am nächsten bleibt. Das betrifft die gelegentliche Vermischung von Erzählung und Kommentar durch die – im Lauf der Überlieferung mehrfach gestaffelten – Erzählerinnen und Erzähler, das betrifft die häufig unvermittelten Einfügungen von Sinnsprüchen in den Verlauf der Handlung, das betrifft die sprunghaften Zeitenwechsel, die ihren Sinn aus der Vortragssituation finden und das gilt besonders für die Hochzeitslieder, die sich dem übrigen Textverlauf nicht ohne Weiteres einfügen wollen, wenn dort Brautführer auftreten, die von weither geritten kommen, um die Braut abzuholen, das heißt, die Braut in den Stamm des Bräutigams holen wollen, während im Handlungsfaden des Epos Braut und Bräutigam doch aus demselben Hause kommen – vom Hof Ylttanbiks. Hier geht die epische Erzählung ganz offensichtlich in eine ritualisierte Beschreibung eines traditionellen Hochzeitsablaufes über…
All dies versuchen wir in der Lebendigkeit weiterzugeben, wie sie sich in hunderten von Jahren als Erzählfluss gebildet hat. Dabei haben wir darauf verzichtet, die strenge Form der Stab- und Endreime zu imitieren, in der die tschuwaschische, aber auch die russische Fassung gehalten ist. Wir haben stattdessen eine Sprache gewählt, die es erlaubt, die im Tschuwaschischen wie auch im Russischen sehr viel knapperen Sprachfiguren so wiederzugeben, dass die Sprache inhaltlich rhythmisiert wird, dabei aber so nah wie möglich an den vorgegebenen Inhalten, Redewendungen und Bildern bleibt. Nur allzu fremde Bilder haben wir „übersetzt“, nur gröbste Unstimmigkeiten, die allzu sehr irritieren könnten, haben wir geglättet oder, wenn unvermeidbar, mit Anmerkungen kommentiert.
Eine Erklärung braucht schließlich noch unser Umgang mit der Selbstbezeichnung der heutigen Tschuwaschen als Tschuwaschen-Bolgaren oder auch umgekehrt der historischen Bolgaren als Bolgar-Tschuwaschen. Im tschuwaschischen Original ebenso wie in seiner russischen Fassung ist durchgängig von Tschuwaschen-Bolgaren die Rede; wir haben uns entschieden, wo es möglich ist, bei den historischen Namen zu bleiben, um den Übergang von der bolgarischen Geschichte zu deren Fortsetzung als tschuwaschische nicht zu verwischen. Es kann nur der Klarheit dienen.
Kai Ehlers

Herausgeber und Autoren
Michail Juchma
(nach eigenen Angaben)
Michail Nikolajewitsch Juchma wurde 1936 im Dorf Suguty im Bezirk von Batiresko in der tschuwaschischen Republik der russischen Föderation geboren. Er studierte Literatur- und Theaterwissenschaft. Seine ersten Veröffentlichungen erschienen im Jahre 1962, 1964 wurde er in den Verband der Schriftsteller aufgenommen. Seit 1993 trägt er den Ehrentitel eines „tschuwaschischen Volksschriftstellers“. Juchma ist Wissenschaftler, Aufklärer und ein Mann der Öffentlichkeit. Er hat über zweihundert Werke verfasst, darunter Prosa, Gedichte, Dramaturgie, publizistische Beiträge, sowie grundlegende Forschungsarbeiten zur alten und mittelalterlichen Geschichte des bolgar-tschuwaschischen Volkes. Werke von Juchma wurden in einige Dutzend Sprachen übersetzt, teilweise auch in Lehrbücher (in das Schulprogramm) der Länder Asiens, Europas und Afrikas aufgenommen. In allen seinen Werken ist M.N. Juchma als einfühlsamer Lyriker, Kulturliebhaber und Kenner der Psychologie, als Philosoph, Denker und Maler präsent.
M.N. Juchma wurde mit zahlreichen sowjetischen, russischen sowie internationalen Auszeichnungen und Preisen geehrt Für sein Engagement um die Wiedergeburt der Kultur der kleinen Völker erhielt er einen Internationalen Preis sowie die goldene UNO-Medaille. 2006 erhielt er eine weitere Auszeichnung für Verdienste um die tschuwaschische Republik, 2009 wurde M.N. Juchma mit dem internationalen M. A. Scholochow – Kunst- und Literaturpreis ausgezeichnet.
M. N. Juchma ist der Gründer und Präsident des tschuwaschischen Kulturzentrums und der tschuwaschischen Abteilung der Internationalen Akademie für Informatisierung. Außerdem leitet er den Vorsitz des Schriftstellerverbandes der tschuwaschischen Republik.
Adresse:

Mischi Juchma
c/o Tschuwaschisches Kulturzentrum
(ЧОКЦ – Чувашский общественно-культурный центр)
(Chuvashskiy obschestvenno-kul‘turnyy centr.)
428032 Russland, Tschuwaschische Republik
Tscheboksary, Ulitza Leningradskaja 16
Website des Tschuwaschischen Kulturzentrums: http://chokc.blogspot.ru/

Kai Ehlers, 1944, Hamburg, aktiv in der außerparlamentarischen Opposition und der nachfolgenden neuen Linken Westdeutschlands, ist selbstständiger Forscher, Publizist und Buchautor. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt heute auf den Wandlungen im nachsowjetischen Raum und deren lokalen wie auch globalen Folgen, denen er durch Untersuchungen, Gespräche und Aktivitäten vor Ort nachgeht. Mit Mischi Juchma, dem tschuwaschischen Kulturzentrum und dessen Umkreis verbindet ihn eine intensive langjährige Freundschaft. In Deutschland engagiert Kai Ehlers sich in der Debatte um gesellschaftliche Alternativen, in der es ihm darum geht, die Erfahrungen der nach-sowjetischen Transformation zukunftsbildend zu verarbeiten. (Bücher, Projekte, Veröffentlichungen von Kai Ehlers unter: http://kai-ehlers.de/ ; E-Mail: info@kai-ehlers.de)

Eike Andreas Seidel, geboren 1949. Ab Herbst 2015 im Unruhestand als IT-Berater.
Jugendbewegung, Alt-68er, ehemals Mitglied im Kommunistischen Bund, Mitarbeiter der Zeitung „Arbeiterkampf“ (Heute: „Analyse und Kritik“). Mitverfasser mehrerer Bücher und Broschüren zum Thema Neofaschismus in Deutschland.
Seit 1999 insgesamt neun Reisen in die Mongolei; Betreibt mit seiner Frau eine Webseite: www.munx-tenger.de zur Mongolei. Engagiert in Fragen der Umweltzerstörung in der Mongolei. Mehrere Veröffentlichungen zu mongolischen Themen (Jugendbewegung und Mongolei, „Die Dreiheit der Welt“ – mongolische Spruchweisheiten, „25 Jahre als Tierarzt in der Mongolei“ – Die Lebenserinnerungen von Dr. Helmut Splisteser). Eike Seidel lebt in Buchholz in der Nordheide.

Christoph Sträßner, geboren 1967 in München, lebt heute in Hamburg. Studium der Geschichte, Slawistik und Politologie an der Universität Bonn, Abschluss als Magister 2003, Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte Nowgorods, der Völker Russlands und Zentralasiens, sowie in der des europäischen Mittelalters mit besonderem Schwerpunkt auf Kultur- und Religionsgeschichte, Ihn interessiert, der Kulturimpuls Eurasiens und wohin er treibt ebenso wie die Sagen der Völkerwanderungszeit und des Mittelalters. Im Mittelpunkt steht für ihn dabei die Frage, welchen Beitrag die kleinen Völker zur Kultur und Geschichte Russlands und zum Kulturimpuls Eurasiens leisten. Heute ist Christoph Sträßner in Hamburg als Antiquar und Referent tätig.
Kontakt: Christoph Sträßner, christoph.straessner@web.de

Inhaltsverzeichnis
Einführung 7
Teil 1 Das Epos 17
Kurzer Überblick über die Gesänge des Epos 19
Das Epos „Ylttanbik“ – in 15 Gesängen 21
Teil II Das Umfeld des Epos 141
Erbe aus alten Zeiten – historische Realitäten des Epos
Von Michail Juchma 145
Ylttanbik – Ein bolgarischer Tschuwasche?
Historische Forschungen von Michael Juchma, eingeleitet von Kai Ehlers 159
Tschuwasch-Bator
Von Michail Juchma 161
Die Grenzen Bolgariens
Von Michail Juchma 169
Archäologischer Nachtrag: Funde bei Pensa
Von Michail Juchma 173
Teil III Das 13. Jahrhundert 177
Das „goldene Bolgarien“
Von Michail Juchma 179
Das Reich der Bolgaren an der Wolga und die Mitte der Welt
Von Christoph Sträßner 185
Der Mongolensturm aus Sicht der Mongolen
Von Eike Seidel 194
Anmerkungen 211
Literatur 221
Namensregister 225
Kleiner Anhang zu tschuwaschischen Göttern 230
Ausstellung von Sandskulpturen 231
Daten zum 13. Jahrhundert 238
Abbildungsverzeichnis 243
Biographisches zu Michail Juchma 245
Dokumentation des tschuwaschischen Originals 251