Nachdenkliches zu Europa und Unbekanntes zu Russland – Fragen zu Nationalismus und „Flüchtlingskrise“

Ein Abgrund tut sich auf, so will es vielen Zeitgenossen beim Blick auf das gegenwärtige Weltgeschehen, besonders auf die Vorgänge in Europa erscheinen, ein Abgrund, der die Werte der Nachkriegsgesellschaft – Menschenrechte, Solidarität, Toleranz – verschluckt und an deren Stelle überwunden geglaubte Gespenster des Nationalismus, des religiösen Fanatismus oder gar des Faschismus in neuer Gestalt wieder aufsteigen lässt.

Zu verdenken ist niemandem eine solche Sicht: die geistige Verschmutzung und das Elend des ukrainischen Krieges, die Verstetigung des Terrors in den Brutalitäten des „Islamischen Staates“, der besser Anti-Islamischer Staat genannt würde, der Rückfall der Europäischen Union in nationalistische Egoismen angesichts der „Flüchtlingskrise“ müssen erschrecken.

Vergleiche mit dem Ende des römischen Reiches werden gezogen, das trotz des Limes im Ansturm der hunnischen und germanischen Völkerschaften unterging. Thilo Sarazzins fade Prophezeiungen, Deutschland schaffe sich ab, kommen zu neuen Ehren.

Aber stimmt dieses Bild? Verweist das Anwachsen separatistischer Tendenzen, auch des aktuellen Nationalismus, ja, selbst die barbarische Kulturstürmerei des „IS“ über die Tagesereignisse hinaus nicht auch auf eine dahinter liegende Entwicklung, die in ihrer aktuellen Eskalation auf Veränderung der gegenwärtigen Verhältnisse drängt? Ist vielleicht nicht die Zivilisation am Ende, sondern nur die atlantische Dominanz, nicht Europa, sondern nur die imperiale EU, nicht Deutschland, sondern nur die gegenwärtige Verfasstheit Deutschlands als tendenzieller neuer Zuchtmeister Europas?
Damit kein Irrtum aufkommt zu dem hier Gemeinten: Keine Krankheit führt automatisch zur Gesundung; solche Automatismen müssten erst noch erfunden werden. Aber bei gründlicher Diagnose wächst die Chance mit frischen Kräften in einen neuen Lebensabschnitt einzutreten.

 

Versuchen wir also eine Diagnose.

Weltfrieden? Europäische Solidargemeinschaft? Demokratie? – Die meisten Menschen sind sich mehr oder weniger im Klaren darüber, dass von einem Weltfrieden nicht die Rede sein kann, es sei denn, man gehe der systematisch verbreiteten Anmaßung derer auf den Leim, die den atlantischen Binnenraum als Weltgemeinschaft ausgeben.

Aber schon die Auflösung des sowjetischen Imperiums entzieht sich einer solchen Sicht. Die Transformationskriege am Rande der ehemaligen Sowjetunion – Usbekistan, Tadschikistan, die Gebiete des Kaukasus – forderten mehrere zigtausend Menschenleben. Die meisten dieser Kriege endeten in Diktaturen neu entstandener, nationalistischer, keineswegs demokratischer, solidarischer oder gar subsidiär verfasster Gesellschaften. Das bisher letzte Beispiel aus dieser Reihe war und ist die Ukraine. Millionen von Flüchtlingen retteten sich seinerzeit nach Russland; aktuell kamen auch gerade wieder eine Million Menschen aus der Ukraine. Aber wen in der „Weltgemeinschaft“, in der Europäischen Union, in Deutschland hat es interessiert, wie Russland in einer Situation, in der die Staatlichkeit des Landes bis hin in die lokalen sozialen Strukturen und bis in die Familien hinein zusammengebrochen war, neue Solidarität entwickeln konnte?

Im Gegenteil wurde Wladimir Putins Kennzeichnung dieses Zusammenbruchs als größte soziale Katastrophe des 20./21. Jahrhunderts als revanchistischer Anspruch auf Wiederherstellung des russischen Imperiums denunziert, bestenfalls als Großmannssucht bespöttelt oder Putin gar als anti-demokratischer Möchtegern-Stalin dämonisiert. Die tatsächliche Wiederherstellung sozialen Vertrauens im Lande, die in Russland gelungen ist und die allein Grundlage solidarischen Zusammenlebens sein kann, entzieht sich ganz offensichtlich dem westlichen Verständnis, das Solidarität und Demokratie nicht nach der tatsächlichen Lebenslage der Menschen, sondern nach der Einhaltung formal-demokratischer Regeln beurteilt – und die sind in Russland zweifellos weitaus weniger entwickelt als in Deutschland.

Und was ist mit dem „IS“, was mit der „Flüchtlingskrise“? Beide Phänomene sind ja nicht vom Himmel gefallen, passender gesagt, nicht plötzlich aus dem Untergrund hochgeschossen: Das Aufkommen des „IS“ ist Ausdruck einer Eskalation des Wiederspruchs zwischen den im Gewand des Fortschritts und der Menschenrechte auftretenden reichen Ländern des Westens und den von ihnen zur Wüste gemachten Ländern des Südens, insonderheit des afrikanischen Kontinentes, in denen die aus den früheren Kolonien entstandenen Nationalstaaten, die meisten von ihnen Diktaturen, heute nur noch die Rolle von Agenturen internationaler Kreditgeber spielen. Sie haben die Ressourcen ihres jeweiligen Landes und Absatzmärkte zur Verfügung zu stellen. Im Übrigen haben sie das Land, in der Regel mit Gewalt, ruhig zu halten. Wo das nicht gelingt, sind die „Special forces“ zur Stelle. Nur wenige Länder haben sich aus dieser Zange befreien können.

Seit Gründung der Internationalen Währungsordnung nach 1945 war erkennbar, wohin diese Entwicklung führen musste: In die Zerstörung lokaler Märkte, in das Anwachsen einer Heerschar „Überflüssiger“, die ihre Zukunft, noch dazu gesteigert durch das rasante Bevölkerungswachstum nicht mehr in ihren Heimatgebieten, sondern im reichen Westen suchen – sofern sie überhaupt noch die Kraft haben, über eine Zukunft für sich nachzudenken. Demokratische, solidarische, gar subsidiäre Gesellschaften konnten unter diesen Bedingungen jedenfalls nicht entstehen. Dass diese Entwicklung nur in einer globalen Revolte gegen die Verursacher dieses Elends enden konnte, war schon lange klar. Der „IS“ wächst als vergiftete Speerspitze aus dieser Revolte hervor; die „Flüchtlingskrise“ ist ein längst überfälliger Ausdruck dieser Entwicklung.

 

Erwachen der Völker

Ja, dies alles ist heute herrschende Realität. Und dennoch ist damit nicht alles beschrieben. Unter all diesen Umständen hat sich eine Tendenz herausgebildet, die einer der bekanntesten Strategen der USA, Zbigniew Brzezinski seinerzeit als „awakening of people“ bezeichnet hat. Unter dem Druck der vom Westen ausgehenden neo-kolonialen Globalisierung sind als deren unvermeidliche Begleiterscheinung immer mehr Menschen mit den Möglichkeiten bekannt geworden, die unsere Welt heute den Menschen zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit bereitstellt – denjenigen, versteht sich, die Zugang zu diesen Möglichkeiten haben. Zu diesen zu gehören, tritt inzwischen bei einer wachsenden Zahl von Menschen als Verlangen nach Teilhabe an den Reichtümern der Welt, nach Selbstbestimmung, nach Autonomie, in der Auseinandersetzung mit den herrschenden Kräften als aktiver Separatismus oder, im pervertierten Fall des „IS“, als destruktiver pseudo-religiöser Fanatismus zutage. Gegner sind in jedem Fall die etablierte Ausbeuterordnung der „Weltgemeinschaft“ und deren lokale Statthalter.

 

Krise der EU

Diese allgemeine Entwicklung macht auch vor der Europäischen Union nicht halt, wenn sich die schwächeren Mitglieder der Bevormundung und dem wirtschaftlichen Druck durch die Großen der Kern-EU, allen voran durch Deutschland, nicht weiter beugen wollen. Von Binnenzöllen unbelastet würgt Deutschland als „Exportweltmeister“ die lokalen Wirtschaften der kleineren Mitgliedstaaten der EU ab, danach werden ihre Regierungen durch Kredithilfen in eine Abhängigkeitsschleife gebracht, aus der für sie bei Beibehaltung der jetzigen Beziehungen kein Weg wieder herausführt. Es ist der gleiche Mechanismus, mit dem die EU als Ganzes, wieder mit dem Motor Deutschland, die lokalen Wirtschaften in den nach-kolonialen Ländern in Abhängigkeit hält. Die „Flüchtlingskrise“ ist nicht etwa die Ursache der Krise der EU; sie bringt das lange herangerollte Problem nur in die Sichtbarkeit der aktuellen Politik. Um es in ein Bild zu fassen: in der „ Flüchtlingskrise“ laufen die langen Wellen der globalen und die aus der EU kommenden kürzeren Wellen der Ausbeutungskonflikte aktuell zu mächtigen Brechern zusammen. Sie haben das Zeug, die Uferbefestigungen, auch wenn noch ein paar Sandsäcke aufgeworfen werden, glattweg zu überspülen und neue Uferkonturen entstehen zu lassen.

Kommt hinzu, dass die Entwurzelung der Bevölkerung in den aus den Kolonien hervorgegangenen Nationalstaaten, die dort aus der Zerstörung der traditionellen Strukturen der Selbstversorgung ohne Aufbau von adäquaten Alternativen lokaler Wirtschaften resultiert, ihre Fortsetzung in der Europäischen Union findet. In den Mitgliedstaaten, die in die Abhängigkeit gedrängt werden, nimmt die Verarmung der Bevölkerung in dem Maße zu, wie das Bruttosozialprodukt in den Kern-Ländern der EU, vor allem Deutschlands wächst. Nehmen wir als letztes Beispiel Griechenland, das unter dem Druck seiner Kreditschulden dem von Brüssel geforderten Abbau sozial-staatlicher Leistungen nachkommen musste – für Griechenland ein Fall ins Nichts, für Brüssel eine Stabilisierung.

Aber nicht nur in Griechenland, auch in Spanien, Italien, Portugal, den Balkanländern führt das Diktat der EU als „Wettbewerbsgemeinschaft“, dominiert vom „Exportmeister“ Deutschland zu einer immer weiter auseinander gehenden Schere zwischen dem reichen Kern der EU und drückender Armut in den peripheren Mitgliedsländern. Eine Pyramide der Ausbeutung innerhalb der EU ist entstanden, an deren Spitze Deutschland die Bedingungen diktiert; sogar Frankreich muss sich ducken. Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne und sinkende soziale Versorgung – runtergestaffelt von Norden nach Süden, von innen nach außen – bilden die Basis der Pyramide.
Demokratie, Solidarität und Subsidiarität bleiben bei diesem Prozess nicht nur im globalen Maßstab, nicht nur in der EU, sondern auch in Deutschland zunehmend auf der Strecke. Darüber werden täglich genügend Fakten veröffentlicht, so dass hier auf Details verzichtet werden kann. Aber je größer der Druck der „Wettbewerbsgemeinschaft“ EU, desto breiter wird die Basis und desto intensiver das Verlangen, diese Art der Gemeinschaft zu verlassen. Initiativen für direkte Demokratie, für Autonomie, separatistische Bewegungen wie die in Schottland, in Katalonien, Rückzüge auf nationale Alleingänge in der EU wie die Ungarns, Austrittstendenzen wie die Englands, begleitet von nationalistischen Exzessen wie in der Ukraine, terroristischen wie denen des „IS“ und anderswo sind Ausdruck dieser Entwicklung.

Kurz gesagt, es macht Sinn, im heute zu beobachtenden Chaos nicht nur den Schrecken des Zerfalls, der Revolte, der demonstrativen Zerstörung von Menschen und Kultur, sondern auch die Dynamik der Überwindung, wenn auch teils pervertiert, der für diese Entwicklung ursächlichen Herrschaftsstrukturen zugunsten kleinerer, überschaubarer, autonomer miteinander auf Augenhöhe kooperierender Lebenseinheiten zu erkennen – auch wenn klar ist, dass dieser Übergang ein lang andauernder ist und noch viele Opfer kosten wird.

 

 Russland nationalistisch?
Wichtig ist wohl an dieser Stelle noch einmal in den Vergleich zu Russland zu gehen, das sich von deutschen Politikern und Medien in zunehmendem Maße als nationalistisch kritisieren lassen muss. Wladimir Putin erscheint in dieser Kritik gar als der leibhaftige Wiedergänger Hitlers, der das Land in einem nationalistischen Rausch und unter Inkaufnahme eines neuen Weltbrandes zu neuer imperialer Größe führen wolle.

Ach, wollte doch nur einer dieser Kritiker Russland einmal von innen, das heißt, von seiner sozialen und kulturellen Struktur her betrachten! Zum einen ist Russland zwar ein Zentralstaat, ohne Moskau geht gar nichts, zum anderen ist das Land aber nach Republiken und im Land miteinander lebender unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Sprachgruppen derartig vielgestaltig organisiert, dass es sich verbietet von einer russischen Nation zu sprechen. Alle Versuche eine solche Nation zu definieren, sind gescheitert. Das Höchste, was an „nationaler“ Vereinheitlichung erreicht wurde, war der ‚Große Vaterländische Krieg‘ unter Stalin. Gerade diese Formulierung, die Worte wie sowjetische oder russische Nation vermeidet, zeigt aber auch das vollkommen andere Verständnis von Vaterland oder Nation in Russland: Russland ist nach russischem Sprachgebrauch ein Vaterland vieler „Nationen“, d.h., ein Land von Völkern mit eigener Sprache, Religion und Kultur sowie unterschiedlichster Republiken in unterschiedlichsten Stadien von Autonomie, die einen gemeinsamen Organismus vieler Vaterländer im friedlichen Zusammenleben miteinander bilden. Der Zusammenhalt kann nicht befohlen, er muss im Konsens immer wieder neu hergestellt werden. Putin ist ein Meister des Konsenses. Ausnahmen wie der Tschetschenienkrieg, der eine Sezession gewaltsam unterband, bestätigen wie immer die Regel. Der Tatsache der Vielvölker-Konsensgesellschaft trägt Rechnung, dass dieser Organismus in Russland nicht als russisch, sondern als russländisch bezeichnet wird. Moskau, einer russländischen Redewendung folgend, ist auch heute immer noch weit.

Was den angeblichen aktuellen Nationalismus angeht, so mag ein Beispiel genügen: Der Tschuwaschische, im Herzen Russlands an der Wolga lebenden „Nationalschriftsteller“ (eine ins Deutsche nicht übersetzbare Formulierung) Michail Juchma, 79, sein Leben lang engagiert, die Tschuwaschische Kultur vor ihrer Überformung durch das Russische zu bewahren, aus dieser Position heraus ein scharfer Kritiker Putins, antwortete im Sommer 2015 auf die Frage, was er von der Politik Putins halte, er stimme Putin in seiner Außenpolitik voll zu: „Er verteidigt unsere Vaterland“. „Unsere Vaterland“, erklärt Juchma, das ist mein tschuwaschisches Vaterland im untrennbaren Zusammenhang des russländischen Organismus.

Wer im Glashaus sitzt, soll also nicht mit Steinen schmeißen, so könnte man diesen Artikel beenden. Anders gesagt: Möglicherweise können Europäer in ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalismus von der russländischen Realität etwas lernen, zumindest Anregungen für ein Europa nach der Europäischen Union gewinnen, das die unterschiedlichen Gewordenheiten der europäischen Kulturen im lebendigen Konsens verbindet, statt sie weiter in ein Korsett der „Wettbewerbsgemeinschaft“ zu schnüren.
Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Siehe zu diesem Thema:

 
Kai Ehlers, die Kraft der ‚Überflüssigen‘, Pahl-Rugenstein, 19,90:

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