Lange Linien der Geschichte

 Liebe Freundinnen, liebe Freunde

Die Frage, unter der das zurückliegende Treffen stand, lautete:

Welche langen Linien der Geschichte werden in den gegenwärtigen Ereignissen sichtbar? Wozu fordert uns die Geschichte heraus?

Dass diese Frage uns über das Pro und Contra hinausführen müsse, das um die Ursprünge des Corona-Virus, um die Frage seiner Gefährlichkeit, wie auch um Berechtigung oder Nicht-Berechtigung des weltweiten Corona-Regimes entstanden ist, war gleich zu Beginn dieser Gesprächsrunde Konsens. Klar war auch, dass ein Treffen für die Behandlung dieser Frage nicht ausreichen würde. Aber schon  ansatzweise ins Thema führte die Frage, ob in der Geschichte vergleichbare Situationen zu finden sind, in denen sich die Menschheit – nicht nur einzelne Gruppen, Stämme oder Kulturen – sondern die gesamte oder zumindest die sog. zivilisierte Menschheit bereits einmal vor die Frage „Untergang oder Freiheit“ gestellt gesehen habe, und was sich daraus für die heutige Krise und die Zeit danach lernen lassen könnte.

Ja, es gab solche Situationen. Vergleichbar war die Krise im Übergang vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert, als der  Kapitalismus auf den ersten Weltkrieg zusteuerte, während zugleich im Proletariat eine neue gesellschaftliche Kraft entstand. Nur war der Anlass damals kein Virus, sondern die offene Konkurrenz zwischen den zu der Zeit herangewachsenen Mächten.

So unterschiedliche Menschen wie Karl Marx oder Rudolf Steiner  sahen im Proletariat die neue Kraft, die zur Befreiung der Menschheit berufen sei. Das wurde von ihnen in  fast identischen Worten so benannt. Rosa Luxemburg brachte die Konstellation ihrer Zeit auf den Nenner: „Sozialismus oder Barbarei.“ Diese Konstellation scheint sich heute auf neuem historischem Niveau zu widerholen, wenn man sich die Krise der „Eliten“ zum einen und die zunehmende Zahl der „Überflüssigen“ vergegenwärtigt.

Aber Halt! Wichtig ist wahrzunehmen, worin sich die heutige Situation von der damaligen unterscheidet. Eine gute Hilfe zu dieser Erkenntnis gibt die Lektüre des Buches „Die Kernpunkte der sozialen Frage“, das Rudolf Steiner nach dem ersten Weltkrieg herausgab. Darin widmet er das erste Kapitel voll und ganz der Bewusstseinslage der Zeit, das hieß für ihn konkret, der Lage und dem Bewusstsein des Proletariats  und dessen Aufgabe für die Weiterentwicklung der Menschheit.

Aus der so angeregten Rückschau wird deutlich:

  • Dass das Proletariat in der damaligen Konstellation eine neue, aufstrebende Kraft der Evolution war, dazu berufen, die Freiheit und Menschenwürde zu entwickeln.
  • Dass dieses Proletariat die erste Menschheitsbewegung darstellte, die ihr Selbstbewusstsein, ihr Weltbild und ihre Strategie auf wissenschaftlicher Grundlage gewonnen hatte.
  • Dass aber die Absonderung des Proletariats als Klasse die Emanzipation des Menschen an die zweite Stelle hinter die Emanzipation dieser Klasse, genauer hinter die Eroberung der Staatsmacht durch die Klasse stellte – und der Kampf um die Würde des einzelnen Menschen damit in die zweite Linie gedrückt wurde. Damit war der Aufbruch zum Scheitern vorprogrammiert, soweit es die Entwicklung der Würde des einzelnen Menschen betraf. Statt sich zu emanzipieren verwandelte sich der Mensch in ein Schräubchen der sozialistischen Staatsmaschine. Der Faschismus trug im anderen Teil der Welt seinen Teil zu einer Zerstörung der Menschenwürde bei.

Dies vor Augen, stellt sich die Frage:

In welcher geistigen Verfassung lebt die Welt heute nach dem gescheiterten Aufbruch des letzten Jahrhunderts? Gibt es noch ein bewusstes Proletariat, nachdem die Sowjetunion und mit ihr verbündete Systeme zusammengebrochen sind? Hat der „siegreiche“ Kapitalismus für die geistige Leerstelle, die tiefe Resignation, die nach dem Auslaufen des Sozialismus und den Gräueln des Faschismus verblieb, einen Sinnersatz zu bieten?

Offensichtlich nicht: die von den kapitalistischen Gesellschaften im Zuge der Globalisierung  angebotene konsumistische Beliebigkeit kann kein Ersatz für die verlorene Utopie des  Sozialismus und auch keine ausreichende Lehre aus dem Faschismus sein. Sie kann es zumal dann nicht, wenn die versprochene Wohlfahrt durch die jetzige Krise an die Grenzen ihrer Erfüllbarkeit stößt, so dass sie noch mehr hungernde, kranke oder „überflüssige“ Menschen hervorbringt.

Kurz gefasst: Der Wert des Menschen geht in dem Maße verloren, wie die Entwicklung der Automation voranschreitet. Anders gesagt, die Würde des Menschen ist heute in noch weit stärkerem Maße gefährdet als vor hundert Jahren. Und nicht nur das, nicht nur die Würde der Arbeiterschaft wie im vorigen Jahrhundert, sondern die Würde einer großen Mehrheit der Menschen ist heute gefährdet. Das schließt selbst die mit ein, die glauben, sich im Prozess der weiteren technischen Modernisierung als Spezialisten oder Nutznießer der Technik ewige Gesundheit oder Unsterblichkeit auf Kosten der Mehrheit sichern zu können.

In der Entwertung des Menschen durch die Technik hat die heutige Krise ihre Wurzel. Dieser Prozess wird durch die Digitalisierung im Zuge der Krise jetzt noch enorm beschleunigt. Die Massen der „Überflüssigen“ in allen Teilen der Welt haben über den Kampf um die Erhaltung ihres mageren Konsumniveaus hinaus keine übergreifende und schon gar keine positive, die Welt umfassende Perspektive, kein sie zusammenführendes Weltbild, mit dem sie dieser Entwicklung entgegentreten könnten wie seinerzeit das Proletariat. Selbst das bloße Überleben ist für viele nicht mehr sicher. Und dies ist selbst in so genannten entwickelten Ländern so. Das hat dazu geführt, dass sich in der Coronakrise die Alternative „Gesundheit oder Freiheit“ so breit etablieren konnte anstelle der früheren von „Sozialismus oder Barbarei“. Das ist die totale Umkehrung gegenüber der Situation beim Wechsel vom neunzehnten auf das zwanzigste Jahrhundert: Angst vor Krankheit und Tod, statt Aufruf zu einer Zukunft in Freiheit, apokalyptische Endzeiterwartungen statt revolutionären Optimismus‘, ideologische und mediale Verwirrung, statt geistiger Orientierung.

Was also folgt daraus? Die Antwort ist einfach, beinahe zu einfach. Aber sie ist schwer ins Leben zu bringen: Mehr als zuvor geht es darum, die Würde des Menschen zu fördern und zu schützen. Aber worin besteht heute die Würde? Verstehen sieben Milliarden Menschen, die heute miteinander auf der Erde leben, darunter alle das Gleiche? Für manche Menschen ist Würde an Wohlstand gebunden, zumindest an ausreichende materielle Versorgung. Für andere verwirklicht sie sich in der Kunst. Für dritte heißt es, sich nicht von Maschinen beherrschen zu lassen. Halten wir erst einmal fest: Würde ist nicht gleich Würde. Oder vielleicht doch?

Wir wollen dieser Frage beim nächsten Treffen nachgehen, indem wir uns den Botschaften zu nähern versuchen, die von China ausgehen.

Wir treffen uns am 02.08.2020 wie üblich um 15.00 Uhr

Vorausgesetzt, es macht uns niemand einen Strich durch die Rechnung.

Erkundigt Euch also bitte elektronisch oder telefonisch, ob wir den Termin halten können.

Bitte bringt eine Kleinigkeit zum Knabbern mit und meldet Euch an, wenn möglich. Freunde und Freundinnen, interessierte Gäste, streitbare Geister sind willkommen. Oder sagt auch ab, wenn Ihr das für geboten haltet.

Anmeldungen ggfls. über die Adresse www.kai-ehlers.de

Seid herzlich gegrüßt,

Kai Ehlers, Christoph Straessner