Nationalstaat in der Krise – Entflechtung? Dezentralisierung? Dreigliederung?

Bericht zum 64. Treffen des Forums integrierte Gesellschaft

Schafft ein, zwei, drei viele Allmenden

Bericht vom 64. „Forum integrierte Gesellschaft“ am 25.11.2018

und Einladung zum nächsten Treffen am 13.01.2019

 

Das „Forum integrierte Gesellschaft“ ist ein offener Gesprächskreis mit dem Ziel kritische Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Weltsichten in lebensdienlichen  Austausch zueinander zu bringen. Die Treffen finden in lockerer, freundschaftlicher Atmosphäre statt.

 

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

liebe Interessierte und Beobachterinnen und Beobachter vom Rande,

Die zurückliegende Forums-Runde, die sich mit der nach dem ersten Weltkrieg als Alternative zum Nationalismus aufgekommenen Idee einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“ befassen wollte, begann mit der unvermeidlichen Frage, wie aktuell solche Ideen heute noch sind und ob es sich dabei nicht um pure Utopie handele, die keine Chance auf Realisierung habe.  

Es erwies sich als notwendig, zunächst die historischen Fakten zu betrachten: Zu sprechen war von zwei gesellschaftlichen Impulsen, die beide als Lehre aus den nationalstaatlichen Konfrontationen des ersten Weltkrieges hervorgingen, die aber unterschiedlicher nicht sein konnten.

Der eine Impuls führte, ungeachtet der Tatsache, dass der Krieg aus der Konkurrenz der Nationalstaaten hervorgegangen war, zur Ausrufung des Nationalstaats als Credo der zukünftig gewollten Gesellschafts- und Völkerordnung, und zwar in seiner Form als einheitlicher, das gesamte gesellschaftliche Leben umfassender Einheitsstaat. Diese Entwicklung folgte den Vorgaben des damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson.

Der andere Impuls, ins Leben gebracht von dem Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner, war von der Idee getragen, den, wie er es nannte, ‚Einheitswahn‘ des Nationalstaats über eine „Dreigliederung des sozialen Organismus“ zu entflechten, in der Hoffnung, so einer Wiederholung nationalistischer Konfrontationen für die Zukunft entgegenwirken zu können.  

Die Ausrufung des einheitlichen Nationalstaats zum Credo der neuen Gesellschafts- und Völkerordnung bedeutete, dass die nationalstaatliche gesellschaftliche Verfasstheit, statt entschärft zu werden auf einer um das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung erweiterten Stufe erneut zur Grundlage des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens gemacht wurde. Damit waren ethnische ‚Säuberungs‘kriege, nationalistische Konflikte und kommende kriegerische Konfrontationen vorprogammiert.

Eine Entflechtung im Sinne der Idee der Dreigliederung hätte geheißen, dass sich das Zusammenleben der Menschen nicht mehr nur unter einem von der Ökonomie diktierten staatlichen Machtmonopol, sondern in einem lebendigen, selbstverwalteten, grenzüberschreitenden Austausch wirtschaftlicher und geistiger Interessen vollzöge, in dessen Mittelpunkt die Förderung des einzelnen Menschen stünde. Der Staat würde auf ein Aufsichtsorgan reduziert, besser gesagt, konzentriert, dessen Aufgabe in der Wahrung gleichberechtigter Beziehungen zwischen den Menschen bestünde, ohne in alle Lebensbereiche dominant einzugreifen.

Die Geschichte hat die Idee der Entflechtung des Nationalstaats in den Untergrund gedrückt. Statt einer Entflechtung entwickelten sich erneute nationalistische Konfrontationen, die sich bis zum Faschismus und Stalinismus steigerten. In den Demokratisierungsprozessen nach 1945 fanden die Ideen der Entnationalisierung eine tendenzielle Realisierung. In ihr konnten auch Elemente einer Dreigliederung wieder aus dem Untergrund auftauchen, allerdings immer noch unter dem trotz aller historischen Erfahrung wieder neu bestätigten Credo des einheitlichen Nationalstaats.

Inzwischen verdunkeln erneut nationalistische Konkurrenzen den globalen Horizont. Im Unterschied zum zurückliegenden Jahrhundert ist aber unübersehbar, dass der heutige Grad globaler Vernetzung, insbesondere das seit 1949 bestehende atomare Patt eine Austragung nationaler Konkurrenz im Stil  des ersten oder des zweiten Weltkrieges nicht mehr zulassen.

Was so entstanden ist, ist eine prekäre globale Stagnation, die sich zunehmend verdichtet. Sie macht eine Transformation der Nationalstaatsordnung im Sinne ihrer Entflechtung zu einer zwingenden Notwendigkeit für das Überleben der Menschheit – so oder so.

So oder so – das heißt, entweder wir heute Lebenden finden Wege, die kooperativen und selbstbestimmten Entwicklungen, wie sie sich weltweit von allen Seiten her andeuten, zuzulassen, zu ermöglichen und zu fördern – oder die Transformation wird durch Gewaltausbrüche erzwungen.

Dass sich an diese Bestandsaufnahme die eigentlichen Fragen und eine mäandernde Diskussion erst anschlossen, liegt auf der Hand. Dass soll und kann hier selbstverständlich nicht alles referiert werden. Nur die allerwichtigsten Punkte sollen schlaglichtartig benannt werden.

Hat die Bildung des Nationalstaats nicht auch emanzipatorische Funktionen gehabt? Ja, sicher, indem er die Gesellschaften aus beengender Kleinstaaterei in einen erweiterten Rahmen und zu größerer wirtschaftlicher Effektivität geführt hat. Tendenziell erwies sich das Korsett, das Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in einem Staat vereinen sollte, aber als zu eng geschnürt und dazu angetan jeweils ein Element zugunsten der  anderen abzuschnüren oder umgekehrt eins auf Kosten der anderen zu sehr zu betonen und so den emanzipatorischen Ansatz abzuwürgen.

Mit der zunehmenden globalen Vernetzung aller Lebensbereiche tritt die Überlebtheit dieser Konstruktion, die nur durch das das staatliche Gewaltmonopol am Leben erhalten werden kann, immer deutlicher, inzwischen als grundsätzliche Krise dieses Lebensmodells hervor. In ihrem Verlauf geraten das Gewaltmonopol des einheitlichen Nationalstaates in der Gestalt von wachsendem Nationalismus auf der einen und Forderungen nach Selbstverwaltung in der Form diffuser Proteste (politisches Schlagwort dafür: Populismus) auf der anderen Seite in immer stärkeren Gegensatz zueinander. Klar gesagt, sie eskalieren sich gegenseitig.

Sind Vorstellungen, wie sie als Idee der Dreigliederung vorgetragen wurden also einfach nur eine Utopie? Die Antwort muss ganz klar lauten: Nein, die Ideen sind als anzustrebende Ziele weniger utopisch als die Annahme, dass die Menschheit in der gegenwärtigen sozialen und staatlichen Ordnung überleben könnte.

Klar ist nach dem Scheitern der sozialistischen Utopie des letzten Jahrhunderts, dass der Weg in eine lebensgerechtere Gesellschaft nicht durch die bloße Eroberung des Staates, wie er damals war und wie er heute ist, zu erzwingen war und auch in Zukunft nicht zu erzwingen sein wird, sondern nur als Ergebnis permanenter Umgestaltung des herrschenden Gewaltmonopols des heutigen Einheitsstaates in selbstverwaltete, miteinander in Wechselwirkung agierende gesellschaftliche Lebensbereiche gefunden werden kann. Für die Suche danach können die Ideen einer Gliederung des sozialen Körpers in Wirtschaftsleben, Geistesleben und Staat als Garant der Gleichheit der Menschen vor dem Recht durchaus Perspektiven liefern, zu Alternativen anregen, ganz gleich unter welchem Namen das geschieht. Es gibt auf diesem Weg keine vorgefertigten Formen, so wenig wie das Leben sich in vorgefertigten Stanzen bewegt.

Damit sind wir bei dem dritten Fragenkomplex: Braucht es für all dies einen neuen Menschen, gar die ‚Verbesserung‘ des Menschen durch künstliche Intelligenz? Die Antwort ist, selbstverständlich auch hier, Nein!

Der Mensch ist zum Sozialen wie zum Antisozialen, zu gegenseitiger Hilfe wie zur Selbstsucht, zu Solidarität wie zur Konkurrenz, in alten Begriffen gesprochen, zum  Guten wie zum Bösen veranlagt, aber es ist in die Freiheit des Einzelnen wie der Gesellschaft gelegt, die Seite des Sozialen, der gegenseitigen Hilfe, der Solidarität, also generell des Guten zu fördern. Das bedeutet allerdings andere als nur materielle Orientierungen miteinander zu entwickeln, ethisches Verhalten und die Frage nach einem größeren Maßstab als dem der eigenen Endlichkeit wieder zum Maßstab des Umgangs miteinander zu machen.

So trafen wir am Ende dieser Gesprächsrunde, auf die Frage, wie diese gegenseitige Förderung und diese andere Orientierung in der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit der kapitalistisch organisierten Gesellschaft mit ihrem dem Kapitalismus verpflichteten Staat heute aussehen kann. Dieser Frage wollen wir uns beim nächsten Forum unter der Überschrift: ‚Kapital ohne Kapitalismus‘? unter Rückgriff auf Steiner, Marx sowie Berichte über aktuelle Initiativen für einen anderen Umgang mit Kapital und Eigentum nähern.

Für die, die sich ein etwas genaueres Bild über die Krise des Nationalstaats und neue Formen der Gliederung des sozialen Organismus machen möchten und zugleich als Vorbereitung für das nächste Treffen, ist diesem Bericht ein Text zu diesem Thema beigefügt (ggfls. auch auf der Website von Kai Ehlers unter https://kai-ehlers.de/veranstaltung/krise-des-nationalstaats-und-neue-gliederung-des-sozialen-organismuaufzurufen)

 

Das nächste Treffen ist für den 13.01.2019 um 15.00 Uhr geplant

Thema: Kapital ohne Kapitalismus?

 

Bitte bringt eine Kleinigkeit zum Knabbern mit und meldet Euch an, wenn möglich. Freunde und Freundinnen, Interessierte Gäste, streitbare Geister sind willkommen. Anmeldungen ggfls. über die Adresse www.kai-ehlers.de

 

Seid herzlich gegrüßt,

Kai Ehlers, Christoph Sträßner