Forum 107/8: Alternativen zum Niedergang suchen

Bericht vom 107/8. vom  21.01.2023, Einladung zum 109. Treffen am 03.12.2024

Liebe Freunde, liebe Freundinnen,

unser zurückliegendes Treffen stand (wie das davor) im Zeichen der Bemühung zu verstehen, in welcher Weise sich unsere Welt gegenwärtig verändert, konkret, unter der auf dem vorangegangenen Treffen formulierten Frage: ‚Wo finden wir Alternativen zum Niedergang der herrschenden globalen Zivilisation?‘

Das Gespräch dazu nahm, wie nicht anders zu erwarten, einen sehr gewundenen Verlauf, der vom globalen Geschehen über das Soziale bis ins Persönliche führte. Das kann hier nur kursorisch nachgezeichnet werden.

Fassen wir aber die wichtigsten Elemente des Gespräches knapp zusammen: Unsere Welt befindet sich nach zwei Weltkriegen und dem Ende des „kalten Krieges“ in einem neuerlichen globalen Umbruch. Die unipolare Ordnung wird brüchig, die Entstehung einer differenzierten, multipolaren Ordnung kündigt sich an, USA und „westliche“ Vasallen hier, Russland, China und die aufsteigenden Nationen ehemaliger Kolonien dort. Der ist Ausgang ungewiss.

Vieles erinnert an Konstellationen, die zu den beiden letzten Weltkriegen geführt haben. Angesichts der Existenz atomarer Zerstörungsmittel kann die Neugruppierung der Kräfte im Unterschied zum zurückliegenden Jahrhundert heute aber nicht durch die Entfesselung eines erneuten Weltkrieges erzwungen werden, nicht von der einen, der unipolaren, und nicht von der anderen, der tendenziell multipolaren Seite – solange noch Vernunft und Überlebenswille das Handeln der heute Lebenden leitet. Es herrscht ein globales Patt. Was also wären die Alternativen außer einem kriechenden Dauerkrieg? Gibt es keine?

Sind wir zu einer Wiederholung des immer Gleichen auf neuem Niveau verurteilt? Oder zwingt uns, paradox zu sagen, gerade das atomare Patt dazu, neue Wege zu denken und zu entwickeln, die ohne Wiederholung des immer Gleichen in eine Zukunft führen könnten, in der Konkurrenz durch Toleranz, gegenseitige Akzeptanz und Kooperation gebunden werden kann?

Ist der Übergang in eine kooperative Welt des gegenseitigen Förderns auf Grundlage gegenseitiger Akzeptanz möglich, wahrscheinlich? Führt eine „multipolare“ Entwicklung zu mehr als nur einem Zerfall der unipolaren Weltherrschaft in nationalistische Atome? Wie könnte eine zukünftige „multipolare“ Ordnung aussehen, die die Entwicklung von Vielfalt der Interessen, Gesellschaften und Kulturen mit geregeltem globalem Austausch verbindet? Welche Rolle kann der globale Süden über die bisherige Ost-West-Achse der Zivilisationen hinaus im globalen Geflecht finden? Und schließlich, wie kann sich „Multipolarität“ unter dem Deckel der Digitalisierung differenziert entwickeln?

Um diese Fragen kreiste unser Gespräch, das sich schließlich auf die Frage zuspitzte, welche Rolle Europa, insonderheit Deutschland in diesem Prozess zukommt: militanter, sogar kriegsfördernder Verteidiger der niedergehenden „unipolaren“ Dominanz der USA oder Förderer der sich herausbildenden „multipolaren“ Ordnung? Hier angekommen, kreiste das Gespräch um die sozialen und kulturellen Bedingungen, die ein Deutschland dafür entwickeln müsste. Dies ist ein Thema für eins der nächsten Treffen des Forums.

Fürs Erste wollen wir den Blick noch einmal auf das aktuelle Krisengeschehen richten, in das die deutsche und die europäische Politik sich gegenwärtig zunehmend verstrickt, konkret die beiden Kriegsherde Ukraine und Israel/Gaza.

Bitte bringt Euch, soweit Euch zugänglich, auf einen aktuellen Informationsstand.

Das nächste Treffen findet statt am 03.03.2024 um 14.00 Uhr am bekannten Ort wie immer mit Kleinigkeiten zur Stärkung. Bei Interesse bitte melden unter: info@kai-ehlers.de

Im Anhang findet Ihr noch einmal den Text zum Thema Ukraine und Israel/Gaza, der auf www.kai-ehlers.de schon veröffentlich wurde. Er ist nach wie vor aktuell.

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Ukraine, Israel … zwei Kriege, eine Dynamik

Stichworte für einen Versuch hinter die Tagesgräuel zu blicken

Krieg in der Ukraine, Krieg in Israel, das sind zwei auseinander liegende Kriegsschauplätze, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Aber so unterschiedlich die Vorgänge in der Ukraine und in Israel zu sein scheinen, so vergleichbar sind doch ihre Dynamiken als nationalistische Extreme einer nachholenden Nationenbildung – nur zu verstehen als Ausdruck des in die Krise geratenen US- Globalismus und einem, zumindest kursorischen, Blick in seine Vorgeschichte.

Die Krise des Globalismus, das ist die Krise des Kolonialismus über drei Etappen: erster Weltkrieg – Überführung der Kolonien in abhängige Nationalstaaten; zweiter Weltkrieg – ethnische „Säuberungskriege“ im Zuge der nachkolonialen Neuordnung; insbesondere die Zusammenführung der Juden in Israel auf palästinensischem Boden; Kalter Krieg – Auseinanderfallen der Sowjetunion und Hervortreten der USA als „Einziger Weltmacht“, wie am unverhohlensten von Zbigniew Brzezinski beschrieben.

Die Decke des Globalismus, unter der die USA nach dem kalten Krieg das Erbe der zusammengebrochenen Sowjetunion auf Dauer zu übernehmen gedachten, reißt heute im Zuge einer vierten, möglicherweise endgültigen Welle der Entkolonialisierung auf. Diese Entwicklung bringt neue Kräfte hervor, gestärkt von gewachsenem Selbstbewusstsein der ehemaligen Kolonien unter der Perspektive einer zukünftigen multipolaren Ordnung selbstständiger Nationalstaaten.

Das ist in der Tiefe eine positive historische Dynamik, die nicht nur über die bisherige Kolonialgeschichte, sondern auch über die Decke der daraus hervorgegangenen „unipolaren“ US-Herrschaft hinausweist und ein neues Zeitalter, ein Zeitalter weltweiter, regionaler und lokaler Kooperation selbstständiger Nationalstaaten einleiten könnte.

Hier kann zukunftsorientiertes Denken einsetzen, das an der kooperativen Erhaltung unserer Welt in gegenseitiger Achtung der unterschiedlichen Interessen und kulturellen Werte der Völker und ihrer Gesellschaften orientiert ist. Das könnte der Dynamik der Selbstverwertung des Kapitals soziale Grenzen setzen. Das wäre eine Entwicklung, in der sich die Kulturen der alten wie auch der neu heranwachsenden Welt im friedlichen Austausch ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten und im Interesse einer gemeinsamen Sorge um die Fortentwicklung unserer Welt ergänzen und zusammenwirken können, statt sich in gegenseitiger Konkurrenz Matt zu setzen – oder in den globalen Krieg zu treiben.

Das, um es so zu formulieren, sind die Lichter am fernen Horizont, die jenseits der gegenwärtigen Eskalationen sichtbar werden.

 

Aber…

Aber dieser Prozess der aktuellen, vielleicht letzten Stufe der Entkolonialisierung, also der tendenziellen Herausbildung nationaler, regionaler und lokaler Selbstständigkeiten in einer pluralen gemeinsam gestalteten Welt vollzieht sich nicht automatisch in kooperativen Formen, bringt auch nicht automatisch eine multinationale neue Ordnung gleichberechtigter gesellschaftlicher Einheiten und ein neues Verständnis des gemeinsamen globalen Wirtschaftens hervor, sondern befeuert zugleich auch noch eruptive, extreme, aggressive Formen des Nationalismus, die sich aus den Resten der unbewältigten Geschichte herleiten. 

Extremster Ausdruck davon sind zurzeit die Vorgänge in der Ukraine und in Israel, die heute als nationalistische Geschwüre aus der kränkelnden „One-world“-Realität hervorbrechen, in der Ukraine als Folge des Zerfalls des sowjetischen Imperiums, im Nahen Osten in der Folge der Kolonisierung Palästinas durch Israel als Speersitze des „Westens“ im arabischen Raum. Weitere nationalistische oder rassistische Eruptionen sind zu befürchten, wo Gruppen, Länder, Gesellschaften sich zwar von den nachkolonialen Fesseln befreien wollen, aber nicht bereit oder – zurückhaltender formuliert – noch nicht fähig sind zu offener ökonomischer und kulturübergreifender Kooperation im Zuge der sich herausbildenden neuen pluralen Ordnung. 

Diese aus der Vergangenheit gespeisten Konflikte, allen voran zurzeit der ukrainische und der israelische, können die Herausbildung der heute anstehenden möglichen multipolaren Ordnung verfälschen, sie in die Irre, in die Konfrontation, in neue rassistische „Säuberungskriege“, tendenziell in eine allgemeine Katastrophe ziehen – solange es den Statthaltern der gegenwärtigen, der unipolaren Ordnung unter Führung der USA immer noch gelingt, lokale oder regionale Konflikte, irregeleitete Nationenbildungen nach dem Prinzip „teile und herrsche“ für die Aufrechterhaltung ihrer Dominanz zu nutzen, indem sie, um noch einmal in den Worten Brzezinskis zu sprechen, das Aufkommen globaler Rivalen zu verhindern.  

Es geht in diesen Kriegen jedenfalls, um das deutlich zu sagen, weder in der Ukraine noch in Israel um die Verteidigung der Demokratie. Jedenfalls, um es anders zu sagen, sind die inneren Konflikte nur der Hebel für die Noch-Weltmacht die globalen Rivalen auszubremsen – in der Ukraine sind das Russland und China, in Israel sind das die Ölstaaten des mittleren und südlichen Ostens, die zusammen mit Russland in China auf der Schwelle der Abkoppelung von der „westlichen“ Dominanz stehen.

In Israel, um das deutlich zu sagen, geht es auch nicht um das Zurückkämpfen von Antisemitismus, und erst recht nicht um die generelle Durchsetzung von Menschenrechten. Das zu erkennen, reicht über die geopolitische Konstellation hinaus ein Blick auf die aktuellen Schlachtfelder in der Ukraine, konkret die Dauerbombardierung des durch Kiew, sowie auf den gnadenlosen Bombenterror im GAZA-Streifen, der die vorangegangene Provokation seitens der Hamas weit übersteigt. Nicht zu vergessen den Siedlerterror im Westjordanland gegen die ansässigen Palästinenser. 

Rechtfertigungen wie Verteidigung der Demokratie, Kampf gegen Antisemitismus und Einsatz für Menschenrechte, mit dem die Welt vor der „russischen Aggression“, so Selenski, vor islamistischem Terror, so Netanjahu geschützt werden müsse, schrumpfen vor dem Hintergrund der realen Ereignisse sowohl in der Ukraine als auch in Israel auf pure Lippenbewegungen, auf ideologische Schleier, die über die tatsächlichen Vorgänge gezogen werden sollen.

Die tatsächlichen Vorgänge müssen ganz anders beschrieben werden. In der Ukraine wurde der historische Bonus des nachkolonialen Impulses, der zu einer selbstbestimmten Gesellschaft in kooperativer Vielfalt als Vermittler zwischen Russland und Europa hätte führen können, in einen aggressiven rassistischen Nationalismus verkehrt, für den Russen „Untermenschen“ sind. Zugewinn für die USA: ein geteiltes Eurasien, in dem Europa und Russland ihre Potenzen im halb erklärten Krieg aneinander verbrauchen. Israel hat seine Rolle als Opfer der Geschichte, mit seiner gnadenlosen Antwort auf den Anschlag der Hamas, die nach Aussagen seiner führenden Militärs als „Tiere“ bekämpft werden müssen, vom Opfer zum Täter verkehrt. Hier könnte sich der Zugewinn der „einzigen Weltmacht“ allerdings durch die Empörung der arabischen, muslimischen und im weiteren Sinne südlichen Welt in einen strategischen Bumerang verwandeln.

So oder so: Der eine wie der andere Vorgang, der ukrainische wie der israelische Nationalismus verlässt, die Bahnen der humanen Gesellschaft – von Kampf um Demokratie und Kampf gegen Antisemitismus und für Menschenrechte ist schon gar nicht zu reden. 

Solchen Entwicklungen kann nur mit dem Bewusstsein begegnet werden, dass Frieden und Menschlichkeit unteilbar sind.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de