» Von der Pyramide zur modernen Ikone «
Für die frühen matriarchalen Kulturen war das Labyrinth das Zeichen der Wiedergeburt. In seinen Bahnen wurden die Mysterien der Jahreskreisläufe begangen. Dieses Wissen ist uns heute leider weitgehend verstellt: Aus dem Wegweiser wurde der Irrgarten, aus dem Weg der Irrweg, aus dem Schlüssel das Schloß, zu dem kein Schlüssel mehr paßt.
Für uns kann das Labyrinth heute ein Schlüssel sein, der hilft, den Weg aus dem aktuellen Chaos in die Neuordnung unserer globalen Gemeinschaft bewußt, rational und lebendig zu finden.
Labyrinth versus Kreuz,
Pyramide und männliche Vernunft
Das Labyrinth kennt keinen Kreuzweg. Das Labyrinth entspringt dem Tanz, der sich aus den rituellen Wiedergeburtskulten der frühen matriarchalen Ackerbau-Gesellschaften entwickelte. Dafür typisch: Altpersien, Indusgebiet, Mesopotamien, Alt-Ägypten, schließlich das minoische Kreta. Vom zehnten bis zum zweiten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung währte die Hochphase des Labyrinths.
Das Labyrinth kennt keinen Kreuzweg. Es gibt nur zwei Wege – hinein und hinaus. Es geht immer nur geradeaus, nach vorn, in die Zukunft, dies allerdings in äußerster Differenziertheit, welche die Bewegungsgesetze der Welt, modern gesagt, gewissermaßen simuliert.
Man kann sich also gar nicht verlaufen. Die Gefahr ist eine andere: wer einmal bewußt ein Labyrinth selbst gezeichnet, betreten, befahren, erforscht und meinetwegen auch erobert hat, weiß, wie schwer es ist, den Weg zurück in den Alltag zu finden.
Im Innern ist es warm, Uterus! Die Gefahr, nicht wieder loszukommen, ist groß. Hier hat die Angst ihren Grund. Nur noch das größere Entsetzen, mit sich allein bleiben zu müssen und die Erinnerung an die Außenwelt, also Liebe, soziale Bindungen, Neugier, geben den nötigen Schub und Zug für eine Rückkehr – Ariadnes Faden. Der Minotaurus ist letztlich nichts anderes als der Verlust der Erinnerung an die Außenwelt, Tod. Das Ende des Labyrinths ging mit der Unterwerfung der minoischen Kultur durch die alten Griechen einher.
Dorier, Traker und Illyrer errichteten gewaltsam ihre patriarchale Herrschaft, Theseus tötete Minotaurus.
Die Kirche und das Labyrinth.
Die Tötung des Minotaurus markiert den Bedeutungswechsel des Labyrinths im abendländischen Bewußtsein. Von nun an bestimmten nicht mehr die kretischen Göttinnen, sondern der griechische Gott Zeus. Der Labyrinthkult wurde in den sozialen Untergrund und ins mythische Unterbewußtsein verdrängt, die minoischen Göttinnen ins patriarchale Geschehen des Olymps integriert. Wenige Jahrhunderte später ist nur noch der Irrgarten gemeint, wenn von Labyrinth die Rede ist. Parallele Entwicklungen finden sich auch in anderen Teilen der damaligen Welt, z.B. in China und Ägypten.
Ein besonderes Kapitel sind die Versuche der katholischen Kirche, das Labyrinth in die Kreuzform zu zwingen, um die zwar unterworfene, aber nicht gebrochene und, solange es Frauen und Männer gibt, nicht zu brechende erotische Kraft alter Mysterienkulte zu neutralisieren. Hunderte solcher Labyrinthe schmücken Kirchen und geistliche Bücher aus der Zeit vor der Renaissance. Wer die griechische, die ursprüngliche kretische oder gar noch frühere Formen der alten Figur benutzte, wie im Zuge der Urchristenbewegung im elften, zwölften und 13. Jahrhundert die Manichäer und andere, mußte dagegen damit rechnen, als Häretiker, später als Hexe verfolgt zu werden.
Linien im Sand.
So blieb das Labyrinth, sofern es nicht gelang, es einfach als Zeichen des Chaos zu verteufeln, eingeschlossen in die darüber errichtete Welt der patriarchalen Pyramide, des Kreuzes, des rechten Winkels und der moralischen Kasuistik. Jetzt bricht die alte Figur mit voller Kraft aus den bröckelnden Panzerungen unserer heutigen Welt hervor. Aber, so wie es schwerer ist, aus einem Labyrinth wieder herauszuwinden, so ist es auch mühsamer, heute aus den Mauern der Pyramiden, aus dem Bann des Kreuzes und dem linearen Fortschritts-Verständnis herauszutreten. Man beginnt am besten im Sand, im Schnee oder sonst irgendwo, wo man der selbst aufgezeichneten oder ausgelegten Grundlinie folgen kann. Dieses Experiment kann ungeahnte Folgen für die haben, die es wagen. Wer sich nicht scheut, sich in diesen Prozeß hineinzubegeben,kann die Wiedergeburt von Geschichte erleben.
Wer etwas über die Menschen im postsowjetischen Labyrinth, über die Veränderungen im euroasiatischen Raum, über den neuen Dialog zwischen Ost und West, Asien und Europa erfahren möchte und sich dabei nicht vor Labyrinthen fürchtet, den lade ich ein, einen Blick auf meine Bücher und andere Veröffentlichungen sowie Seminar- und Veranstaltungs-Angebote zu werfen.
Dieser Text folgt teils sinngemäß, großenteils jedoch wortwörtlich dem Kapitel.“Vom Irrgarten zum Labyrinth – oder wie finde ich mich im Chaos zurecht?“ meines literarischen Reiseberichtes „Jenseits von Moskau“, den Sie im Buchhandel erwerben oder direkt über mich per E-Mail beziehen können.