Was nach dem Abzug der Amerikaner aus dem Norden Syriens zu erwarten war, ist geschehen: Russland und die Türkei haben mit der Einrichtung einer „Sicherheitszone“ entlang der syrisch-türkischen Grenze Fakten geschaffen. Die Volksverteidungseinheiten der Kurden (YPG) haben sich aus der Zone zurückgezogen. Das autonome Gebiet Rojava hat sich dem Schutz des syrischen Staates unterstellt. Hat Putin sich wieder einmal als Krisenmanager bewährt? Kann die friedliche Neuordnung des syrischen Raumes nunmehr beginnen?
Man möchte es glauben, doch Fragen drängen sich auf:
Da ist als Erstes die Tatsache, dass die Einrichtung der „Sicherheitszone“ nur auf Kosten einer Unterordnung des autonomen Projektes von „Rojava“ erfolgen konnte. Vollkommen offen ist, zu welchen Entwicklungen das innerhalb des syrischen Raumes führen wird.
Zwar haben sich die kurdischen Volksverteidigungskräfte wie auch die Vertreter der autonomen Selbstverwaltungsorgane von Rojava unter den Schutz des syrischen Militärs gestellt, zugleich betonen aber ihre Vertreter, wie etwa der Generalkommandant Mazlum Kobane, dass sie nicht gewillt sind, ihren Anspruch auf Autonomie aufzugeben.[1]
Besondere Schärfe bekommt diese Position durch die Erklärung, dass die Verantwortung für die inhaftierten Mitglieder des „Islamischen Staates“ („IS“) auch in Zukunft bei niemand anderem als bei den Kräften der Selbstverwaltung liegen dürfe.
Hinter einer solchen Erklärung kann zweierlei stehen: zum einen die mehr als berechtigte Sorge für das eigene Wohl, insofern die kurdischen Kämpfer und Kämpferinnen und ihre Verbündeten mit über 10.000 Gefallenen und doppelt so vielen Verwundeten nicht nur die waren, die die Hauptlast des Kampfes gegen den „IS“ trugen, sondern auch die Ersten wären, die von einem Wiedererstarken des „IS“ betroffen wären.
Zum Zweiten steht hinter der Erklärung der versteckte Hinweis, dass ohne sie der „IS“ auch in Zukunft nicht zu bewältigen sein werde. Diese Tatsache ist vielleicht das einzige Pfund, mit dem die Kurden und ihre Partner von Rojava zur Zeit wuchern können, wenigstens so lange die westlichen Staaten davor zurückscheuen, ihre Islamisten zurückzuführen, um sie dort vor Gericht zu stellen.
Offen ist darüber hinaus auch, welche Haltung die aus der Selbstverwaltung kommenden Menschen – Männer, wie insbesondere die Frauen – gegenüber dem geplanten Verfassungskonvent des syrischen Staates einzunehmen bereit sind. Werden sie bereit sein sich entgegen ihren Vorstellungen eines „demokratischen Konföderalismus“ den Vorgaben des syrischen Nationalstaates unterzuordnen?
Anders gefragt, wird Baschar al-Assad bereit sein, solche kritischen Vorstellungen wie die Abdullah Öcalans, die auf einer grundsätzlichen Kritik des Nationalstaats basieren[2], in die Verhandlungen zum Verfassungskonvent zu integrieren? Wenn nicht, dann entstehen hier neue, nicht absehbare Konfliktpotentiale, von denen nicht sicher ist, ob und wie sie sich friedlich lösen lassen werden.
Hinzu kommt, dass Erdogan zwar erklären lässt, die Türkei beabsichtige keine ethnischen ‚Säuberungen‘ in dem „Sicherheitsgürtel“ durchzuführen. Tatsache ist aber, dass die im Zuge der Invasion erfolgten Vertreibungen und die erklärte Absicht Erdogans, in dem Streifen syrische Flüchtlinge ansiedeln zu wollen, bereits solche Bevölkerungsbewegungen in Gang gesetzt haben und weiter setzen werden – wenn Russland das nicht verhindert. Aber wird Russland es verhindern? Und ist es dazu in der Lage?
Aufgeschreckter Westen
Störungen resultieren auch aus der Panik des „westlichen“ Lagers, in dem angesichts des aktuellen Agierens der Russen im syrischen Raum die Erkenntnis reift, dass Russland trotz aller Versuche seiner Eingrenzung, inzwischen als Großmacht nicht mehr zu übergehen ist.
Anders ist eine solche Luftnummer wie die der gegenwärtigen deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer nicht zu erklären, wenn sie vorschlägt die „Sicherheitszone“ unter die Kontrolle deutscher, französischer und britischer Militärs zu bringen – nachdem Russland und die Türkei bereits Fakten geschaffen haben.
Nicht minder panisch mutet das Gezappel Donald Trumps an, der, nachdem er durch den Rückzugsbefehl für die im Grenzbereich von Rojava stationierten US-Truppen die türkische Offensive erst ermöglicht hat, nach der Einrichtung der Zone wieder Panzer zum Schutz von Ölquellen im Nordosten Syriens aus dem IRAK anrollen lassen will. Zugleich will er noch in neue „Gespräche“ mit den kurdischen Kräften eintreten, die er soeben durch seinen Rückzug düpiert und fallengelassen hatte.
Aus dem „tiefen Staat“ der EU, namentlich aus Ost-Europa, werden sogar Stimmen laut, die das von Kramp-Karrenbauer vorübergehend angedachte UN-Mandat für die Schutzzone ablehnen, weil dies, da es ohne Zustimmung Russlands im Sicherheitsrat nicht möglich wäre, zur Aufwertung Russlands als Bündnispartner führen könne.[3]
Prüfung für Russland
Generell stellt sich die Frage, wie Russland sich seiner Herausforderung als Schutzmacht in Zukunft stellen will – nur auf der Ebene des strategischen Patts herrschender Kräfte, auf der jedes Streben nach Autonomie als „Separatismus“ unterdrückt wird, oder in der Tradition des Anti-Kolonialismus der Sowjetzeit – wie Putin es in bei dem soeben in Sotschi durchgeführten Afrikagipfel andeutete?[4]
Sich dieser anti-kolonialen Tradition Russlands, genauer der sowjetischen Vergangenheit Russlands zu stellen hieße, Befreiungsbewegungen und Kämpfe um die Erringung des Rechtes auf Selbstbestimmung und Autonomie zu unterstützen, sie zumindest zu schützen, auf jeden Fall sie nicht zu unterdrücken. Wird Russland zu einer solchen Politik in Syrien bereit sein?
Wenn nicht, das heißt, sollte Russland einer Unterdrückung der Selbstverwaltung Rojavas durch den Syrischen Staat tatenlos zuschauen, oder sie gar aktiv mit betreiben, dann schaffte es damit ein Protestpotential, aus dem neue Unruhen entstünden, an denen von außen nach bekannter Manier angeknüpft werden könnte. Man kann nur hoffen, dass Russlands Wachsamkeit ausreicht, um nicht in diese Falle zu gehen.
Kai Ehlers
[1] https://anfdeutsch.com/frauen/qsd-aeussern-bedenken-zu-russisch-tuerkischem-abkommen-14895
[2] Siehe dazu: „Demokratischer Konföderalismus“ von Abdullah Öcalan: http://ocalan-books.com/#/book/demokratischer-konfoederalismus
[3] FAZ, 26.10.2019
[4] https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/internationale-politik/id_86670330/afrika-gipfel-in-russland-wladimir-putin-bietet-geld-und-waffen.html