Freies Geistesleben – was ist das?

Bericht vom 69. „Forum integrierte Gesellschaft“ am 12.05.2019

Bericht vom 69. „Forum integrierte Gesellschaft“ am 12.05.2019

Liebe Freundinnen, liebe Freunde des Forums,

Was ist ein freies Geistesleben?  Mit dieser Frage gingen wir in die bisher schwierigste Runde der Forums-Gespräche. Man könnte auch von einer Spurensuche in unübersichtlichem Gelände sprechen. Wir sind ja nicht die Ersten, die sich Gedanken zu dieser Frage machen. Und bei nicht wenigen Menschen ruft der Begriff eines  ‚Geisteslebens‘, zumal noch eines ‚freien‘, resignierte Skepsis,  Unverständnis oder sogar Abwehrreflexe gegen ideologische Floskelei hervor. Allzu verbraucht und sogar missbraucht erscheinen heute Begriffe wie ‚Geist’ oder ‚Freiheit‘, und allzu schnell droht ein Gespräch, das die beiden miteinander verbinden will, in Plattitüden zu enden.

Anders gesagt, uns war klar, dass über ein ‚Geistesleben‘‚ erst recht ein ‚freies‘ erst dann gesprochen werden kann, wenn die Bestandteile dieses Begriffes – Geist, Freiheit und sogar Leben –  konkretisiert und auf die heutige Realität bezogen werden.

Am Anfang des Gespräches stand deshalb der Rückblick auf die letzten zurückliegenden Themen des Forums, die wir rund um die gegenwärtigen Jahrhundertfragen geführt haben: Die Krise des einheitlichen Nationalstaates und die Notwendigkeit seiner Entflechtung, die daraus resultierende Frage nach der Aktualität der Dreigliederung des sozialen Organismus, daraus folgend die weitere Frage, ob es Kapital ohne Kapitalismus geben kann, danach,  ob ‚Staat‘, d.h., der heutige nationale Einheitsstaat, in eine Rechtsgemeinschaft transformierbar ist, die Ökonomie und Geistesleben in die Selbstverwaltung entlässt. Im bisher letzten Gespräch dieser Reihe ging es darum, Demokratie neu zu denken, das heißt, nicht nur Demokratie zu verteidigen und nicht nur mehr Demokratie zu fordern, sondern Selbstbestimmung in kooperativer Gemeinschaft mit dem Blick auf das Ganze zu entwickeln.  

Am Ende war aber klar: Ohne ein neues Bewusstsein des Einzelnen von seiner Rolle im sozialen Ganzen und seiner Position als Mensch im Weltgefüge, d.h., ohne eine neue Kultur, die den gegenwärtigen platten Konsumismus überwindet, ist nichts von den in diesen vier Runden diskutierten Ideen ins Leben zu bringen – allerdings auch nicht durch aktivistische Schwarmgeisterei. (Zu den Gesprächen siehe die Forumsberichte 54, 64, 65, 67, 68 1/2 , falls nicht selbstverfügbar, dann auch: www.kai-ehlers.de, Stichwort: Forum integrierte Gesellschaft)

Hiervon ausgehend nahm das Bemühen um Konkretisierung dessen, was heute unter Geistesleben zu verstehen sein könnte und wodurch es gefährdet ist, seinen ersten Anlauf.

Stichworte fielen in bunter Reihenfolge wie: Geistesleben als soziale Kategorie. Als Haltung. Als Kultur. Als die Gesamtheit der Bildungsstruktur. Als Raum zur Bildung von Fähigkeiten. Als Welterklärung. Als Natur- und als Geisteswissenschaft. Als die Würdigung des Zusammenhanges zwischen handwerklichem Material und hergestellten Dingen. Als bewusstes Tun. Als Denken. 

Hier entstand die Frage: Wie komme ich zu Wissen? Durch Neugier? Durch Begeisterung? Ist Geist ohne Seele denkbar? Was hat Geistesleben mit Zivilisation zu tun? Gibt es ein Wissen ohne Erkenntnis? Droht die digitalisierte Welt Erkenntnis durch Wissen oder gar durch bloßen Zugriff auf technisch aufbereitete Informationen  zu ersetzen?

Mit diesen Fragen driftete das Gespräch in politische Sphären. Mitteleuropa habe versagt, ein freies Geistesleben zu entwickeln. Stattdessen  habe sich eine technische Intelligenz entwickelt, die Menschen nach der Maslowschen Bedürfnispyramide normiere. In ihr komme Selbstbestimmung nur in der Spitze vor. Diese Figur müsse aber auf den Kopf gestellt werden, also mit dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung an der Basis beginnen, um der Motivation von Menschen gerecht zu werden.

In dieser heutigen Zivilisation, so das Fazit dieser ersten Gesprächsrunde, könne von einem eigentlichen Geistesleben nur noch eingeschränkt die Rede sein, von einem freien schon gar nicht.  

Hier drohte das Gespräch in Klagen über die Perspektive einer seelenlosen Zukunft bio-technischer Intelligenz im globalen Maßstab abzustürzen. Über diese Klippe führte dann aber ein Satz, mit dem ein Teilnehmer  bei diesem Stand des Gespräches die Runde provozierte: Der Mensch habe Geist, erklärte er, und der Geist sei frei, weil er heiliger Geist sei. Gott lasse uns Menschen in unserer Schöpferkraft frei unsere Fantasie zu entwickeln. Wir Menschen könnten unsere Denkprozesse  so vollziehen, dass wir zur Liebe kämen. Darin verwirkliche sich ein freies Geistesleben.

Nach diesem Beitrag, unbeirrt durch dessen provokativen Charakter, entwickelte sich, um es paradox zu formulieren, die weitere Suche nach dem Geist des ‚freien Geisteslebens‘ fühlbar befreiter, losgelöst von Denktabus älteren oder auch aktuellen Datums. Jetzt ging es nicht mehr darum ‚Geist‘, ‚Freiheit‘ oder ‚Leben‘ entlang der heutigen Denkschemata zu beschreiben, sondern der Fantasie, das heißt dem Blick auf das Wünschenswerte und Mögliche und das hinter den Dingen Liegende, freien Lauf zu lassen, unbeirrt von den Einschränkungen dessen, was uns gerade als ‚Realität‘ entgegentritt, genauer, was uns immer wieder demonstrativ als ‚alternativlose‘ Effektivität entgegengehalten wird.

Jetzt trat Goethes ‚exakte Phantasie‘ in den Kreis, ebenso wie Schillers Satz, der Mensch sei nur da „ganz Mensch, wo er spielt“, gefolgt von Steiners „Moralischer Fantasie“ und – ganz gegenwärtig – Michael Endes „Unendlicher Geschichte“, durch die zu erfahren ist, wie die Welt durch die Befreiung der Fantasie nicht nur vor dem Untergang ins Nichts gerettet, sondern zu neuer Kraft entwickelt werden könnte. Übrigens ein Buch, das zu lesen, auch jedem erwachsenen Kind zu empfehlen ist.

Fantasie, so wuchs es aus dem Gespräch hervor, ist keine wüste Phantasterei, auch keine süßliche Flucht vor der Wirklichkeit. Sie ist die schöpferische Kraft, die uns befähigt über die Enge egoistischer, materieller Begrenztheit hinaus, durch ausweglos scheinende Situationen hindurch uns mit anderen Menschen, mit der Erde und mit dem Kosmos zu verbinden. Mit der Fantasie, als schöpferische Kraft verstanden und zugelassen, betreten wir den Raum geistiger Freiheit.

Aber selbstverständlich ersetzt die Fantasie nicht das Denken und nicht das Handeln, und sie ist auch nicht gleichzusetzen mit einem freien Geistesleben. Sie ist aber die Kraft, die das Denken mit dem Handeln verbindet. Sie ist die Kraft, die uns Lösungen finden lässt, wo Sackgassen uns den Weg in die Freiheit versperren. Ohne Fantasie ist ein freies Geistesleben nicht denkbar.

Vieles wäre hier auszuführen, was zur Beschreibung der Fantasie im Laufe des Gespräches noch vorgebracht wurde, aber nicht alles kann und muss immer schriftlich gefasst werden. Nur eine Frage soll hier noch aufgegriffen werden, die selbstverständlich und unbedingt beachtet werden muss, wenn die Kraft der Fantasie Wirkung in der Realität haben soll.

Die Frage lautet: Wie kommen wir dahin, Fantasie nicht nur zu haben, sondern auch in Wirkung zu bringen? Nicht jede/r kennt Goethe, nicht jede/r kennt Schiller, selbst Michael Ende konnte nicht jede/r lesen und wenn doch, dann vielleicht nicht verstehen. Darüber hinaus geht es nicht nur darum, den eigenen Gestaltungsspielraum zu schaffen, man muss ihn auch anderen Menschen zugestehen, ihn einzeln und gemeinsam fördern und verteidigen. Freiheit hat ja nicht nur geistige, sie hat auch physische Dimensionen, bedroht durch Armut, Gefängnis und Krieg. Fantasie braucht es auch im sozialen Umgang miteinander, in der Gestaltung einer politischen Kultur, die an der Förderung jedes einzelnen Menschen orientiert ist. Damit ist der Bogen zu den Fragen der weiteren Entwicklung von Staat und Gesellschaft geschlagen, die am Eingang zu diesem Gespräch standen: Ohne Fantasie kein neues Bewusstsein, ohne neues Bewusstsein keine Entflechtung des Staates, keine freie Entwicklung des sozialen Organismus – keine lebensförderliche Zukunft.

Und hier erhebt sich wieder die Frage: Wie! Wie kommen wir zur Befreiung der Fantasie? Wie kann verhindert werden, dass sie vom Anwachsen des technischen Bürokratismus erstickt wird? Wie können die dafür nötigen Fähigkeiten herausgebildet werden?

Damit sind wir beim Thema des kommenden Treffens. Es lautet:

 

Bildung – durch Digitalisierung erstickt oder gefördert?

Das  Treffen ist für den 30.06. um 15.00 angesetzt, am gleichen Ort wie üblich.

Bitte bringt eine Kleinigkeit zum Knabbern mit und meldet Euch an, wenn möglich. Freunde und Freundinnen, interessierte Gäste, streitbare Geister sind willkommen. Anmeldungen ggfls. über die Adresse www.kai-ehlers.de

Seid herzlich gegrüßt,

Kai Ehlers, Christoph Sträßner