Was lange zu erwarten war, ist endlich geschehen: Petro Poroschenko, zurzeit noch Präsident der Ukraine, läuft der westlichen Politik aus dem Ruder. Mit der von ihm erlassenen Verordnung des Kriegszustandes wegen angeblicher russischer Bedrohung vergreift er sich nicht nur in der Dimension, indem er angesichts eines regelbaren Grenzkonfliktes nach dem Kriegsrecht greift, er entgleitet mit seinen Aufforderungen an die „westlichen Mächte“, ihn militärisch gegen Russland in diesem Konflikt zu unterstützen, offensichtlich auch den Gleisen westlicher Politik. Poroschenkos Verordnung wird allseits als durchsichtiges Manöver erkannt, mit dem er die bevorstehenden Präsidentenwahlen überstehen will.
Zurückhaltung für beide Seiten wird daher von westlicher Seite angemahnt, auch wenn im gleichen Atemzug gebetsmühlenartig Wladimir Putins „Verantwortung“ beschworen wird und die Medien in eingeübten Pawlowschen Reflexen wie eine Meute Hunde wieder über Russland herfallen.
Doch es ist ganz offensichtlich: SO hatte man sich das Ergebnis der „ukrainischen Revolution“ in den westlichen strategischen Etagen nicht gedacht. Nicht ohne Grund wurde die Ukraine trotz aller indirekten Einbeziehung ins westliche Politikfeld in den zurückliegenden Jahren nicht in die NATO aufgenommen. Es reichte schließlich, sie als Störfaktor am Bauch Russlands zu halten.
Aber wenn man jetzt nicht bereit ist, die aktuelle Eskalation anzunehmen, weil sie, „die Welt in Brand setzen könnte“, weil sie „den brüchig gewordenen Zusammenhalt in der EU ins Chaos zu treiben drohe“ (FAZ) – welche Perspektive gibt es dann? Neue Sanktionen gegen Russland? Sanktionen haben sich inzwischen inflationiert. „Nordstream 2“ stoppen, um Russland zu schwächen? Europa, Deutschland würde sich selber schaden. Oder doch „demokratische Reformen“ im Lande fördern, die den Oligarchen an die Substanz gehen müssten? Speziell Poroschenko? Da wäre dann wohl ein neuerlicher „Regime change“ fällig.
Strategischer Rückblick
Soweit gekommen, macht es Sinn sich zu erinnern, wie die heutige Situation entstanden ist; ein kleiner Rückblick mag helfen, die langen Linien des Ukraine Konfliktes zu erkennen.
Seit dem Zerfall der Sowjetunion steht die Ukraine im Fadenkreuz der US- und NATO-Strategen. Besonders zu nennen ist das geopolitische Schachbrett des bekannten, inzwischen verstorbenen, aber desungeachtet wirkmächtigen Fädenziehers Zbigniew Brzezinski, des ehemaligen Sicherheitsberaters des US-Präsidenten Jimmy Carter.
Brzezinski betrachtete die Ukraine noch als die Figur, die gebraucht werde, um das ganze eurasische Feld zu beherrschen. Inzwischen geht es nicht mehr darum es zu beherrschen, inzwischen geht es darum die Herrschaft zu erhalten, die den USA und in ihrem Schatten der Europäischen Union nach dem Ende der Sowjetunion in den 80ern und 90ern des letzten Jahrhunderts zugefallen war.
Nach 1991: USA – „Einzige Weltmacht“
Seine Ausgangsposition formulierte Brzezinski, in seinem 1997 erschienenen Buch „The Grand Chessboard“ in unverhüllter Offenheit.“ Im deutschen Titel treffend die „Die einzige Weltmacht“[1]. Bei ihm erschien die Ukraine nicht nur als „Filetstück“ auf dem globalen Tablett der Ressourcen, sondern darüber hinaus als strategische Figur des globalen Spiels um die Neuordnung der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges. Mit Rückgriff auf die geopolitischen Strategien aus der Hochzeit des englischen Imperialismus, wie sie seinerzeit Halford Mackinder in der Auseinandersetzung des Britischen Commonwealth mit dem damaligen Russland ausarbeitete, formulierte er als Leitlinie der US-Geopolitik: Wer die Welt beherrschen wolle, müsse Eurasien beherrschen. Das hätten alle großen Reichsgründer der Geschichte gewusst von den Mongolen bis hin zu Hitler. Mit dem Niedergang der UdSSR sei diese Aufgabe nunmehr den USA zugefallen. Um Eurasien zu beherrschen müsse man Russland beherrschen und um Russland beherrschen zu können, müsse man die Ukraine aus dessen Einflussbereich herausbrechen. „Die Ukraine“, schrieb er, „ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“[2]
2007: „The second chance“
Rund zehn Jahre später beklagte Brzezinski den schlechten Umgang der drei US-Präsidenten George H. W. Bush (bei Brzezinski: Bush I), Bill Clinton, George W. Bush (bei Brzezinski: Bush II) mit dem ihnen zugefallenen Erbe. Bush I wird als phantasieloser Verwalter kritisiert, der nichts aus dem Erbe gemacht habe. Clinton erhielt den Stempel des ideologischen Traumtänzers, der die US-Möglichkeiten überschätzt, zu viel versprochen und nichts erreicht habe. Bush II musste sich die globale Diskreditierung des US-Ansehens und des realen Machtverlustes der US-Politik vorrechnen lassen.
Unter dem Titel „The second chance“ forderte Brzezinski die politische Klasse der USA auf, sich auf ihre Führungsaufgaben zu besinnen. Noch sei es Zeit, wenn eine Rundum-Erneuerung der Innen- und der Außenpolitik vorgenommen werde. Aber wie schon zuvor benannt, wurde in diesem Buch wiederholt: “Für einen Kreml, der unter Statusverlust leidet, war die härteste Pille , die er schlucken musste, die Unabhängigkeit von Staaten, die Teil des imperialen Russland waren, lange vor der Revolution von 1917. Die amerikanische Unterstützung für die ukrainische Unabhängigkeit war besonders spürbar für Moskau, weil Russland ohne die Ukraine nicht hoffen kann sein slawisches Empire wieder zu errichten.“[3]
Die strategische Linie blieb die gleiche wie Anfang der 90er, ergänzt um den Hinweis, dass die USA die „second chance“ nur dann hätten, wenn sie die Alleingänge der Bush-Ära hinter sich ließen und wenn sie ihre Bevölkerung für die amerikanische Weltmission zu interessieren und auszubilden vermöchten. Barack Obama, schon für den bloßen Amtsantritt als Präsident mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, war Ausdruck dieser Option.
2012: „Strategic vision“
In einem dritten Buch schließlich, 2012 unter dem Titel „strategic vision“ veröffentlicht, konstatierte Brzezinski den aus seiner Sicht unabweisbaren Fakt, dass die USA inzwischen nicht mehr in der Lage seien, ihre Aufgabe als Weltpolizist alleine wahrzunehmen: „In Anbetracht des Aufkommens eines neuen dynamischen und zugleich international komplexen und politisch erwachten Asien, besteht die neue Realität darin, dass keine Macht länger versuchen kann – in Mackinder´s Worten – Eurasien zu ‚beherrschen‘ und so die Welt zu ‚kommandieren‘. Amerikas Rolle, besonders nachdem zwanzig Jahre vergeudet worden sind, muss jetzt subtiler sein und die neuen Machtrealitäten Asiens mehr berücksichtigen. Herrschaft durch einen einzigen Staat, wie immer mächtig, ist nicht mehr möglich.“ Im Ergebnis sei es notwendig, einen „vitaleren und breiteren Westen zu bilden“, über die nächsten Dekaden allmählich, auf „auf transformierendem Wege“ durch „Einrichtungen wie die EU und die NATO sowohl Russland als auch die Türkei mit einem Westen zu verbinden, der bereits jetzt die EU und die Vereinigten Staaten umfasse.“[4]
Man durfte erstaunt sein. Vor dem Hintergrund niedergehender US-Hegemonie war Brzezinski zu der Zeit bereit sogar Russland mit in ein Bündnis gegen die asiatische Herausforderung einzubeziehen, ebenso wie die Türkei – wenn nicht Wladimir Putin und die von ihm verfolgte Vision einer „Slawischen Union“ in Eurasien dem entgegen stünde. Ohne Putin – ja, mit Putin, nein. Und Brzezinski erklärte auch, wie das ‚Putin-Problem‘ zu lösen sei:
„Eine systematisch aufgebaute engere Beziehung zwischen Russland und dem atlantischen Westen (ökonomisch mit der EU, in Sicherheitsfragen mit der NATO und den Vereinigten Staaten) könnte voran gebracht werden durch eine allmähliche russische Akzeptanz gegenüber einer wahrhaft unabhängigen Ukraine, die dringender als Russland nahe an Europa und tendenziell sogar ein Mitglied der Europäischen Union sein möchte. … Andererseits würde eine Ukraine, die vom Westen isoliert und zunehmend Russland untergeordnet wäre, Russlands unkluge Wahl zugunsten seiner imperialen Vergangenheit ermutigen.“[5]
Diese strategische Option wurde von US-Außenminister John Kerry auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom Februar 2014, auf der Brzezinski selbstverständlich auch anwesend war, unter der Forderung nach einer „Renaissance des atlantischen Bündnisses“ als neue politische Linie der USA vorgestellt und sollte mit der demonstrativen Unterstützung des „Regime Change“ in Kiew festgeklopft werden. Der ehemalige Boxer Vitali Klitschko wurde dort als Held der kommenden ukrainischen Revolution aufgebaut. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck und die zu der Zeit frisch eingeführte deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, nahmen den Ball auf, indem sie auf der Konferenz und auch später öffentlich und programmatisch erklärten, Deutschland werde in Zukunft „mehr Verantwortung“ in globalen Sicherheitsfragen übernehmen.
Strategie gescheitert?
Beim Rückblick auf diese Absichtserklärungen und auf das Ergebnis der Intervention stellt sich die Frage: Ist da nicht etwas danebengegangen? Was hat nicht so geklappt, wie die Strategen der USA und der Europäischen Union sich das gedacht hatten? Die Antwort ist relativ einfach und sehr klar: Russland, konkret sein Präsident Wladimir Putin hat nicht mitgespielt, genauer, Putin hat mit der Offerte an Wiktor Janukowytsch, die Ukraine mit einer Unterstützung von 30 Milliarden vor dem Staatsbankrott zu bewahren, darüber hinaus mit dem Angebot an die Ukraine, der Eurasischen Zollunion u n d tendenziell der Eurasischen Union beizutreten die seit 1991 gültige Spielregel: defensives Russland reagiert auf offensives Vorgehen der EU/NATO/USA definitiv durchbrochen, indem er die Spielregeln von sich aus bestimmte.
Mit der Übernahme der Krim in die russische Föderation setzte Russland jedem weiteren Vordringen der NATO in den russischen Einflussbereich ein unmissverständliches NO GO entgegen. Statt dass der ukrainische Regime-Change des Maidan einen vergleichbaren russischen nach sich gezogen hätte, der auch Russland „allmählich“ in einen willfährigen Partner des erneuerten westlichen Bündnisses gezogen hätte, hat die unübersehbare Aggressivität der westlichen, speziell auch der US-amerikanischen Intervention in der Ukraine Putins Position gestärkt – und dies nicht nur in der russischen Bevölkerung, sondern weltweit. Statt Russland als Bündnispartner gegen die „asiatische Gefahr“ zu gewinnen hat man es mit der Intervention in der Ukraine den Chinesen und den BRIC-Staaten in die Arme getrieben.
Kein Wunder, dass Russland sich in der Propaganda des atlantischen Bündnisses unter diesen Umständen im Handumdrehen von einem erwünschten Juniorpartner in eine aus allen verfügbaren medialen Rohren beschossene eurasische „Bedrohung für die Zivilisation“[6] entwickelte, dass man mit allen Mitteln versucht Russland zu provozieren, seinerseits in das ukrainische Kampffeld zu intervenieren, um Moskau gegenüber politisch wieder in die Offensive zu kommen. Russland ist auf die diese Provokationen nicht so eingegangen wie erwünscht – Dieses Mal nicht! könnte man Brzezinski post mortem zurufen, der sich ja rühmte, Russland schon dreißig Jahre zuvor einmal in die „Afghanistanfalle“ gezogen zu haben, was zum Ausbluten der Sowjetunion geführt habe.
Es scheint, als habe Russland diese Lektion gelernt. Es hält sich jedenfalls, abgesehen von der unblutigen Übernahme der Krim in den Bestand der russischen Föderation, fern von jeder offenen Intervention, nicht zuletzt auch deswegen, weil es sich die Funken des ukrainischen Aufstandes nicht ins eigene Land ziehen wollte. Dafür riskierte Putin sogar den Vorwurf des Verrats von Seiten der Donezker, Lugansker und anderer Rebellen, die Russland vergeblich um direkte militärische Hilfe baten.
Wohin die Entwicklung weiter führt, ist offen. Sicher ist nur eines. Auch wenn es Poroschenko gelingen sollte, den sich abzeichnenden neuerlichen Regimechange zu überstehen, ist die Ukrainische Krise nicht beendet. Die Geister, die man rief, und auch jene, die man nicht rief, sind mit Waffengewalt nicht zu bändigen. Der Knoten aus den drei Strängen der globalen Transformation – nachsowjetische Suche nach neuen Lebensmodellen, nachholende zum Nationalismus tendierende Nationenbildung und Übergang in eine multipolare neue Weltordnung – ist mit gewaltsamen Interventionsstrategien nach Art des letzten Jahrhunderts nicht zu lösen. Was die Welt braucht, und wofür die Krise der Ukraine als Signal steht, ist die vernetzte, föderal organisierte Kooperation selbstbestimmter Staaten, die den Weg in die Wiedergeburt des Sozialen im gleichberechtigten Dialog miteinander suchen.
Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de
[1] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht, Fischer tb 14358, Frankfurt 1999, engl. „The grand chessboard“, 1997
[2] Ebenda, S, 74
[3] Zbigniew Brzezinski, th second chance, Basic Books, New York, 2007, S. 119
[4] Zbigniew Brzezinski, Strategic Vision , Basic Books, New York, 2012, S. 131 ff
[5] Ebenda, S. 150 ff
[6] Timothy Snyder in FAZ, 17.05.2014;
Siehe auch: