Rußland nach der Privatisierung – Kapitalismus oder was?

Vortext:

Gut fünfzehn Jahre befindet sich Rußland nun  im Zustand der Transformation, die Hälfte davon, seit Anfang 1991 Boris Jelzin die Macht übernahm, im beschleunigten Übergang zur freien Marktwirtschaft. So lautet jedenfalls die Theorie. Alle bisherigen Krisen wurden mit Übergangsschwierigkeiten erklärt. Die letzte Krise zwingt dazu, genauer zu fragen, was erreicht wurde und wo Rußland heute steht.
Kai Ehlers hat sich bei Direktoren, Unternehmern, Soziologen und im Lande selbst nach Antworten zu dieser Frage umgesehen.

Analytiker:
Eine Stichwortgeberin der Perestroika Ende der achtziger Jahre war Tatjana Saslawskaja. Von ihrer ”Nowosibirsker Schule” gingen seinerzeit erste Impulse zur wissenschaftlichen Begründung der Perestroika aus. Vorübergehend war Frau Saslawskaja danach als Beraterin Gorbatschows tätig. Heute ist sie Co-Rektorin im ”Institut für Sozialwissenschaften” in Moskau. In ihrem Buch, die Gorbatschow-Strategie von 1989, hatte Frau Saslawskaja die Gellschaft der Sowjetunion als eine Mischung aus Sozialismus und Kapitalismus bezeichnet:

Zitator:
”Das beschriebene System  stellt eine Art Hybridprodukt  aus dem zentralisierten  planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen  System dar, wobei  es sich um einen spezifischen, veränderten Markt handelt, in dem nicht  mit klassischen Begriffen wie Ware, Qualität und Preis operiert wird,  sondern mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, auf die Produktionsbedingungen des Partners einzuwirken.”

Analytiker:
Schon damals waren diese Begriffe recht vage. Immerhin lösten sie aber die nichtssagenden Worthülsen vom wissenschaftllich-technischen Fortschritt unter Führung der Arbeiterklasse durch vorstellbare Beschreibungen ab. Heute aber scheinen Frau Saslawaskaja ihre damaligen Beschreibungen nicht mehr stimmig:

O-Ton 1:     0,34
”Ja vo pervie usche…
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Übersetzerin:
”Ich glaube nicht, daß der Begriff Hybrid noch zutrifft. Auch die Begriffe Kapitalismus oder Sozialismus können nicht mehr richtig erklären, womit wir es hier zu tun haben. Man braucht neue Begriffe. Insgesamt würde ich unsere Gesellschaft heute allerdings eher als kapitalistisch beschreiben. Aber was für ein Typ von Kapitalismus? Man verkauft das eigene Land unter Wert. Man stiehlt und verschleudert es; Fabriken, Parkplätze, Wälder; es gibt genug zu verkaufen. So ein Kapitalismus ist das: kriminell, antipatriotisch. Aber das ist auch wieder nicht richtig. Wie soll man es nennen? Am Ende ist es einfach so etwas wie ein Monster.”
…Monster polutschetsja.”

Analytiker
Intensivierung, also Übergang von massenhafter zu qualifizierter Produktion – so lautete die Hauptlinie, die Frau Saslawskajas für die einsetzende Perestroika vorschlug. Was ist nach ihrer Meinung daraus geworden?

O-Ton 2: Tatjana Saslawskaja    0,24
”Ja dumaju schto…
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Übersetzerin:
”Ich denke, wir befinden uns jetzt in einer ”Gesellschaft im sozialen Umbruch”. So habe ich es in meinem letzten Buch genannt. Alte Institutionen zerfallen, neue bilden sich erst heraus. Deshalb ist die Gesellschaft zerbrochen, befindet sich in diesem intensiven Prozeß der Transformation. Auf die Frage, gab es eine Intensivierung? kann ich deshalb nur antworten: Ja und auch nein. Hier kann es keine eindeutige Antwort geben.”
.. i da i njet.”

Erzähler:
Auf die Tatsache angesprochen, daß in der russischen russischen Öffentlichkeit heute kaum noch von Reform, dafür umso mehr von krimineller Privatisierung gesprochen, ja, die Regierung selbst als kriminell bezeichnet werde, antwortet sie:

O-Ton 3:  Saslawskaja, Fortsetzung                    0,34
”Kriminalni, eta fakt…
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Übersetzerin:
”Kriminell – das ist ein Fakt, kriminelle Charakter der Gesellschaft, kriminelle Macht, kriminelles Eigentum. Das ist natürlich das erschreckendste Resultat. Daß die Produktion steht, daß die Leute keine Arbeit haben, daß alles zusammenbricht. Das ist alles wahr. Das ist sehr schlecht. Aber der das ist das Schlimmste. Wir haben nicht nur keinen Schritt in Richtung auf einen Rechtsstaat geschafft, sondern uns viele Schritte von ihm entfernt. Das scheint mir das Problem Nummer eins zu sein. Wie das Problem gelöst werden kann, weiß ich nicht, gerade wegen der Kriminalisierung der Macht.”
… kriminalisatia wlasta.”

Analytiker:
Jussev Diskin, nach eigenen Angaben Eliteforscher, tätig am ”Insititut für regionale Volkswirtschaft”, zwei Generationen jünger als Frau Saslawskaja, hält die Begriffe von Kapitalismus und Sozialismus ebenfalls nicht füpr ausreichend zur Beschreibung der heutigen russischen Gesellschaft. Aer er begnügt sich nicht mit dem Erschrecken über das entstandene kriminelle Monster; er versucht es analytisch zu packen:

O-Ton 4: Dimitri Diskin, Transofrmationswissenschaftler        1,05
”Nu, jesli goworits stroga…
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Übersetzer:
„Streng gesagt haben wir keinen Kapitalismus erhalten. Kapitalismus, das hieße doch vor allem erst einmal Chancengleichheit im wirtschaftlichen Handeln, mindestens formal. Dafür sind gleiche Rechte des Eigentums unabdingbar. Das gibt es bei uns nicht, das ist offensichtlich! Bei uns ist das Recht auf Eigentum an die politische Macht gekoppelt. Aber was noch wichtiger ist: In der sowjetischen Zeit war Geld nicht das einzig Entscheidende und heute ist es immer noch so: Nach wie vor fährt man fort mit dem Austausch von Naturalprodukten, lebt man von Gärten und Höfen. Wenn heute aus dem Budget nicht gezahlt wird, wenn der Lohn nicht gezahlt wird, dann heißt das alles nur eins: daß es heute immer noch unheimlich viel feudale Überbleibsel in unserer Wirtschaft gibt

Analytiker:
Auf dieser Basis, erklärt Diskin weiter, habe sich ein System oligarchischer Clans herausgebildet, in denen sich politische Macht immer mit dem Zugriff auf das Budget verbinde. Die Clans konzentrieren sich, so Diskin, in Moskau, wo sie um den Einfluß auf das Budget kämpfen. Dort haben sie sich mit den transnationalen Monopolen verbunden. Es sind dies die großen Finanzimperien wie das der Oneximbank, der Bank Minotep, der riesige Clan um den Moskauer Bürgermeister Juri Lyschkow, den Ol-Gas-Konzern Gasprom, der als drittgrößtes Monopol der Welt gelten könne usw. In den Regionen  herrsche ein anderes System.

O-Ton 5: Diskin, Forts.                         0,35
”I u etawa dabawit…
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Übersetzer:
”Regionale Elite und Moskauer Clans repräsentieren unterschiedliche Interessen: Die Moskauer Oligarchen hängen mit den außenwirtschaftlichen Belangen zusammen, die regionalen Clans, vertreten durch die Gouverneure, eher mit weiterverarbeitender Industrie vor Ort, mit dem, was nicht so viel Geld bringt. In gewissem Sinne halten sich beide Typen von Clans gegenseitig in Schach. Wirtschaftlich gesehen heißt das, sie behindern sich gegenseitig und schaffen so selbst die Voraussetzungen dafür, die Marktentwicklung zu behindern. ”
… rinotschni perspektiwi”

Analytiker:
Die neuen oligarchischen Strukturen entstanden  aus dem Zerfall der Nomenklatura. Die aktiveren und jüngeren Mitglieder, vornehmlich Leitungskader des Jugendverbandes der Kommunistischen Partei Komsomol, rissen jene Teile des Parteivermögens an sich, die sie vorher verwaltet hatten. Gebäude, Liegenschaften, Transportmittel. Vor allem aber verstanden sie es, Beziehungen zu nutzen. Dies wurde für viele der Ausgangspunkt, von dem aus sie um Anteile an dem enstehenden ”Markt” den Kampf aufnahmen. Auf der anderen Seite, wesentlich in den nicht so einträglichen oder veralteten Betrieben, blieben die Direktoren der großen Betriebe ohne die früheren Verbindungswege der Partei zurück. Sie sahen sich vor die Aufgabe gestellt, für einen bis dahin von Aufträgen und Zuteilungen lebenden Betrieb eigene, oft illegale Beziehungen herzustellen.
In diese Gemengelage mischte sich die Mafia. Aber Mafia – das waren nicht nur Schutzgelderpresser, offene Kriminelle oder korrupte Bürokraten. Mafia – das waren die Bosse der Schattenwirtschaft und die Autoritäten einer in langer Tradition herangewachsenen Gegengesellschaft. Beobachter im Lande erklären das so:

O-Ton 6: Jefim, Forts.                0,56
”Jest sakoni zoni…
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Übersetzer:
„Die Sache ist die: Rußland hat seine Tradition der Zonen, der Lager. Sie haben ihre eigenen Gesetze. In der Stalinzeit, als zeitweilig 50 Millionen Menschen in den Zonen lebten, jetzt Gulags genannt, entwickelten sie sich zur Gegenwelt des Staates. Diese Gegenwelt umfaßte nicht nur Kriminelle, sondern aller Gegner der Sowjetmacht. Im Zuge der Liberalisierung ist der Staat schwächer geworden. Das begann gleich nach dem Tode Stalins; mit Gorbatschow hat es sich nur fortgesetzt; jetzt ist die Mauer gegenüber der Zone ganz eingebrochen. Dabei ist das Gesetz des Staates aber nicht zu dem der Zone, sondern das der Zone zu dem des Staates geworden, wesentlich stärkere Gesetze hat. Sie sind nicht einmal geschrieben, sie wirken nur einfach in den Köpfen der Menschen. Heute herrschen im Geschäftsleben, in dem, was allgemein Demokratie genannt wird, und was Kohl und Clinton so sorgsam unterstützen, die Gesetze der Zone. Wir leben im Lager!“
… schiwjom Lagerje

Analytiker:
Der so spricht, ist Jefim Berschin, lange Zeit Sonderberichterstatter an sog. ”heißen Punkten” der nachsowjetischen Transformation, Transnistrien, Tschetschenien, wo er das Wirken der Mafia vor Ort studieren konnte.
Am Besten begreife man die Entwicklung an dem, erklärt er, was in der Sowjetzeit, aber auch im heutigen Rußland mit einem Zonenausdruck „Obschag“ genannt werde, was soviel wie Gegengemeinschaft bedeute:

O-Ton 7: Jefim, Forts.                    1,06
”Obschag, ransche…
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Übersetzer:
„`Obschag´ – Das ist so: Zur Zeit der Sowjetmacht gab es die sogenannte `Kasse´. Nehmen wir an, wir haben zusammen geklaut; dann hat man dich geschnappt und du sitzt im Lager; mich haben sie aber nicht geschnappt. Was mache ich? Ich nehme einen Teil des Geldes, das wir gemeinsam geklaut haben, ich benutze es, um deine Familie zu ernähren, deine Kinder, um dir Freßpakete ins Lager zu schicken. Allmählich hat sich aus solchen Aktionen eine ganze Organisation entwickelt. In neuerer Zeit ist es einfach nicht mehr sinnvoll, das Geld nur in Kassen zu halten und dann daraus einzusetzen. Heute gilt: Geld  muß es kreisen, und kreisen heißt: Geschäft! Ein Teil des Geldes im heutigen Geschäftsleben Rußlands ist deshalb Geld aus der `Obschag´. Und hier herrscht natürlich eine harte Disziplin. Wenn du dich nicht beugst, wirst du bestraft, ganz zu schweigen davon, daß dir schon niemand mehr hilft. Das bedeutet, die Gesetze dieser Lagerbrüderschaft werden von niemanden übertreten. Letztlich sind alle diese Gesetze faktisch auf den Staat übergegangen.“
…i tagdali,tadgali.”

Analytiker:
In den ersten Jahren der Privatisierung wurde der Kampf mit dem Messer und der Automatischen ausgetragen. Heute sind die großen Geldleute interessiert daran, die zusammengerafften Gelder zu legalisieren. Dafür brauchen sie Dokumente, legale Genehmigungen, legale Konten, Lizensen, Registrierungen usw. Wer glaubt ohne sie auszukommen, wird immer noch kaltgestellt. „Aber inzwischen“, so Jefim Berschin, „geht man zum Bürgermeister, wo man die Lizensen für die Geschäfte ausgibt, und schwupp, gibt es keine Lizens mehr.“ So wie es dem Benzin-König von Moskau ergangen sei:

O-Ton 8: Jefim, Forts.                    0,49
”Menja prosta posnakomja odin…
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Übersetzer:
„Ich kenne ihn; er hatte alle Tankstellen unter sich. Er ist ein kluger, wohlerzogener Bursche, ehemaliger Komsomloliz, sehr jung noch, hat da ehrlich im Komsomol gearbeitet, dann im Busyness, na, eben auf diesem üblichen Weg. Er hatte ein Dach, natürlich. Dann begann er ziemlich eigenständig aufzutreten. Als der Krieg in Tschetschenien begann, weigerte er sich, Steuern zu zahlen, um den Krieg nicht zu unterstützen. Er bot Tschernomyrdin riesige Geldsummen an, wenn bloß der Krieg aufhöre; er weigerte sich, Geld für den Bau der Erlöserkriche in Moskau zu geben. Ergebnis: Am Ende des Jahres lief seine Lizenz für die Tankstellen ab – eine neue hat er nicht bekommen. Das war´s dann. Er ist einmal Benzin-König gewesen.“
…benzinom Karolom.”

Analytiker:
In einer kürzlich durchgeführten Konferenz im Internet zum Thema ”Rechtspolitik und Sicherheit in Rußland” faßten Alexander Rahr, Leiter der Arbeitsstelle Rußland/GUS der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, und sein Kollege Philippp Pachomow diese Entwicklung in die Worte:

Zitator:
”Mit der Reformpolitik von Michael Gorbatschow wurden in den Staaten Osteuropas revolutionäre politische, soziale und wirtschaftliche Prozesse ausgelöst. Doch die Liberalisierung und die damit verbundene Schwächung des Staates führten auch in der kriminellen Welt der ehemaligen Sowjetunion zu Veränderungen. Die russische organisierte Kriminalität ist keine vorübergehende und schon gar nicht eine zufällige Erscheinung. Die kriminelle Welt, die Jahrzehnte lang vom KGB kontrolliert, zuweilen auch kultiviert wurde, war während der siebzigjährigen Herrschaft der kommunistischen Nomenklatura längst zu einem Staat im Staate mit eigenen Gesetzen und Verhaltensregeln geworden. Mit dem Beginn der Reformen strömte das Verbrechen in die sich nun öffnenden Freiräume, verschmolz mit dem korrumpierten teil des Staatsapparats und strebt heute nach Einfluß auf die Politik und das öffentliche Leben Rußlands. Nicht nur für die junge russische Demokratie, sondern auch für die westlichen Industrieländer wird das organisierte verbrechen der ehemaligen Sowjetunion, oft auch als ”Russenmafia” bezeichnet, zu einer aktuellen Bedrohung. Die Bekämpfung der internationalen Kriminalität ist inzwischen zu einem weltpolitischen Thema größter Tragweite auf dem Gipfeltreffen der G-8 Staaten geworden.”

Analytiker:
80% des russischen Kapitals seien heute mafiotisch, erklären Alexander Rahr und Philipp Pachomow; zwei Szenarien halten sie für möglich:

Zitator:
”Das negative Szenario sieht vor, daß sich Rußland zu einem halb kriminellen Staat entwickelt, dessen führende Kräfte die zentralen Bürokraten, Unternehmenskartelle und die kriminelle Elite sein werden. Eine solche Entwicklung könnte schließlich mit der Machtergreifung eines autoritären Anführers enden, der gegen Korruption und Kriminalität zwar hart durchgreifen, aber auch die Freiheitsrechte und demokratische Bestrebungen einschränken würde. Das zweite, positive Szenario geht von einer Legalisierung des kriminellen und halb-kriminellen Kapitals in Rußland aus. Dabei müssen die illegalen Vermögen in destruktives und konstruktives Kapital unterschieden werden. Das destruktive Kapital wird weiterhin für illegale Operationen eingesetzt und kann unter den Bedingungen der staatlichen Schwäche und der Instabilität im Lande rentabel eingesetzt werden. Sein Einsatz unterminiert jegliche Anfänge der Schaffung eines Rechtsstaates. Der bei weitem größere Teil des illegalen russischen Kapitals dürfte jedoch dem konstruktiven Kapital zugerechnet werden. Das konstruktive Kapital ist an stabilen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen interessiert und strebt zivilisierte Wirtschaftsformen an. Diese Rahmenbedingungen zu schaffen ist Aufgabe des Staates. Die russischen Fluchtgelder, die derzeit auf ausländischen Banken geparkt werden, werden gerade aufgrund der instabilen Situation im Inland abgezogen und stammen oft nicht unmittelbar aus illegalen Geschäften. Die Rückführung und Reinvestition dieser Gelder könnte der russischen Wirtschaft zum erhofften Aufschwung verhelfen. …Auf dieser Grundlage könnte in der Perspektive ein russischer Rechtsstaat wachsen. Rußlands zukünftige Entwicklung wird sich sicherlich im Rahmen dieser beiden Szenarios vollziehen. Welche Tendenz die Prozesse annehmen werden, ist heute noch nicht abzusehen.”

Analytiker:
Fast alles Mafia also?  – und doch Hoffnung? Werden die Verbrecher von heute die weißen Kragen von morgen sein, so wie es in Europa und in den USA war? Welche soziale und politische Kraft könnte diese Wende bewirken?
Auf diese Frage gibt die Mehrheit der russischen und ausländischen Analytikerinnen und Analytiker keine Antwort. Hinweise gibt Boris Kagarlitzki. Kagarlitzki war seit Mitte der 80er Aktivist der Perestroika, danach Abgeordneter der Volksfront im Moskauer Sowjet bis zu dessen Auflösung 1993, danach Berater der entstehenden unabhängigen Gewerkschaftsbewegung. Seit deren Einschwenken auf den Kurs Boris Jelzins ist er Radikaldemokrat ohne politische Heimat.
Auf die Frage, warum die Wirtschaft des Landes nicht zusammenbreche, antwortete er bereit 1994 vollkommen eindeutig:

O-Ton 9:  Boris Kagarlitzyky                                 0,59
”No, wo pervich Rossije…
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Übersetzer:
„Nun, erstens ist Rußland kein kapitalistisches Land. Aber ich sage noch mehr: Heute ist Rußland in seinem wirtschaftlichen Mechanismus weitaus weiter vom Westen entfernt, als, sagen wir, 1991. Das ist spürbar. Es findet eine Primitivisierung der Wirtschaft statt. Der einheitliche innere Markt ist zusammengebrochen. Elementare Bedingungen der, sagen wir, Vermittlung von nichtselbständiger Arbeit entfallen, wenn die Menschen keinen Lohn mehr bekommen. Es gibt keinen Arbeitsmarkt. Die Menschen arbeiten nicht, um ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sondern aus anderen Gründen. Aus Abhängigkeit, aus Tradition usw. Das heißt, in diesem Sinne hat sich Rußland in den letzten zwei Jahren allgemein vom westlichen Modell entfernt.“
… ot sapadnem modellom otdalilas”

Analytiker:
Aber Boris Kagarlitzki bleibt nicht dabei stehen, diese Tatsachen als Rückständigkeit Rußlands zu beklagen. Er sieht dahinter historisch gewachsene soial-ökonomische und politische Besonderheiten, die Rußland von der westlichen Welt unterscheiden. Wäre es in einem westlichen Industrieland möglich, daß die Bevölkerung über Monate, sogar Jahre keinen Lohn bekomme und doch nicht verhungere? Fragt er und antwortet selbst:  Nein, das wäre nicht möglich. Das ist keine kapitalistische Beziehung zur Arbeit.

O-Ton 10: Boris Kagarlitzki, Forts.            1,05
”Na u nas wasmoschna…

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Übersetzer:
”Aber bei uns ist das möglich, das ist normal. Das sind die Strukturen der Obschtschina, der Produktions- und Lebensgemeinschaft. Die Menschen leben auf Kosten der Solidarität der Gemeinschaft. Das ermöglicht dem Staat, seinen Verpflichtungen nicht nachzukommen – aber sie bezahlen auch dem Staat nicht die Steuern, das muß man im Kopf behalten. Also, das ist die kompakte wechselseitige Haftung. Das ist der korporative Bau der Obschtschina, der nicht nur alte Elemente, vermischt mit sozialistischen bewahrt, sondern einfach aufgrund anderer Gesetzmäßigkeiten als die kapitalistische Welt existiert: das sind die Gesetze der naturalen Wirtschaft, einer Wirtschaft des unmittelbaren geldlosen Tauschhandels. Lohn wird nicht gezahlt, aber dafür werden Produkte ausgehändigt. Bei uns im Obschtschinatyp ist die Beziehung der Menschen zueinander von kollektiven Verpflichtungen geprägt und nicht individuellen. Das ist eine völlig andere Beziehung zwischen Staat und Individuum als im Westen. Bürgerliche Rechte existieren im Prinzip bei uns nicht und können nicht existieren. Insofern die Beziehungen in der Regel zwischen Korporationen bestehen und der Austausch über sie läuft, ist das keine bürgerliche Gesellschaft.”
…nje graschdantwo obschestwo.”

Analytiker:
Die Privatisierung, so Kagarlitzkis These, habe auf die Auflösung Obschtschina gezielt. Die katastrophalen Folgen der Privatisierung aber ließen zunehmend eine Gegenbewegung entstehen. Sie gehe von den Regionen aus, die am härtesten unter dem Zerfall der bisherigen Strukturen zu leiden hätten, und würden dort von der örtlichen Elite im Einvernehmen mit der Bevölkerung getragen. Politisch erscheine vielen dieser Vorgang als Rückkehr zur Sowjetzeit. Eine gewisse restaurative Dynamik liege aktuell sicher darin. Aber auf lange Sicht entstünden dort zur Zeit offenbar jene Formen des Kapitalismus, die Rußland heute hervorbringen könne: ein durch demokratische Wahl legitimierter bürokratischer Korporativismus auf der Basis kollektiven Privateigentums.

Die Thesen von Kagarlitzki überraschen: Solche Strukturen sind bisher in keinem Lehrbuch der Ökonomie zu finden. Aber Gespräche vor Ort zeigen, daß Kakagrlitzky recht hat: Die von den Reformern seit 1991 propagierte Selbstregulierung des Marktes stößt an Grenzen der real existierenden sozialen Strukturen, das heißt, der Obtschschina, und zwar in mehrfacher Hinsicht:  Zum einen ist der privatisierte Sektor ist zu großen Teilen auf Kosten des Gemeinschaftseigentums entstanden und lebt von ihm. Investiert wurde nicht. Klar gesprochen, die neue privatistische Elite lebt vom Speck des früheren und noch existierenden Gemeineigentums. Das ist nicht ewig fortsetzbar, auch wenn Rußlands Ressourcen unendlich erscheinen. Die neueste Krise hat das deutlich hervortreten lassen. Wer nicht vom Speck lebte, sondern mit eigener Hände Arbeit in den letzten Jahren ein kleines mittelständisches Unternehmen aufgebaut hat, sieht sich durch die aktuelle Krise in den Ruin, mindestens wieder in die Bereiche krimineller Geschäfte gedrängt, weil die Bevölkerung kein Geld hat, Waren oder Dienstleistungen zu bezahlen, weil die Steuern nicht zu bezahlen sind, weil die Schikanen einer mafiotischen Bürokratie, die sich Lizenzen mit Bestechungsgeldern bezahlen läßt, den Spielraum für Geschäfte allzusehr einengen.
Zum zweiten erweisen sich die Gemeinschaftsstrukturen der großen Betriebe als weitgehend resistent gegenüber ihrer Auflösung. Den Grund dafür kann man von Männern wie Viktor Alexandrowitsch Schmidt hören.
Schmidt ist Direktor der ”Kras-Les-Masch”, der Krasnojarsker Waldmaschinenfabrik. Rund sechshundert Beschäftigte hat das Werk. Obwohl der Direktor möchte, kann auch er die Löhne nicht ordnungsgemäß zahlen, Teile der Belegschaft stehen auf Kurzarbeit, die sozialen Leistungen sind eingeschränkt. Aber entlassen wird nicht. Warum nicht?

O-Ton 11: Direktor, ”Kras-les Masch”                           0,57                                                                                 ”Mi ne moschem…
Regie: O-Ton kur stehen lassen,  abblenden, unterlegen, hochziehen

Analytiker:
”Wir können nicht auf einmal alle Leute rauswerfen und zum Kapitalismus übergehen. Ich habe in Deutschland gelernt;  ich habe schon vor meheren Jahren gesagt, daß wir in diese Richtung gehen. Aber siebzig, achtzig Prozent der Menschen einfach rausschmeißen, das geht nicht! Umsoweniger als sie zum Teil fünfundzwanzig, dreißig, vierzig Jahre hier arbeiten. Der allgemeine Alltag um uns herum läßt das nicht zu. Nehmen wir an, wir täten es: dann bekämen wir eine Fabrik, die gut lebt, während rundum alles schlecht ist. Nein, so geht es nicht! Es muß schon eine allgemeine Entwicklung sein. Dafür muß ein staatliches Programm her. Wir sind ja Direktoren, keine dummen Leute, wir wissen natürlich, daß man letztlich nur verbrauchen kann, was man erarbeitet; und nur soviel Menschen kann man ernähren. Aber wohin mit den Übrigen? Die stehen dann vor dem Zaun, vergreifen sich an den Leuten, die hier noch verdienen. Sie haben keinen anderen Ausweg. Nein, diese Frage kann nur auf staatlichem Wege entschieden werden.”
… videmo gossudarstvom.”

Analytiker:
In Nowosibirsk schließlich gilt die ”Eisenbetonfabrik Nr 4” als Musterbetrieb für eine mögliche zukünftige Entwicklung. Mit knallharten Rationalisierungen und Arbeitszeiten bis zu 12 Stunden täglich für die Verbliebenen hat es der dortige Direktor geschafft, den Betrieb wettbewerbsfähig zu machen und nicht nur die Löhne zu zahlen, sondern zudem noch die soziale Versorgung seiner Belegschaft bis hin zu einer, allerdings in Naturalien ausgezahlten, Betriebsrente für ehemalige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu garantieren. Die Belegschaft stützt seinen Führungsstil. Direktor und Belegschaft fühlen sich als Kollektiv, das in gemeinschaftlichem Interesse miteinander verbunden ist.
Alles wie gehabt also? Keineswegs! erklären Vertreter und Vertreterinnen der Belegschaft des Eisenbetonwerks. Niemand wolle zurück in die Sowjetzeit. Darüberhinaus gebe es entscheidende Unterschiede. Der erste: Wer nicht mit vollen Einsatz arbeiten wolle, müsse gehen. Der zweite:

O-Ton 12: Betriebsbelegschaft                    35
”A sewodnja mi…
Regie: O-Ton kurz stehen lassen, abblernden, unterlegen, nach Übersetzerin kurz hochziehen, abblenden, allmählich ausblenden

Übersetzerin:
”Heute sind wir eine Aktiengesellschaft, eine eigene Wirtschaft. Wir haben die Fabrik vom Staat gekauft, sie ist unsere Eigentum. Früher hat man uns Aufträge erteilt, jetzt sind wir selbst die Herren hier. Wir haben einen Sowjet der Aktionäre, wir haben eine allgemeine Versammlung…”
..jest sabrannije”, Stimmen

Erzähler:
Von vierhundert Menschen, die in der Fabrik arbeiten,  sind achtzig Aktionäre. Sie halten, einschließlich des Direktors,  jeweils Anteile zwischen 1 – 3 Prozent. Die Aktionärsversammlung wählt einen Sowjet, einen Rat der Aktionäre: Er hat 9 Sitze mit je einer Stimme, tagt regelmäßig und bestimmt die Richtlinien der Fabrikpolitik. Vorstand des Sowjets und Direktor sind nicht identisch. Der Direktor nimmt mit einer Stimme an den Sitzungen des Sowjets teil, an dessen Beschlüsse er gebunden ist. Seine politischen Ansichten sind Privatangelegenheit; sie werden in der Belegschaft keineswegs von allen geteilt. Dividenden werden auf Verlangen ausgeschüttet. Niemand macht jedoch zur Zeit davon Gebrauch. Das Geld wird investiert. Die Löhne sind leistungsgebunden; der Direktor bekommt ein Gehalt in fünffacher Höhe des mittleren Betriebseinkommens – abgesehen von den Sachzuwendungen wie dem von der Fabrik gestellten Dienstwagen etwa. Das entspricht dem, was die Belegschaft sich in Form sozialer Leistungen vergütet.
Die Aktionäre verstehen ihren Betrieb als Modell, das sie auch anderen Betrieben empfehlen. In der Tat: Kollektives Privateigentum und Mitbestimmung unter einem gewählten Direktor könnten ein Weg sein, der aus dem Entweder-Oder von Kollektiveigentum und Privatisierung hinausführt.
Die Frage ist nur, welches Mischungsverhältnis das paternalistische und das demokratische Element darin miteinander eingehen, einfach gesprochen, wer in dieser Gemeinschaft bestimmt – und wie.

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