Der mongolische Vorhang – Anregungen für eine positive Kritik der Globalisierung

Der mongolische Vorhang –

Anregungen für eine positive Kritik der Globalisierung

Der Osten spielt in der linken Solidaritätsbewegung allem Gerede über Globalisierung zum Trotz bisher nahezu keine Rolle. Haben diejenigen Recht, die den Grund dafür in einem „linken Rassismus“ sehen und die eine linke Position zu Menschenrechten und humanitären Aktionen einfordern?

Die Frage ist dazu geeignet, bisher gültige Kategorien durcheinanderzuwirbeln: „Linke“ Menschenrechte? „Linker“ Rassismus? „Linke“ Humanität? – Solche Eingrenzung der Fragen ist ganz sicher ungeeignet, unseren gegenwärtigen Problemen auf den Leib zu rücken oder Perspektiven zu entwickeln. Nicht „linker“ Rassismus ist das Problem – sondern einfacher alltäglicher, europäischer Rassismus. Er besteht zuallererst einmal darin, dass Geschichte, Kultur und Lebensrecht der Völker des Euroasiens, einschließlich seiner Verbindungen zum asiatischen und orientalischen Raum auf der geistigen Landkarte der Westeuropäer schlichtweg nicht existiert.

Nach der Öffnung des eisernen Vorhanges kommt ein weitaus kräftigerer, undurchdringlicher Vorhang im europäischen Bewusstsein zum Vorschein, der mongolische Vorhang; man kann ihn auch den hunnischen Vorhang nennen. Dieser Vorhang macht es den Europäern – mit Differenzierungen von Westen nach Osten – schwer, irgendetwas anderes als Europa jenseits des Ural zu erkennen. Das Europa der Europäer reicht selbstverständlich bis nach Wladiwostok. Dass es im euroasiatischen Raum außer den Titularnationen, die den jeweiligen Staaten die Namen geben, weitere Hunderte von Völkern und Kulturen gibt, die heute zwar keine Staatsnationen sind, die aber eine lange Geschichte und Kultur haben, entzieht sich dem alltäglichen europäischen Blick.

Der europäische Blick ist nicht nur durch die eigene koloniale Geschichte verstellt, sondern auch durch die Russlands, an der sich die Westeuropäer in ihrem Drang nach Osten immer wieder zu beteiligen versuchten. Die Vorstellung vom „Volk ohne Raum“, das einen Raum ohne Volk sucht, ist keineswegs erst von den Nationalsozialisten entwickelt worden. Sie hat ihre Wurzeln tief in der mittelalterlichen Geschichte West-Europas.

Der Mongolische Vorhang rasselte spätestens im 13. Jahrhundert zwischen der westeuropäischen Welt und dem Rest Euroasiens nieder, nachdem er als hunnischer schon im fünften Jahrhundert niedergegangen war. Russland übernahm die Rolle des Vorhangschließers, bzw. Öffners. Westeuropäische Kultur festigte sich in der Abwehr der Hunnen, später der „Mongolischen Pest“. Die Völker und Kulturen des euroasiatischen Raumes wurden nicht als Reichtum, sondern als existenzielle und permanente Bedrohung wahrgenommen, Russland als ungeliebter vorgeschobener Posten gegen diese Bedrohung und zugleich als ein Teil von ihr.

An dieser Konstellation hat sich im Bewusstsein der europäischen Bevölkerung bis heute wenig geändert – auch wenn die neuen geopolitischen Verhältnisse, die wir gegenwärtig unter dem Begriff der Globalisierung fassen, einfach schon deswegen daran rütteln, weil Europa nicht mehr das Zentrum der Entwicklung ist, sondern ein Zentrum unter mehreren, ja, vielen. Russland knackt an dieser Koordinatenverschiebung ebenso wie Europa und interessanterweise existiert der mongolische Vorhang nicht nur für Europa, sondern auch für Russland – wiewohl er in Russland schon durch die Vielvölker-Realitäten immer wieder in Frage gestellt wird.

Über diese historisch gewachsenen, in Politik und Kultur Europas eingeschriebenen Tatsachen, die sich im Unterbewusstsein der dort lebenden Menschen als tief verwurzelte Vorurteile festgesetzt haben, muss man sprechen, wenn man die Blindheit der europäischen Bevölkerung für die von ihr aus gesehen östlichen Völker verstehen will. Man vergegenwärtige sich nur das von Hitler gezeichnete Bild des östlichen Untermenschen, um zu erkennen, wie tief das Bild der kinderfressenden hunnischen, mongolischen, türkischen oder anderer euroasiatischer Teufel sich im Unterbewusstsein der europäischen Bevölkerung festgesetzt hat. Mit dem Ende der Sowjetunion bricht dieses Bild heute auf. Ein neuer Blick auf die Welt, allen voran die östliche, aber nicht nur sie kann sich entwickeln, in der nicht nur die Systemteilung aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, sondern auch die Ost-West-Polarisierung der Welt durch neue, multipolare Beziehungen zwischen den Völkern und multikulturelle innerhalb der einzelnen Staaten verdrängt wird. Es ist die dritte, letzte große Welle der Entkolonialisierung, nachdem der erste Weltkrieg, danach der zweite den von Westeuropa aus gespannten kolonialen Rahmen bereits gesprengt hatten. Die Voraussetzungen dafür sind im Schoße der bipolaren Welt herangereift, ohne dass diese Tatsache bereits ins allgemeine Bewusstsein der alten Welt eingedrungen wäre. Dieses Bewusstsein zu schaffen und damit der auf Durchbruch drängenden multipolaren Lebens- und Weltordnung auch tatsächlich zum Durchbruch zu verhelfen, dürfte der Sinn einer Kritik der Globalisierung sein. Der „linke“ Ansatz könnte dabei sein, diesen Durchbruch so sozial, friedlich und ökologisch verträglich wie möglich zu gestalten.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

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