Wie stark müssen Illusionen inszeniert werden, bis sie als Wirklichkeit wahrgenommen werden, wie oft muss eine Lüge wiederholt werden, bis sie zur Wahrheit wird? Und wem außer sich selbst kann der vereinzelte Mensch heute vertrauen? Mehr noch, kann er sich selbst noch vertrauen? Oder landen wir schließlich bei blindem Gottvertrauen – mit welchem Gott?
Das waren die Fragen, die sich bei dem Versuch des Forums ergaben, eine Bestandaufnahme zur gegenwärtigen Verschiebung der globalen Ordnung vorzunehmen, Stichwort: Gespräche von Biden, Putin, Xi Jinping, G-7 und Co., und innenpolitische Programme zur bevorstehenden Bundestagswahl. Der Versuch führte sehr schnell zu der ernüchternden Erkenntnis, dass auf den globalen Foren, ebenso wie in den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl die wirkliche Bewegung, die sich zurzeit vollzieht, hinter den glatten Fassaden von „build back better“ und „neuer Realität“ verborgen bleibt.
Was sich hinter den Masken scheinbarer Übereinstimmung in Einzelfragen wie der Klimapolitik oder der globalen Corona-Eindämmung abspielt, blitzt nur gelegentlich aus der von „Corona“ erstickten medialen Glocke hervor. So etwa, um nur ein Bespiel zu nennen, wenn in einem Text in der FAZ vom 23.06.2021 anlässlich der aktuellen Gespräche zwischen Biden, Putin, Xi Jinping, G-7 und Co unter der Überschrift “Die digitale Atombombe entschärfen“ vor einer aus dem Ruder laufenden digitalen Aufrüstungsspirale gewarnt wird und globale Kontrollmechanismen angemahnt werden.
Zehn Problembereiche, die geregelt werden müssten, führt der Autor an, ein Herr Kleinwächter, emeritierter (!) Professor für Internetpolitik der Universität Aarhus und Mitglied der Global Commission in Stability in Cyberspce.– geregelt werden m ü s s t e n, das heißt, für deren Regelung laut Autor überhaupt erst staatsübergreifende Organe geschaffen werden müssten: „Cyberwaffen“ müssten definiert werden, da die meisten dieser Anwendungen „für zivile wie für militärische Zwecke nutzbar“ seien. Was „Künstliche Intelligenz“ dürfe und was nicht, müsse geklärt werden. Ob alles erlaubt sein solle, was technisch möglich sei. Geklärt werden müsse die Frage einer Digitalsteuer, die Frage des grenzüberschreitenden Datenhandels, der Kampf gegen Cyberkriminalität, die Eingrenzung von Fakenews usw. Schließlich gehe es um die Frage der digitalen Normen, denn wer die Normen für ein neues Produkt setze, kontrolliere den Markt.
Hier, am Ende des Textes, der bis dahin als Warnung daherkommt, bricht ein Stückchen Wirklichkeit durch: da geht es dann auf einmal nicht mehr um globale Kontrolle, nicht mehr um digitale Abrüstung, von da ab geht es nur noch um Konkurrenz, konkret um China: „Die Forderung des G-7-Gipfels, mehr Bildung zu investieren – insbesondere in die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) -, trifft den Punkt, wie man der chinesischen ‚digitalen Seidenstraße‘ Paroli bieten kann“, erklärt da der Autor. Und hinter China, das darf man angesichts der unter Biden erneuerten „Westbindungen“ der USA zwischen den Zeilen lesen, geht es unbenannt auch um ein sich mit China zunehmend verbindendes Russland. Es geht um Dominanz auf dem digitalisierten Globus.
Texte wie der genannte, geschrieben von emeritierten Fachleuten, die aus dem Nähkästchen plaudern können, ohne existenziellen Schaden zu nehmen, Texte, die zu finden sind auf hinteren Plätzen von Zeitungen, oder andere vergleichbare Enthüllungen von diesem oder jenem IT-Spezialisten in Fachveröffentlichungen, dazu Milliardäre, die den Weltraum als Spielwiese für ihre privaten Raumabenteuer nutzen und ähnliches mehr, lassen ahnen, was sich hinter den diplomatischen Masken der globalen Verhandlungsrunden an unkontrollierbarer Bewegung zur Zeit in beschleunigtem Maße aufbaut: die krebsartigen Wucherungen des digitalen Kapitalismus, an deren Ende ein unbeherrschbares, von Konkurrenz getriebenes Chaos der Informationstechnologie auf und um den Globus herum sich ankündigt – tendenziell ein Cyberkrieg, ein Krieg neuen Typs, der das Leben auf dem Globus total erfassen würde.
Ohnmachtsgefühle angesichts der Undurchschaubarkeit, ja, der bewussten Verschleierung dieser Perspektiven breiten sich hier aus. Ja, es muss sogar davon ausgegangen werden, dass selbst die Initiatoren, Betreiber und privilegierten Nutzer dieser Entwicklung immer weniger wissen, was aus der von ihnen forcierten Offensive der digitalen Kapitalisierung folgt. Vordergründiger Nutzen, Erleichterungen des Lebensalltags lassen Illusionen des Fortschritts auch in der breiten Bevölkerung aufkommen, hinter denen die Realität dessen, was auf uns zukommt, im Nebel der Versprechungen auf eine lichte und gesunde Zukunft verschwindet. Die Wirklichkeit vollzieht sich – wie Marx es seinerzeit für das Aufsteigen des Kapitalismus formulierte – wieder einmal hinter dem Rücken der Akteure, nur diesmal auf gesteigertem, möglicherweise auf finalem Niveau. Kein Einzelner kann sich dieser Entwicklung entziehen. Jeder einzelne Mensch ist untrennbar in diesen Prozess einbezogen, selbst da, wo er den Versprechungen der technischen Utopien skeptisch gegenübersteht.
Wie umgehen mit dieser Wirklichkeit, in der Selbsttäuschung der Akteure und gezielte Täuschung der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr zu unterscheiden sind? Mit dieser Frage ging das Gespräch des Forums in die zweite Runde. Diese Runde entwickelte sich zu einem Umlauf um die Frage, wie angesichts dieser Realität zu einer wirklichkeitsgemäßen Wahrnehmung der tatsächlichen Entwicklungen zu kommen ist, die nicht als Verschwörungstheorie beiseitegeschoben werden kann.
Es würde zu weit führen, den mäandrierenden Umlauf um diese Frage hier in allen Wendungen nachzuzeichnen. Halten wir hier nur so viel fest: Im Zentrum stehen die basalen Bemühungen um die eigene Wahrnehmung, die durch nichts zu ersetzen sind: eigene Fragen, eigene Recherche, eigene Analyse des Wahrgenommenen und immer wieder – das Gespräch. Das Gespräch, und zwar das physische, in das der ganze Mensch mit seiner seelisch-leiblichen Präsenz als selbstbewusstes, mit sich selbst identisches Ich einbezogen ist, ist die Drehscheibe, über die sich die Korrektur von Irrtümern und Illusionen wie auch die Aufdeckung bewusster Täuschungen bis hin zur Frage „Was tun“ immer wieder neu zu einem lebendigen Ganzen bilden können. Dies könnte man Momente von Wahrheit nennen. Mehr als eine beständige Suche nach Wahrheit kann aber auch das intensivste Gespräch nicht sein. Und Briefe und technische Kommunikationsmittel schließlich können Hilfen auf diesem Weg sein; sie können aber die Wahrhaftigkeit der lebendigen Präsenz nicht ersetzen.
Was aber ist Wahrhaftigkeit, um am Ende noch diese Frage des Treffens mit aufzunehmen? Ist ein Bill Gates wahrhaftig, wenn er sich für die Reduzierung des globalen Bevölkerungswachstums einsetzt? Ist die deutsche Bundeskanzlerin wahrhaftig, wenn sie die Bevölkerung vor der Gefahr einer vierten Corona-Welle warnt? Sind ein Joe Biden, ein Xi Jinping, ein Putin wahrhaftig, wenn sie der Welt eine stabile Ordnung versprechen? Bin ich selbst schließlich wahrhaftig, wenn ich Zweifel an der Lauterkeit der von diesen Personen vorgebrachten Motive äußere? Woran wäre unsere Lauterkeit heute zu messen? Auf welcher geistigen Basis kann sich heute ein übergreifendes Vertrauen bilden?
Hier endete das Gespräch mit dem Hinweis eines Teilnehmers auf das Wort, das Jesus vor zweitausend Jahren seinen Jüngern für ihren Umgang miteinander mitgab: „Wo zwei in meinem Namen beieinander sind, da bin ich unter ihnen.“ (Matthäus 18/20) Gilt dieses Wort noch? Wird es überhaupt noch gehört? Liegt darin eine über die christliche Welt hinausreichende Ethik? Der Christus unter uns? Der Buddha unter uns? Allah unter uns? Der Kosmos über uns? – Oder was, wenn nicht dies zwischen oder über uns?
Hier enden ganz offensichtlich allgemeine, globale Zuweisungen. Hier ist jeder einzelne Mensch heute individuell gefragt, den Weg des Fragens und Erkennens zu suchen, um nicht auf naives, illusionäres, gar fundamentalistisches „Gottvertrauen“ oder auf abgelebte Ideologien zurückzufallen, sondern einen Zugang zu seiner ethischen Substanz zu finden, der Körper, Geist und Seele aufs Neue verbindet. Das ist heute unsere Chance und zugleich unser Problem. Mit dieser offenen sachlichen Feststellung und der übereinstimmenden Absicht, weitere Klärung im Konkreten zu suchen, endete dieses Treffen.
Als Thema für das kommende Treffen wurde festgelegt:
Warum arbeiten wir – und wie verändert sich Arbeit unter dem Druck der zunehmenden Technisierung? – Vortrag und anschließende Diskussion.
Termin für den nächsten Austausch ist der 01.08.2021, 14.00 Uhr
Erkundigt Euch bitte elektronisch oder telefonisch, ob und wie wir den Termin halten können. Anfragen ggfls. auch über die Adresse www.kai-ehlers.de
Seid herzlich gegrüßt,
Kai Ehlers, Christoph Sträßner
Anmerkung:
Das Begleitbild dem Titel „Masken der Seele“ von Jefim Berschin entnommen
Russich, Vlg. Leschkom, Nowgorod, 2007
Der Ausschnitt wurde für diesen Text leicht bearbeitet.